Amnesty Journal Libyen 29. April 2016

Durchs Totenmeer nach Europa

Beginn einer lebensgefährlichen Reise. Schleuserboot mit syrischen Flüchtlingen vor der Küste Alexandrias.

Beginn einer lebensgefährlichen Reise. Schleuserboot mit syrischen Flüchtlingen vor der Küste Alexandrias.

Werden Balkanroute und Ägäis dichtgemacht, suchen sich Flüchtlinge andere Wege. Die sogenannte zentrale Mittelmeerroute von Libyen und Ägypten nach Europa gilt als die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Viele Boote legen östlich von Alexandria ab. Es ist eine Reise, von der ­niemand weiß, ob er sie überlebt.

Von Markus Bickel

Das Geschrei im Hintergrund will gar nicht zu dem idyllischen Garten mit dem kleinen Hühnerstall und den bunten Blumenbeeten passen. Seit Stunden rufen Angehörige der im Hadara-Gefängnis Inhaftierten ihren Liebsten Botschaften zu. Dicht an dicht gedrängt stehen die Familienmitglieder der Häftlinge neben den Gleisen, die an Alexandrias größter Haftanstalt vorbeiführen. Die hohen Mauern sollen das Gefängnis in der ägyptischen Hafenstadt eigentlich von der Außenwelt abschirmen. Doch das gelingt nicht: Fünf Jahre nach dem Aufstand gegen Langzeitherrscher Husni Mubarak setzt Militärmachthaber ­Abdel Fattah al-Sisi auf Repression. Die Gefängnisse sind fester Bestandteil seiner Politik. Nur das Hupen der durchrasenden ­Regionalzüge unterbricht alle paar Minuten die Rufe der Gefangenen hinter ihren vergitterten Fenstern.

Für Markus Schildhauer bildet die surreal anmutende Kommunikation der Inhaftierten mit ihren Familien den täglichen Soundtrack seiner Arbeit bei der Deutschen Seemannsmission in Alexandria. Seit September 2014 ist der 56-Jährige in einem Gebäude neben dem Gefängnis stationiert, um den im Hafen der Mittelmeermetropole ankernden Seeleuten ein offenes Ohr zu schenken. Das ist in diesen Tagen nötiger denn je. Neben dem Eingang des von der Evangelischen Kirche betriebenen ­Seemannsheims hängt ein Holzkreuz, das aus den Planken von Bootswracks von Flüchtlingen gezimmert wurde, die vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa strandeten. Es ist mehr als nur ein Symbol.

Denn auch wenn sich die Aufmerksamkeit der europäischen Medien auf die Balkanroute verlagert hat, über die weiter Tag für Tag Tausende Syrer dem Krieg in ihrem Heimatland entfliehen, ist die Flucht über das Mittelmeer nie abgerissen. Allein dieses Jahr schon brachen bis Ende Februar nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 120.000 Menschen auf Booten in der Ägäis Richtung Griechenland auf, aus Nordafrika nach Italien 10.000 – mehr als zehnmal so viele wie im gleichen Zeitraum 2015. Dabei hatte bereits das vergangene Jahr alle Rekorde gebrochen: Mehr als eine Million Menschen begaben sich laut UNHCR an den Stränden des Mittelmeers auf die letzte Etappe ihrer Flucht, die meisten von ihnen kamen aus Syrien und Afghanistan. Aber nicht nur aus diesen beiden Kriegs- und Krisengebieten hält der Exodus an. Auch von Nordafrika aus nehmen weiterhin Zehntausende das Risiko auf sich, das Meer, das sie von der Festung Europa trennt, zu überwinden, die Mehrheit von ihnen aus Eritrea, Nigeria, Somalia und dem Sudan. Ein langer, beschwerlicher und gefährlicher Weg, der bis zu 15 Tage dauern kann. Auf 2.887 Tote im vergangenen Jahr beziffert die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zahl der Opfer auf der weltweit gefährlichsten Fluchtroute von Libyen und Ägypten. Die sogenannte zentrale Mittelmeerroute hat sich auch deshalb zur Todesroute entwickelt, weil viele nordafrikanische Schlepper durch die Verlagerung der Flucht in die Ägäis 2015 finanzielle Einbußen hatten. Sie nehmen deshalb jetzt noch weniger Rücksicht auf die Sicherheit der Schutzbedürftigen, sagen Menschenrechtler in Alexandria.

Zwischenstation Ägypten. Blick aus einer Flüchtlingsunterkunft in Alexandria.

Zwischenstation Ägypten. Blick aus einer Flüchtlingsunterkunft in Alexandria.

Angesichts der anhaltenden Konflikte in Afrika ist ein Ende des Migrationsstroms Richtung Norden nicht in Sicht und der Druck auf den Transitstaat Ägypten wächst. Weil die Schleusernetzwerke in Libyen durch den Bürgerkrieg und das Erstarken der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) nicht mehr so operieren können wie in den ersten Jahren nach dem Sturz des Macht­habers Muammar al-Gaddafi, arbeiteten sie zuletzt immer ­enger mit kriminellen Netzwerken im Nachbarland zusammen.

