Amnesty Journal Usbekistan 13. Mai 2015

Usbekistan

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Vor zehn Jahren kam es in der usbekischen Großstadt ­Andischan zu einem spontanen Aufstand gegen das ­autoritäre Regime des Landes. Das Militär erschoss ­Hunderte überwiegend unbewaffneter Demonstranten: Kinder, Frauen, Männer. Bis heute gab es keine unab­hängige Untersuchung des Massakers – Usbekistan ist ein strategischer Partner der EU und Deutschlands.

Von Marcus Bensmann

Die Panzerwagen kamen am Nachmittag. Sie rollten aus ihren Stellungen entlang der Hauptstraße heran, Soldaten hockten darauf, Maschinenpistolen im Anschlag. Sie ratterten auf den Platz, der voller Menschen war. Tausende standen dort: Männer, Frauen, Kinder. Einer der Panzerwagen schob ein Auto von der Straße. Dann, ohne Warnung, begannen die Soldaten, in die Menge zu schießen.

Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Ich wollte es nicht wahrhaben. Mir war klar, dass Andischan von Soldaten umstellt war, ich rechnete damit, dass sie in die Stadt einrücken würden, aber ich hatte mir fortwährend gesagt: Sie werden nicht auf Unbewaffnete schießen. Doch nun schossen sie. Wie festgefroren stand ich dort.

Dann traf eine Salve den Asphalt neben mir. Erst da reagierte ich und sprang in einen offenen Wassergraben. Es roch faulig, ich lag dort und hörte das dumpfe Knallen der Kalaschnikows: unrhythmisch, andauernd, peitschend, hart, laut. Ich hörte weinende Männer, sie bettelten: "nicht schießen", die Salven, das Wimmern, die Schreie der Sterbenden.

Hilflos im Kugelhagel: Die Protestierenden suchen Schutz

Hilflos im Kugelhagel: Die Protestierenden suchen Schutz

Nach einigen Minuten setzte das Schießen aus. Wo war meine Frau? Wir waren am Morgen gemeinsam hergekommen, sie heißt Galima Bucharbajewa, ist wie ich Journalistin und war schon damals eine der bekanntesten kritischen Stimmen Usbekistans. Ich war so erleichtert, als ich sie entdeckte. Sie lag im gleichen Graben, einige Meter weiter, unverletzt. Überall auf dem Platz lagen Erschossene in ihrem Blut.

Ein Panzerwagen näherte sich. Wir sprangen wieder in den Wassergraben. Zwei Tage zuvor, am 11. Mai 2005, war ich bereits in Andischan gewesen, um über einen Prozess gegen 23 Geschäftsleute aus der Stadt zu berichten. Vor dem Gerichtsgebäude stand eine riesige Menschenmenge. Die meisten waren festlich gekleidet, die Männer in Anzug, Hemd und Krawatte, die Frauen in langen Kleidern und Kopftüchern. Eine Stille lag über der Szenerie, wie ich sie bei so vielen Menschen noch nie erlebt hatte. Keine hupenden Autos, keine Schreie, kein Fluchen, wie sonst in Zentralasien. Die Stille irritierte.

Sie war ein stummer Aufschrei gegen Usbekistans Präsident Islam Karimow, gegen seine Polizei, seine Geheimdienste, gegen die Willkür, die im Land herrscht. Und sie war eine Herausforderung. Denn Karimow hatte seit Jahren keine Demonstrationen zugelassen. Diese Menschen aber versammelten sich seit drei Monaten immer wieder vor dem Gericht, um die Freilassung der 23 Unternehmer zu fordern.

Willkürliche Verhaftungen sind in Usbekistan – damals wie heute – an der Tagesordnung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion riss der ehemalige Sowjetfunktionär Islam Karimow die Macht im bevölkerungsreichsten zentralasiatischen Land an sich und errichtete einen Polizeistaat.

2002 gelangten zwei Fotos an die Öffentlichkeit. Der damalige britische Botschafter Graig Murray hatte sie den Medien gegeben. Die Fotos zeigten die Körper zweier toter Männer. Ihre Haut war aufgedunsen, gespannt, unnatürlich gerötet – die Folterer hatten die Männer im Gefängnis, das legen die Fotos nahe, wohl gekocht. Der UN-Berichterstatter für Folter, Theo von Boven, untersuchte den Fall. Das Resümee seiner Berichte zu Usbekistan: Folter werde in dem Land "systematisch" angewandt. Doch von all dem ist im Westen nur selten zu lesen oder zu hören. Denn Usbekistan ist wichtig. Es liegt strategisch günstig, grenzt an Afghanistan. Seit 2001, seit Beginn des "War on Terror", ist es Partner der NATO.

