Amnesty Journal Tunesien 22. Januar 2016

"Wir haben uns große Freiheiten erkämpft"

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Zum Interview kommt sie mit Leibwächter: Radhia Nasraoui kämpft in Tunesien seit vierzig Jahren für die Menschenrechte. Nicht nur Islamisten feinden sie an.

Radhia Nasraoui arbeitet in Tunesien seit den siebziger Jahren als Anwältin in politischen Prozessen. Wegen ihrer Menschenrechtsarbeit war sie jahrelang staatlicher Repression ausgesetzt und trat aus Protest mehrmals in den Hungerstreik. 2003 war sie Mitbegründerin der ­"Vereinigung des Kampfs gegen Folter in Tunesien". Diese ­Arbeit setzt sie seit 2011 in legalisierter Form in der ­"Organisation gegen Folter in Tunesien" (OCTT) fort. Seit 1981 ist sie mit Hamma Hammami verheiratet, dem Sprecher des "Front Populaire".

Sie sind mit einem Bodyguard zu diesem Interview gekommen. Warum? Weil mein Mann und ich von Islamisten bedroht werden. Vor allem mein Mann.

Ihr Mann, Hamma Hammami, ist Sprecher der Partei "Front Populaire". Er gilt als einer der bekanntesten ­linken Politiker des Landes. Inzwischen steht er unter Polizeischutz, er wird immer begleitet, manchmal von bis zu zehn Polizisten. Nachts stehen ­Beamte vor unserem Haus, um uns vor Terroranschlägen zu schützen. Aber ich weiß genau: Den Terroristen wird es irgendwann gelingen, meinen Mann zu töten.

Sie kämpfen mit Ihrer Organisation OCTT gegen Folter in ­Tunesien. Viele arabische Staaten setzen auf Folter, um ­Terrorismus zu bekämpfen. Sie sind anderer Meinung? Ja! Und deswegen haben meine politischen Gegner in Tunesien sogar eine Verleumdungskampagne gegen mich entfesselt. Sie behaupten, ich würde Terroristen verteidigen. Aber ich verteidige sie nicht als Terroristen. Ich verteidige ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit. Ich verteidige ihr Recht auf einen fairen Prozess, ihre Menschenwürde. Selbst wenn sie meinen Mann ­töten, darf ich mir nicht erlauben, zu sagen: "Okay, es sind nur Terroristen. Wir dürfen sie foltern …" Im Übrigen gestatten weder das internationale Recht noch unsere nationalen Gesetze eine Ausnahme vom Folterverbot. Es ist übrigens auch nicht intelligent, Menschen zu foltern. Man erfährt dabei nichts über die Wirklichkeit, man kommt der Wahrheit kein Stück näher.

Ihre Organisation hat kürzlich Alarm geschlagen: In Tunesien werde immer häufiger gefoltert. Was könnte dagegen unternommen werden? Dass wir in jüngster Zeit eine Zunahme von Folter festgestellt haben, ist hauptsächlich der Straflosigkeit geschuldet. Folterer müssen in Tunesien kaum fürchten, für ihre Taten belangt zu werden. Ich habe im Jahr 2011, nach der Revolution, Anzeige erstattet, weil Jugendliche gefoltert worden waren. Bis heute, fast fünf Jahre später, hat sich nichts getan. Das darf nicht sein. Dieser Straflosigkeit müssen wir ein Ende bereiten. Außerdem müssen Anwälte das Recht bekommen, ihre Mandanten vom ers­ten Moment der Festnahme an zu sehen. Und man sollte die Zeit des Polizeigewahrsams verkürzen, derzeit dürfen Personen bis zu sechs Tage ohne Anklage festgehalten werden. Zudem müsste man endlich den "Nationalen Präventionsmechanismus zum Schutz vor Folter" ins Leben rufen. Wir haben bereits viel Zeit verloren, schon Ende 2011 hat Tunesien die Antifolterkonvention der UNO ratifiziert und Ende 2012 hätte diese Instanz gegründet werden müssen, aber nichts ist passiert. Es fehlt der politische Wille, die Folter abzuschaffen.

Es bewegt sich nichts zum Besseren? Doch, ich habe den Eindruck, dass etwas Bewegung in die ­Sache kommt. Vor einigen Tagen hat mir der Innenminister gesagt, dass er mit mir zusammenarbeiten wolle. Er fragte mich, ob ich Menschenrechtskurse für Polizisten durchführen könne. Ich sagte: "Mit Vergnügen!" Und auch in der Justiz regt sich etwas. Kürzlich wurde ein Jugendlicher gefoltert und verlor sein Augenlicht. Der Untersuchungsrichter kreuzte meinen Weg und sagte zufrieden, er hätte deshalb zwei Polizisten verhaften lassen. Ich sagte: "Bravo, ich werde das überall weitersagen" – um ihm Mut zu machen. Die Folterpraxis existiert seit Jahrzehnten, es ist also nicht einfach, sie von einem Tag auf den anderen auszurotten. Doch wenn es einen politischen Willen gäbe, wäre es nicht schwierig, zumindest die Anzahl der Gefolterten zu verringern. Ich hoffe, dass wir bald zumindest erreichen werden, dass Folter als Verbrechen angesehen wird. Nach dem Gesetz ist Folter eine Straftat – und wenn ein Mensch an der Folter stirbt, kann das sogar mit der Todesstrafe sanktioniert werden.

Sie wurden vor einem Jahr als Sachverständige in den UNO-Ausschuss gegen Folter gewählt. Was bedeutet das für Sie? Ich sammle in dem Ausschuss Erfahrungen, denn die Mitglieder kommen von überall her, es sind europäische, amerikanische, asiatische, afrikanische Experten. Das hilft mir, besser zu verstehen, wie Folter verhindert werden kann.

Trotz aller Kritik scheinen die Verhältnisse in Tunesien besser zu sein als in den anderen Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings. Warum? Ich bin mit dem Ausdruck "Arabischer Frühling" nicht einverstanden. In Tunesien sprechen wir von der "Revolution der Würde und Freiheit", denn um diese beiden Aspekte ging es bei der Revolution. Deswegen müssen wir weiter dafür kämpfen, die Folter abzuschaffen, denn Folter ist ein klarer Verstoß gegen die Menschenwürde. Es stimmt, dass bei uns die Situation besser ist als beispielsweise in Libyen oder in Ägypten – von Syrien ganz zu schweigen. Aber das heißt nicht, dass es in Tunesien keine Probleme gibt. Allerdings haben wir uns tatsächlich große Freiheiten erkämpft. Unter Ben Ali hatten wir nicht das Recht, Menschenrechtsorganisationen oder Parteien zu gründen, zu demonstrieren, Sit-ins zu organisieren … Natürlich müssen wir wachsam bleiben, aber ich bin zuversichtlich: Ich habe nicht den Eindruck, dass die Tunesierinnen und Tunesier bereit sind, diese hart erkämpften Freiheiten wieder aufzugeben. Das beruhigt mich sehr!

Welches Verhältnis haben Sie zu Amnesty International? Amnesty International war die Organisation, die mich unter der Herrschaft von Ben Ali am meisten unterstützt hat. Wenn es Amnesty nicht gegeben hätte … nun, gut, zunächst wurde ich auch abgestraft, weil ich Verbindungen zu Amnesty hatte (lacht). Aber danach hat mir die Organisation sehr geholfen. Ich bin dafür sehr dankbar!

Fragen: Bernd Beier

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