Mitarbeiter von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass die ägyptischen Behörden oft die Flüchtlinge ins Visier nehmen, nicht die Schlepper. Tausende Fälle sogenannter Administrativhaft gibt es, selbst Minderjährige werden nach einer gescheiterten Flucht wochenlang inhaftiert. Die irreguläre Migration wird vor allem als Sicherheitsproblem betrachtet, nicht als humanitäres. Zugleich gehen die Schleusernetzwerke seit Beginn der Massenflucht aus der Türkei Mitte 2015 immer gewaltsamer gegen Flüchtlinge vor. Da Tausende Syrer, die von der ägyptischen Küste aus in See stachen, über weitaus mehr Zahlkraft verfügten als afrikanische Migranten, sei der Kampf um die Marktanteile voll entbrannt. "Diese Reisegesellschaften haben jetzt Umsatzeinbußen", sagt Schildhauer.

Viele Boote legen östlich von Alexandria ab, in der Provinz Kafr al Sheikh. Hier profitieren korrupte Sicherheitskräfte des Regimes von al-Sisi von der Kooperation mit den Kriminellen, ähnlich wie verarmte Fischer, die ihre Boote Schlepperbanden zur Verfügung stellen. Während an der tausend Kilometer langen Westgrenze Ägyptens zu Libyen traditionelle Schmuggelrouten unterbrochen wurden, nachdem die Militärpräsenz gegen den IS aufgestockt wurde, bieten sich den Schleusern im Umland Alexandrias weiterhin ideale Bedingungen weitgehend außerhalb staatlicher Kontrolle. Schiffswracks liegen vor der Küste, an den Stränden angespült finden sich Kleidungsstücke, Schuhe, zersplittertes Holz und rostige Nägel. Zwischen 2.500 und 6.000 US-Dollar verlangen die Schleuser von den Geflüchteten für die Überfahrt, von der keiner weiß, ob er sie überlebt.

Die Gegend rund um die Hafenstadt ist auch deshalb zum neuen Anziehungspunkt für Syrer, Eritreer, Äthiopier, Sudanesen, Südsudanesen und Somalier geworden, weil die alte Fluchtroute über die Sinaihalbinsel Richtung Israel inzwischen verwaist ist. Dort hatte es bis zum Bau des israelischen Sperrzauns 2014 massive Menschenrechtsverletzungen gegeben. Tausende Ostafrikaner sollen von 2009 bis 2013 von Menschenhändlern entführt worden sein, die deren Familien in den Herkunftsländern dann zu Lösegeldzahlungen zwangen. Viele wurden von ­ihren Peinigern gefoltert. Die Profite beliefen sich auf geschätzt mehr als 600 Millionen Dollar.

Ein weiterer Push-Faktor, der nicht nur Ostafrikaner, sondern auch viele in Ägypten gestrandete Syrer nach Europa weitertreibt, ist die miserable humanitäre Situation im Land selbst. Zehntausende Syrer waren bereits in den Monaten nach Beginn des Aufstands gegen Syriens Diktator Baschar al-Assad 2011 an den Nil gekommen. Kairo und Alexandria wurden rasch zu Zentren der Exilanten-Szene. Der 2012 zum Präsidenten gewählte Muslimbruder Mohamed Mursi legte Angehörigen des arabischen Brudervolks zunächst keine Visarestriktionen auf. Das änderte sich nach dem Putsch des Militärmachthabers al-Sisi gegen den islamistischen Staatschef im Sommer 2013. Seitdem wurden die rund 120.000 Syrer, die als Flüchtlinge registriert sind, nicht nur Opfer von Diskriminierung, sie sind auch von sinkenden UNHCR-Budgets betroffen. Weil das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen seine Ausgaben für syrische Flüchtlinge in der Region immer weiter zusammenkürzt, fallen inzwischen mehr als neunzig Prozent der in Ägypten Registrierten unter die Armutsgrenze.

Die Europaparlamentarierin Barbara Lochbihler, die in Kairo am fünften Jahrestag des Mubarak-Sturzes im Januar 2016 mit Flüchtlingsinitiativen zusammentraf, fordert deshalb eine Aufstockung der UNHCR-Gelder durch die EU-Staaten und eine aktive Migrationspolitik Brüssels, die Wirtschaftsmigranten ebenso wie politischen Flüchtlingen legale Einreisemöglichkeiten bietet. Man müsse endlich der Tatsache Rechnung tragen, dass viele derjenigen, die auf Zwischenstation in Ägypten gelandet sind, "die Hoffnung ihrer Familien mit sich tragen, Geld zu verdienen", sagt die Grünen-Politikerin. Zwei Drittel der rund 25.000 Geflüchteten im Land zieht es weiter nach Europa, Nordamerika oder in die reichen Golfstaaten, ergab eine Untersuchung der ägyptischen Statistikbehörde Capmas.