Die Häftlinge und die Demonstranten in Andischan gehören einer religiösen Gemeinschaft um den geistigen Führer Akram Juldaschjew an. Dieser sitzt seit über 20 Jahren im Gefängnis, der Vorwurf: Er sei Islamist. Das ist in Usbekistan, besonders seit 2001, ein wohlfeiler Vorwand, um Kritiker mundtot zu machen. Viele der Anhänger Juldaschjews gehören dem Mittelstand Andischans an. Im Sommer 2004 wurden 23 Anhänger der Gemeinschaft, erfolgreiche Geschäftsmänner, verhaftet. Der Vorwurf, auch hier: Sie seien islamistische Extremisten. Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt, sie wurden verhört und gefoltert.

In einer Verhandlungspause fragte ich den Staatsanwalt – er hatte hohe Haftstrafen für die Unternehmer gefordert –, warum die Männer denn so gefährlich seien. Der Staatsanwalt antwortete, sie hätten zwar "noch nichts verbrochen", man müsse sie aber trotzdem verurteilen, um künftige Straftaten zu verhindern, "als Warnung". Unterdessen kursierten unter den Demonstranten Gerüchte. Das Urteil stünde kurz bevor. Eine Freilassung sei wahrscheinlich. Ich flog zurück in die Hauptstadt.

Aus Demonstranten wurden Aufständische

Zwei Tage später, am frühen Morgen des 13. Mai, klingelte mein Telefon. Die Lage in Andischan sei eskaliert, bewaffnete Männer hätten das Gefängnis gestürmt und die 23 Geschäftsleute befreit. Sofort packten meine Frau und ich unsere Sachen. Der Landweg war vom usbekischen Militär blockiert, doch mit einem Postflieger, zu Fuß und mit einem Taxi gelangten wir innerhalb weniger Stunden nach Andischan.

Alles war jetzt anders. Demonstranten bewachten die Straßen, hatten Posten bezogen. Die Männer gingen aufrecht, das Kinn empor gereckt, wirkten stolz. Das war neu. Die ständige Hatz der usbekischen Geheimpolizei bedrückt vor allem junge Männer. Jederzeit können sie verhaftet werden. Die Männer von Andischan am 13. Mai 2005 hatten keine Angst mehr.

Alles war anders: Die Lage in Andischan war eskaliert

Alles war anders: Die Lage in Andischan war eskaliert

Auf dem zentralen Barbur-Platz, vielleicht 200 mal 200 Meter groß, standen Tausende Menschen, aus Lautsprechern knarzten Reden, Kinder rannten umher. Das im Sowjet-Klassizismus errichtete Theater brannte, niemand löschte die Flammen. Die Aufständischen hatten die Stadtverwaltung am Platz – ein verglastes Gebäude mit Stahlzaun davor – zu ihrer Zentrale gemacht. Aktenordner des usbekischen Regimes lagen auf der Straße, Dokumente wehten durch die Luft.

Vor dem Eingang der Stadtverwaltung stand eine Handvoll Männer. Sie hatten Waffen in der Hand. Es waren Männer aus der Stadt. Ich sah keine Kämpfer aus anderen Ländern, wie später die Regierung es darstellte. Ich sah keine Mudschahedin.

Ich traf Scharif Schakirow, einen der Anführer, ich hatte ihn zwei Tage zuvor kennengelernt. Seine zwei Brüder standen neben ihm. Bis vor wenigen Stunden waren sie im Gefängnis gewesen. Sie trugen noch ihre Hosen aus der Haft. Ihre Gesichter waren fahl. Sie wirkten erschöpft. Scharif Schakirow erzählte: Ihnen wurde zugesagt, dass am 12. Mai die 23 Gefangenen frei kämen. Doch das Gegenteil geschah.

Am Abend begann die usbekische Geheimpolizei, Männer zu verhaften. Die Polizei beschlagnahmte Autos, die in der Nähe des Gerichtes geparkt waren. In jeder Protestbewegung gibt es Menschen, die zu Gewalt bereit sind. Vielleicht war auch ein Agent Provocateur unter ihnen – der friedliche Protest ist für das usbekische Regime gefährlicher als eine Eskalation. Es blieb friedlich bis zu den Verhaftungen. Dann riss der Geduldsfaden: Einige Dutzend Männer zogen zu einer Kaserne.

Die Soldaten flohen. Die Männer stürmten die Gebäude und bewaffneten sich. Dann liefen sie vor das Gebäude der Geheimpolizei und forderten die Freilassung der Gefangenen. Die Geheimpolizei schoss in die Menge. Allein an diesem Abend seien 30 Menschen getötet worden, sagte Shakirow. Die Menge zog weiter vor das Gefängnis. Mit einem Lkw rammte sie das Tor auf. Die Wachen flohen. Die Gefangenen wurden befreit. Noch in der Nacht besetzten die Männer die Stadtverwaltung. Sie nahmen Geiseln: Polizisten, Leute der Geheimpolizei, den Staatsanwalt.

Aus friedlichen Demonstranten waren über Nacht Aufständische geworden. Sie hatten das nicht geplant. Sie wirkten überfordert. Ihr Anführer hieß Kabuljon Parpiev, ein drahtiger Mann mit kurzen Haaren. Er führte Verhandlungen mit dem usbekischen Innenminister Sokir Almatow. Man wolle keinen Umsturz, sondern Gerechtigkeit – und die Freilassung des religiösen Führers Akram Juldaschjew. Der Innenminister drohte, den Platz stürmen zu lassen, sollten sie sich nicht sofort ergeben, sie würden schießen, auch wenn 400 Menschen sterben sollten.

