Ukrainer in russischer Haft wehrt sich gegen Schikane

Das Bild zeigt das Porträtbild eine Mannes

In Russland inhaftiert: Der Ukrainer Oleksandr (Aleksandr) Marchenko.

Am 7. Februar soll der inhaftierte Ukrainer Oleksandr Marchenko vor dem Obersten Gerichtshof von Burjatien angehört werden. Er hatte Rechtsmittel gegen die Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" eingelegt, die am 29. Dezember 2022 in der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude gegen ihn verhängt worden war. Die Behörden der Strafkolonie hielten ihn zweitweise wegen fadenscheiniger Anschuldigungen in Straf- oder Arrestzellen fest und verweigern ihm den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin. Ihm wird regelmäßig die dringend benötigte medizinische Versorgung verwehrt. Das ist für ihn lebensgefährlich und könnte den Tatbestand der Folter erfüllen.

Appell an

Mikhail Yurievich Filichev

Acting Prosecutor of the Republic of Buryatia


23a, Borsoeva Streetg.

Ulan-Ude

Republic of Buryatia

RUSSISCHE FÖDERATION

Sende eine Kopie an

Botschaft der Russischen Föderation

S. E. Herrn Sergej J. Netschajew

Unter den Linden 63-65

10117 Berlin


Fax: 030-2299 397

E-Mail: info@russische-botschaft.de

Amnesty fordert:

  • Ich fordere Sie auf, sich beim Obersten Gerichtshof von Burjatien zu beantragen, dass die Verwaltungsstrafe gegen Oleksandr Marchenko aufgehoben wird.
  • Sorgen Sie bitte außerdem dafür, dass Oleksandr Marchenko die von ihm benötigte medizinische Versorgung erhält und ordnen Sie unverzüglich eine zielführende und unabhängige Untersuchung seiner Vorwürfe wegen Folter und anderer Misshandlungen an.

Sachlage

Der ukrainische Staatsbürger Oleksandr (Aleksandr) Marchenko verbüßt eine zehnjährige Haftstrafe in der russischen Strafkolonie FKU IK-8, wo er ständiger Schikane und Verfolgung durch die dortigen Behörden ausgesetzt ist. So stellte das Bezirksgericht von Ulan-Ude Oktyabrsky am 29. Dezember 2022 einen Verstoß Oleksandr Marchenkos gegen Paragraf 20.3.3 (1) des Gesetzbuchs für Ordnungswidrigkeiten fest und verhängte eine Geldstrafe. Er selbst streitet die Vorwürfe ab. Derzeit geht er in einem Rechtsmittelverfahren gegen die Verurteilung wegen "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" vor. Der Oberste Gerichtshof von Burjatien wird am 7. Februar über seine Rechtsmittel entscheiden.

Die Verwaltung der Strafkolonie hat wiederholt willkürlich und mit fadenscheinigen Begründungen Disziplinarhaft gegen Oleksandr Marchenko verhängt. So wurde er beispielsweise am 31. August 2022 für sechs Monate in eine Arrestzelle gesteckt, weil er sich geweigert habe, bei der Reinigung des Gebäudes mitzuhelfen. Darüber hinaus verweigern ihm die Behörden der Strafkolonie den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin. Die Umstände von Oleksandr Marchenkos Inhaftierung und die Art und Weise, wie er in der Strafkolonie FKU IK-8 behandelt wird, lassen befürchten, dass es sich um ein konstruiertes Verwaltungsverfahren gegen ihn handelt und dass er wegen seiner Staatsangehörigkeit verfolgt wird.

Nach Angaben von Oleksandr Marchenkos Familie erhält er nicht die medizinische Versorgung, auf die er dringend angewiesen ist. Seitdem ihm 2016 wegen einer Krebserkrankung die Schilddrüse entfernt wurde, benötigt er täglich Medikamente, monatliche Blutuntersuchungen und alle drei Monate weitere medizinische Untersuchungen. Seit seiner Inhaftierung 2018 wurde jedoch erst eine Blutuntersuchung im Juli 2021 durchgeführt, die von seiner Familie privat organisiert werden musste. Nach Angaben seiner Rechtsbeistände wurden ihm in mindestens zwei Fällen von den Strafvollzugsbehörden über längere Zeiträume hinweg die benötigten Medikamente verwehrt. Einmal von April bis Mai 2021, als er im Untersuchungsgefängnis SIZO-1 und in der Strafkolonie IK-14 in Krasnodar festgehalten wurde, und dann vom 12. bis 28. Dezember 2021, als er in SIZO-1 in Ulan-Ude in Burjatien inhaftiert war. Ohne die für ihn lebenswichtigen Medikamente hat sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechtert. Derzeit werden ihm in der Strafkolonie IK-8 die regelmäßig erforderlichen Untersuchungen verwehrt. Die von ihm dringend benötigten Medikamente müssen von der Familie auf eigene Kosten bereitgestellt werden. Die Verweigerung medizinischer Versorgung kann eine Form von Folter bzw. anderer Misshandlung darstellen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Wie der ukrainische Staatsangehörige Oleksandr (Aleksandr) Marchenko seinen Rechtsbeiständen berichtete, reiste er im Dezember 2018 wegen persönlicher Angelegenheiten von der ukrainischen Hauptstadt Kiew über Russland in das von Russland besetzte Donezk in der Ostukraine. Am 18. Dezember 2018 wurde er bei der Rückreise über Russland von maskierten Männern entführt. Ihm zufolge stülpten die Männer ihm einen Sack über den Kopf, nahmen ihm sein Mobiltelefon und andere persönliche Gegenstände ab und brachten ihn in ein geheimes Gefängnis der sogenannten "Volksrepublik Donezk" (DNR). Dort wurde er ohne Kontakt zur Außenwelt im Keller in einer fensterlosen Zelle ohne Bett, Toilette oder fließendes Wasser festgehalten. Ab dem Tag seiner Entführung war Oleksandr Marchenko Folter und anderen Misshandlungen wie Stromstößen ausgesetzt, bis er sich bereiterklärte, sich in einem "Geständnis" auf Video selbst zu belasten.