Vor der Überfahrt. Syrer auf der Nelson-Insel bei Alexandria, wo viele Flüchtlingsboote in See stechen.

Vor der Überfahrt. Syrer auf der Nelson-Insel bei Alexandria, wo viele Flüchtlingsboote in See stechen.

Bis zuletzt schob Ägypten Syrer ab
Auch deshalb sei das Kalkül der Ausreiseweilligen leicht nachzuvollziehen, sagt Seemannsmissionsleiter Schildhauer: Selbst wenn die Chance nur bei fünfzig Prozent läge, Europa zu erreichen, lohne sich aus ihrer Sicht das Risiko. Auch wenn Kriminelle immer öfter "Seelenverkäufer" für viel Geld auf eine Reise mit ungewissem Ausgang schickten, um ähnliche Profite wie zuletzt die Schleuserbanden in der Türkei zu erzielen. Die Gefahr, in die Hände ägyptischer Sicherheitskräfte zu gelangen, die die Ablegestellen sporadisch kontrollieren, schreckt nicht viele ab. Und das, obwohl die Behörden trotz internationaler Kritik bis zuletzt Syrer zurück nach Damaskus abschoben – ein Freifahrtschein in Folter und Tod.

Fluchtexperten rechnen dennoch damit, dass die Versuche der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der EU-Mittelmeermission "Eunavfor Med", die Zahl der Flüchtlinge in der Ägäis zu reduzieren, die gefährliche zentrale Mittelmeerroute wieder aufwerten könnten. Zumal die Flucht im östlichen Mittelmeer durch die stärkeren Kontrollen schon heute immer gefährlicher wird: Allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres kamen 321 Menschen bei auf der Überfahrt von der Türkei zu den griechischen Inseln ums Leben.

Zum Vergleich: Allein von Juni bis Dezember 2015 bestiegen 815.350 Menschen an türkischen Stränden die vermeintlich rettenden Boote Richtung EU, in Libyen, Ägypten und vereinzelt noch Tunesien und Marokko laut IOM lediglich 106.393. Die beiden Maghreb-Staaten haben in den vergangenen Jahren ihre Seepatrouillen so intensiviert, dass eine Flucht durch die Straße von Gibraltar oder auf die 75 Kilometer vom tunesischen Festland entfernte italienische Insel Pantelleria kaum noch gelingt.

Doch dieser Trend könnte sich Geheimdiensten zufolge umkehren: Zwischen 150.000 und 200.000 Flüchtlinge warten demnach derzeit auf besseres Wetter, um von Libyen oder Ägypten aus die Fahrt übers Mittelmeer zu wagen. Bislang kommen die Flüchtlinge vor allem aus Eritrea, Nigeria und Somalia. Aber auch die Zahl der Migranten aus Syrien steigt seit dem Jahreswechsel bereits wieder.

Die Furcht vor herumtreibenden Leichen
Die traumatischen Folgen der Flüchtlingsbewegungen bekommen längst auch die Seeleute privater Reedereien zu spüren, sagt Schildhauer. Erst jüngst habe ihn ein verzweifelter Kapitän angerufen, nachdem er ein Schiff mit 400 Menschen, die schon seit zwei Wochen zusammengepfercht unterwegs waren, vor dem Untergang gerettet habe. Er vertraute ihm an, dass er sich kaum noch traue, tagsüber abzulegen, weil er fürchte, wieder mit herumtreibenden Leichen konfrontiert zu sein. Die Besatzungen seien überhaupt nicht adäquat vorbereitet auf das tägliche Elend auf hoher See, klagt Schildhauer. Oft seien lediglich zwanzig Schwimmwesten an Bord, mit denen schwerlich 400 Menschen gerettet werden könnten.

Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass Unternehmen der Handelsschifffahrt 2014 40.000 Bootsflüchtlinge retteten. Doch die Bilder derer, die es nicht lebend schafften, lassen viele nicht los. Zumal die Methoden der Schlepper immer grausamer werden, sagt Schildhauer. Mittlerweile würden vor der ägyptischen Küste kleinere Boote oft nur noch eingesetzt, um die Passagiere zu größeren Schiffen vor der libyschen Küste zu bringen, wo sie dann "vergleichbar mit Viehtransporten umgeladen" würden. Dass einige dabei ertrinken, werde als "Kollateralschaden" hingenommen. Es sei ein Skandal, dass man diese Menschen überhaupt zur lebensgefährlichen Überquerung des Mittelmeeres zwinge, wenn sie am Ende doch einen Aufenthalt bekämen. Dem pflichtet auch die EU-Abgeordnete Lochbihler bei: "Der wirksamste Weg, das Schlepperwesen zu bekämpfen, ist, legale Einwanderungsmöglichkeiten zu schaffen."

Der Autor war bis 2015 Nahost-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Kairo. Heute arbeitet er als Journalist in Berlin.

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