Amnesty 28. Mai 2011

"Die Regierungen konnten uns nicht länger ignorieren"

Gruppe von Amnesty Aktivistinnen und Aktivisten bei der Verleihung des Friedensnobelpreises

Amnesty-Komitee erhält den Friedensnobelpreis in Oslo

1977 wurde Amnesty International mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Thomas Hammarberg nahm den Preis als Vorsitzender des internationalen Amnesty-Vorstands am 10. Dezember 1977 in Oslo entgegen. Von 2006 bis 2012 war der Schwede Menschenrechtskommissar des Europarats in Straßburg. Ein Gespräch über die Bedeutung des Nobelpreises für Amnesty, die Lage der Menschenrechte in Europa und wie ein Geheimdienst einst versuchte, in die Amnesty-Zentrale einzubrechen.

Wie haben Sie reagiert, als Sie 1977 erfuhren, dass Amnesty mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden würde?

Wir waren alle total überrascht. Im Vorfeld hatten wir nichts gehört, es gab keine Gerüchte oder sonst irgendwelche Informationen. Umso glücklicher waren wir natürlich, als wir davon erfuhren. Der Friedensnobelpreis war sehr wichtig für Amnesty. Plötzlich waren wir international als eine glaubwürdige Bewegung anerkannt. Unsere Mitgliedszahlen stiegen weltweit rasant. Auch die Medien interessierten sich von nun an stärker für unsere Arbeit. Nach der Verleihung des Nobelpreises waren wir noch erfolgreicher, wenn es darum ging, politischen Druck auf Regierungen auszuüben. Es wurde für sie immer schwieriger, uns zu ignorieren.

Sie nahmen den Preis für Amnesty am 10. Dezember 1977 in Oslo entgegen. Bei der Zeremonie waren auch Botschafter von Regierungen vertreten, denen Amnesty Menschenrechtsverletzungen vorwarf. Wie haben die Botschafter reagiert?

Die Diplomaten in Oslo haben nicht negativ reagiert. Sie blieben einfach still. Aber wir wussten natürlich, dass einige von ihnen ziemlich aufgebracht waren. Einige Jahre zuvor hatten wir versucht, im Gebäude der UNESCO in Paris eine Konferenz zum Thema Folter zu veranstalten. Kurz bevor sie beginnen sollte, wurden wir aus dem Gebäude geworfen. Verschiedene Regierungsvertreter, vor allem jene der südamerikanischen Militärregimes, hatten interveniert und Druck auf die UNESCO ausgeübt. Wir hielten die Konferenz kurzerhand an einem anderen Ort in Paris ab. Sie wurde ein großer Erfolg.

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Sie waren von 1980 bis 1986 der internationale Amnesty-Generalsekretär. Was waren damals die größten Herausforderungen?

In der Sowjetunion wurden Menschen inhaftiert, die sich gegen die Diktatur stellten. Ich war in engem Kontakt mit dem russischen Dissidenten Andrej Sacharow. Er bat uns, einen Appell für die Freilassung aller gewaltlosen Gefangenen weltweit zu starten. Wir sammelten daraufhin in verschiedenen Ländern eine Million Unterschriften, die wir 1983 der Generalversammlung der Vereinten Nationen überreichten. Große Probleme gab es auch im Irak, wo damals noch Saddam Hussein an der Macht war. Wir besuchten das Land, um Informationen und Beweise zu sammeln, doch es war sehr schwer, Menschen zu finden, die mit uns reden wollten, denn sie hatten Angst um ihr Leben. Südafrika war damals noch ein Apartheid-Staat, Aktivisten und politische Gefangene wurden systematisch gefoltert.

Versuchten manche Staaten, die Arbeit von Amnesty zu verhindern?

Uns war bewusst, dass Geheimdienste verschiedener Länder versuchten, unsere Glaubwürdigkeit zu untergraben und unsere Arbeit zu sabotieren. Beispielsweise, indem sie diejenigen verfolgten, die uns Informationen direkt aus den Ländern lieferten. Das war für uns eine sehr schwierige Situation, denn wir wollten natürlich niemanden in Gefahr bringen. Daher suchten wir immer nach sicheren Kommunikationswegen. Der südafrikanische Geheimdienst versuchte sogar einmal vergeblich, in unsere Zentrale in London einzubrechen, um Dokumente zu stehlen und herauszufinden, wer unsere Quellen in Südafrika waren. Einer der Einbrecher hat dies später zugegeben.

Porträtfoto von Thomas Hammarberg in Anzug mit Krawatte

Thomas Hammarberg, Menschenrechtskommissar des Europarates in der Zeit von April 2006 bis April 2012

Sie sind seit April 2006 der Menschenrechtskommissar des Europarats in Straßburg. Seitdem haben sie Ermittlungsreisen in fast alle 47 Mitgliedstaaten des Rates unternommen. Wie schätzen Sie die Menschenrechtslage in Europa ein?

Trotz der verschiedenen Erklärungen und Konventionen zum Schutz der Menschenrechte haben wir in Europa keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Es gibt immer noch schwerwiegende Probleme, weil die Regierungen zu wenig tun, um die vereinbarten Standards einzuhalten. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Homophobie sind weit verbreitet. Diejenigen, die einen anderen Hintergrund haben oder anders aussehen, werden immer noch diskriminiert. Die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik funktioniert nicht gut, weil es zwischen den Staaten zu wenig Solidarität gibt. Zum Beispiel wird Griechenland, über das viele Flüchtlinge nach Europa einreisen wollen, damit alleingelassen. Anstatt die Verantwortung aufzuteilen und ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen, hoffen die Binnenstaaten einfach, dass es die Flüchtlinge nicht bis zu ihnen schaffen. Verheerend ist auch die Situation in den überfüllten Gefängnissen in den Staaten der früheren Sowjetunion, aber auch in Frankreich und Großbritannien.

Vermissen Sie manchmal Ihre Zeit bei Amnesty?

Ich bin immer noch Mitglied und Förderer und lese regelmäßig die Berichte der Organisation, die sehr gut sind und wichtig für meine Arbeit. Die Arbeit eines Menschenrechtskommissars einer europäischen Institution unterscheidet sich natürlich von der in einer NGO. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten, beispielsweise niemals achtlos mit Fakten umzugehen. Wenn man falsche Informationen verbreitet, schlagen die Regierungen sofort zurück und versuchen, die Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Amnesty ist eine Mitgliederbewegung, eine internationale Demokratie, die unabhängig ist. Auch als Menschenrechtskommissar bin ich in der glücklichen Position, dass ich unabhängig bin. Ich bin nur für eine sechsjährige Amtszeit gewählt worden, die nicht verlängert werden kann. Das ist gut, denn ich brauche mich nicht darum zu kümmern, mich bei den Regierungen beliebt zu machen. Ich kann meinen Instinkten folgen und Menschenrechtsverletzungen klar und offen benennen. Meine Loyalität gehört den Opfern, nicht den Regierungen.

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