Am 18. Februar 2019 wurde er gezwungen, Dokumente zu unterschreiben, denen zufolge er keine Beschwerden gegen das "Ministerium für Staatssicherheit der DNR" vorzubringen habe. Danach wurde er zur russischen Grenze gefahren und dem russischen Geheimdienst FSB übergeben. Die Angehörigen des FSB stülpten Oleksandr Marchenko einen Sack über den Kopf und brachten ihn auf einer mehrstündigen Fahrt zum regionalen FSB in Krasnodar. Dort wurde er zu einem Mann befragt, den er nach eigenen Angaben nie kennengelernt hatte. Wie Oleksandr Marchenko seinen Rechtsbeiständen mitteilte, wurde er nach dem Verhör von Angehörigen des FSB zu einer Polizeiwache gebracht, wo er die Nacht verbrachte. Auf der Grundlage eines von der Polizei konstruierten Protokolls über eine Ordnungswidrigkeit entschied ein Gericht am nächsten Tag, Oleksandr Marchenko für zehn Tage in Haft zu nehmen. Im Anschluss daran leitete die Polizei zwei weitere konstruierte Verwaltungsverfahren gegen Oleksandr Marchenko ein, und zwar immer dann, sobald er seine vorherige Verwaltungshaft vollständig verbüßt hatte (am 1. März 2019 und am 16. März 2019). So blieb er weiter in Haft.

Am 4. März 2022 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das erdrückende Geldstrafen oder Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für "Verbrechen" wie die "vorsätzliche Verbreitung von Falschnachrichten" über die russischen Streitkräfte (Paragraf 207.3 im Strafgesetzbuch) oder die "Diskreditierung" russischer Truppen (Paragraf 280.3 im Strafgesetzbuch und Paragraf 20.3.3 im Gesetzbuch für Ordnungswidrigkeiten) vorsieht. Im Verlauf der darauffolgenden drei Tage wurden gemäß diesem neuen Gesetz mehr als 140 Menschen festgenommen, da es sowohl die Bezeichnung "Krieg" als auch Friedensappelle im Zusammenhang mit der Ukraine verbietet. Bis Dezember desselben Jahres kam es zu mehr als 180 bzw. 100 Strafverfahren aufgrund dieser Anschuldigungen und mindestens 5.518 Verwaltungsverfahren wegen "Diskreditierung". Denjenigen, gegen die Verwaltungsstrafen wegen "Diskreditierung" verhängt wurden, könnte beim nächsten Mal eine strafrechtliche Verfolgung drohen.

Während seiner willkürlichen Verwaltungshaft wurde Oleksandr Marchenko wiederholt von Angehörigen des FSB sowie "Sicherheitskräften" der "DNR" verhört und dazu gezwungen, ein "Geständnis" zu unterschreiben. Sie drohten ihm und seiner Familie und verweigerten ihm den Zugang zu einem Rechtsbeistand. Am 1. Mai 2019 wurde Oleksandr Marchenko von einem Gericht wegen Schmuggels in Untersuchungshaft genommen, zunächst für zwei Monate. Diese Haft wurde im Anschluss mehrfach verlängert. Am 6. Dezember 2019 wurde Oleksandr Marchenko wegen Spionage angeklagt. Am 26. November 2020 verurteilte das Regionalgericht in Krasnodar ihn nach Paragraf 276 des russischen Strafgesetzbuchs ("Spionage") zu zehn Jahren Gefängnis in einer Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen. Seine Rechtsmittel wurden abgelehnt.

Nach Angaben seiner Rechtsbeistände soll die Verwaltung der Hafteinrichtung SIZO-1 in Ulan-Ude Oleksandr Marchenko darüber hinaus mit dem Tod und mit sexualisierter Gewalt gedroht haben. Berichten zufolge wurde er außerdem 15 Tage lang zusammen mit einem an Tuberkulose erkrankten Mann in eine Strafzelle gesperrt, weil er versucht hatte, das ukrainische Konsulat zu erreichen. 2022 hielt ihn die Verwaltung der Strafkolonie IK-8 mindestens achtmal in Straf- oder Arrestzellen fest und verwehrte ihm den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin.

Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben Fälle dokumentiert, in denen Personen vom sogenannten "Ministerium für Staatssicherheit" in der von Russland besetzten Ostukraine ihrer Freiheit beraubt wurden, indem sie in geheime Haft genommen und gefoltert und anderweitig misshandelt wurden, um ein "Geständnis" zu erzwingen, das dann zu ihrer "Verurteilung" herangezogen wurde. Nähere Informationen zu solchen Praktiken finden Sie in dem gemeinsamen Bericht von Amnesty International und Human Rights Watch "You Don’t Exist: Arbitrary detentions, enforced disappearances, and torture in eastern Ukraine" unter Arbitrary detentions, enforced disappearances, and torture in eastern Ukraine" unter https://www.amnesty.org/en/documents/eur50/4455/2016/en/.