Amnesty Journal 09. März 2021

Wahrheiten und Widersprüche

Ein mittelalter Mann mit Brille in Hemd und Jeans hat die Arme vor dem Körper zusammengelegt und blickt in die Kamera.

Der israelische Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman widmet sich in seinem Werk den Zwangslagen, denen Menschen in politischen Konflikten ausgesetzt sind. Davon handelt auch sein neuer Roman "Was Nina wusste".

Von Harald Gesterkamp

Er hat es wieder getan. Was David Grossman in seinem Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" so meisterhaft gelungen ist, nämlich mithilfe einer Familiengeschichte politische Konfrontationen zu erklären, das schafft er auch mit seinem neuen Werk "Was Nina wusste". Diesmal geht es nicht um den israelisch-palästinensischen Konflikt, sondern um Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg.

"Fast alle meine Bücher handeln von Familien und der Wucht ihrer Geschichten", sagt Grossman. In "Was Nina wusste" unternehmen drei Frauen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Reise von Israel nach Kroatien, in das Jugoslawien unter Tito. Die 90-jährige Vera, eine nach Israel ausgewanderte kroatische Jüdin, hütet ein bedrückendes Geheimnis, unter dem die gesamte Familie leidet. Mit ihrer Tochter Nina und ihrer Enkelin Gili reist sie an die Orte ihres früheren Lebens. Auf der Suche nach der Geschichte ihrer Familie, aber vor allem auf der Suche nach einer Befreiung von der Vergangenheit.

Vera war im Zweiten Weltkrieg Partisanin, die mit ihrem serbischen Mann an der Seite Titos gegen die Faschisten gekämpft hat. Jahre später werden beide beschuldigt, Anhänger Stalins und Verräter zu sein. Veras Mann bringt sich nach der Festnahme um, sie wird vor die Wahl gestellt, entweder ihren Mann als Verräter zu verleumden und freigelassen zu werden oder auf die Gefängnisinsel Goli Otok gebracht zu werden und ihre kleine Tochter zurückzulassen. Sie entscheidet sich dafür, ihre Tochter Nina im Stich zu lassen, und die große Liebe zu ihrem toten Mann zu bewahren. Dafür nimmt sie zweieinhalb Jahre lang den Terror in der Haft in Kauf. Die verlassene Nina wiederum bleibt ihr Leben lang unfähig, diese in der Familie stets verdrängte Geschichte aufzuarbeiten. Sie wird später ihr Trauma weitervererben und ihre Tochter Gili ebenfalls im Stich lassen.

"Die Insel Goli Otok in Kroatien ist einer der entsetzlichsten Orte auf der Welt", betont Grossman. "Sie ist hässlich, wie nur Gewalt hässlich sein kann. Nur sehr wenige der Menschen, die dort als Gefangene oder als Aufseher waren, haben ihre Menschlichkeit bewahrt."

Politisches wird mit Privatem gespiegelt

Der Protagonistin des Buches ist das gelungen. Genau wie Eva Panic-Nahir, einer Freundin Grossmans, die 96-jährig in Israel gestorben ist und die ihm über Jahre hinweg aus ihrem Leben erzählt hat. Auf ihren Erzählungen basiert der Roman. "Das große Wunder ihrer Lebensgeschichte sind für mich nicht die Jahre, die Eva im 'Umerziehungslager' Goli Otok verbrachte, sondern die Jahre danach: ihre Fähigkeit, ins Leben zurückzukehren, mit Kraft und Leidenschaft am Leben festzuhalten und weiterhin an den Menschen zu glauben", sagt Grossman.

In dem kompliziert und raffiniert komponierten Buch wechselt der Autor häufig die Perspektive, ist dabei seinen Charakteren aber stets zugewandt. Auch wenn man beim Lesen früh ahnt, was die Konflikte der Familie auslöste, ermöglicht die Art, wie die drei Frauen die Ereignisse bewerten und wer sie wem wie erzählt, eine differenzierte Betrachtung der Geschehnisse. Da bleibt verzeihlich, dass Grossman an manchen Stellen überzieht, etwa wenn beim Besuch von Goli Otok ein Gewitter über die Gefängnisinsel zieht.

Noch schonungsloser und eindringlicher hat Grossman die Geschichte von Ora erzählt – in seinem 2009 auf Deutsch erschienenen Buch "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Das ­politische Geschehen wird in diesem Epos über Israel mit privaten Dramen gespiegelt und umgekehrt. So wird sichtbar, wie das Leben der Menschen in Israel mit der politischen Lage verbunden ist, sei es, wenn militante Palästinenser das Land mal wieder mit Raketen beschießen oder wenn arabische Autofahrer an Kontrollposten verdächtigt werden, Terroristen zu sein.

Herausgekommen ist ein Buch, das den Nahost-Konflikt mit all seinen Facetten und Dilemmata schildert. In Rückblicken geht es um den Sechs-Tage- und den Jom-Kippur-Krieg, in der Gegenwart um Oras Sohn Ofer, der in der israelischen Armee dient und freiwillig im Kriegseinsatz ist. Wo kein Empfänger ist, ist keine Nachricht, denkt Ora, denn sie hat eine Vorahnung, dass ihr Sohn sterben wird. Sie will nicht zu Hause sein, wenn ihr Ofers Todesnachricht überbracht werden sollte. Während der Wanderung mit einem Jugendfreund schildert sie ihr Leben zwischen zwei Männern in einem zerrissenen Land.

Schreiben und arbeiten für Versöhnung

Auch für dieses Buch gab es ein reales Vorbild. David Grossmans Sohn Uri starb 2006 als Soldat bei dem Versuch, im Südlibanon die Besatzung eines getroffenen Panzers zu retten. Das Ereignis prägte die Arbeit an "Eine Frau flieht vor einer Nachricht". Zu dieser Zeit war Grossman, der auch Kinder- und Jugendbücher schreibt, längst in der Friedensbewegung engagiert. Er lehnt die israelische Siedlungspolitik ab, spricht von einer Besatzung des Westjordanlandes, wofür er von der Rechten in Israel mitunter heftig angefeindet wird. Auf Feiern hat er gemeinsam israelischer und palästinensischer Toter gedacht, für Essays recherchierte er in den Palästinensischen Autonomiegebieten, um der in Israel unverstandenen anderen Seite eine Stimme zu geben. Nicht zufällig hat Grossman kurz nach Erscheinen von "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" – als eine von vielen internationalen Auszeichnungen – 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten.

"Wer das Wort Frieden benutzt, wird fast schon als Verräter Israels etikettiert", hat Grossman einmal in einem Interview gesagt. Er schreibt und arbeitet für Versöhnung; gleichwohl weiß er, dass der Staat Israel Gefahren ausgesetzt und von Feinden umgeben ist, von denen viele am liebsten alle Juden auslöschen möchten. "Israel braucht eine starke Armee", sagt er deshalb und beschreibt in seinen Romanen und Essays die Widersprüchlichkeit des Lebens in seinem Heimatland. Dabei verzichtet er auf Klischees und entdeckt Nuancen, die bei der Betrachtung des Konfliktes national wie international sonst oft untergehen.

David Grossman: Was Nina wusste. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser, München 2020, 352 Seiten, 25 Euro

Harald Gesterkamp ist freier Journalist und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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