Vor dem Verwaltungsgebäude standen einige Bewaffnete. Im Garten fertigten alte Männer Molotowcocktails. Einige von ihnen waren bewaffnet, erfahrene Kämpfer waren nicht zu sehen. Ein Mann im schwarzen Anzug posierte mit einem Gewehr. Der Lauf zielte auf mich. Ich schrie ihn an, er solle das Ding wegnehmen. Ich sollte mich beruhigen, sagte der Mann, er hätte gar keine Munition. Das Foto dieses Mannes dient heute den usbekischen Behörden als Beweis, dass gefährliche Terroristen in der Stadt waren.

Draußen, auf der Tribüne, ging derweil das Mikrofon von einer Hand zur nächsten. Jeder konnte sich anstellen und etwas sagen. Zum ersten Mal galt in Usbekistan das freie Wort. Die Menschen beschwerten sich über Willkür, sie forderten Gerechtigkeit. Niemand redete von der Errichtung eines islamischen Staates. So ging es den ganzen Nachmittag lang. Dann kamen die Panzerwagen.

Die Regierung verweigert eine Untersuchung

Mehrere Hundert Menschen wurden bei dem Massaker von Andischan getötet, Hunderte wurden verhaftet. Menschen, denen die Flucht gelungen war, wurden aus Nachbarländern verschleppt. Von Folter gezeichnet, bestätigten sie in Schauprozessen die Version des usbekischen Staates: Islamistische Terroristen hätten zusammen mit ausländischen Kämpfern und mit Hilfe der westlichen Medien den Aufruhr angezettelt. Usbekische Sicherheitskräfte hätten nicht auf Menschen geschossen.

Unerwartete Eskalation: Die Panzerwagen kamen am Nachmittag.

Unerwartete Eskalation: Die Panzerwagen kamen am Nachmittag.

Nach dem Massaker verlangte der Rat der EU-Außenminister von der usbekischen Regierung eine internationale, unabhängige Aufklärung. Die usbekische Regierung weigerte sich. Woraufhin die Europäische Union im Oktober 2005 Sanktionen gegen das zentralasiatische Land verhängte: ein Waffenembargo, ein Einreiseverbot für hohe usbekische Beamte, ein Kooperationsabkommen wurde auf Eis gelegt.

Usbekistan reagierte – und verhängte ein Überflugverbot für NATO-Flugzeuge. Diktator Karimow drohte mit dem Abzug aller westlichen Militärbasen aus Zentralasien. Die Bundesregierung hatte nun ein Problem: Sie brauchte den Stützpunkt am Flughafen im usbekischen Termes, um die Truppen in Afghanistan zu versorgen.

Wenig später übernahm in Deutschland Angela Merkels Große Koalition die Regierungsgeschäfte, es begann eine "Politik der Annäherung": Noch vor dem Regierungswechsel gab das Auswärtige Amt dem usbekischen Innenminister Sokir Almatow ein Visum, damit er sich in einer Spezialklinik in Hannover behandeln lassen konnte – jener Mann, der den Demonstranten in Andischan mit Massenmord gedroht hatte und der ganz oben auf der EU-Sanktionsliste stand.

Im Dezember 2005, ein halbes Jahr nach dem Massaker von Andischan, reiste der damalige Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, Friedbert Pflüger (CDU), nach Taschkent zum Diktator Karimow. Pflüger versprach eine "faire" Berücksichtigung der usbekischen Sichtweise bei der Beurteilung der "Ereignisse" in Andischan. Karimow erklärte, die Bundeswehr dürfe in Termes bleiben.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) traf den Diktator am 1. November 2006. "Sanktionen sind kein Selbstzweck", sagte Steinmeier nach dem Treffen. Die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung des Massakers wurde fallengelassen – und durch "Expertengespräche" ersetzt. Dies, bestätigt ein hochrangiger EU-Diplomat heute – er möchte anonym bleiben –, war die "Exitstrategie" aus den Strafmaßnahmen. Keiner hatte ein Interesse daran, "ewige Sanktionen" gegen das zentralasiatische Land zu verhängen.

Die Ergebnisse dieser Gespräche, die im Dezember 2006 und im April 2007 in Usbekistan stattgefunden haben, sind bis heute geheim. Einen "Menschenrechtsdialog" und "Reformen" hat das usbekische Regime versprochen; die Todesstrafe habe man abgeschafft und Rechtsstaatsreformen eingeführt. Auf dem Papier. In den Gefängnissen Usbekistans wird weiter gefoltert und gelitten. Die "Ereignisse von Andischan" sollen die Beziehung zwischen Usbekistan und der EU nicht weiter belasten.

Amnesty International hat einige Folteropfer befragt. Darunter eine Frau, die sich Zuhra nennt. Sie saß in einem usbekischen Gefängnis, gemeinsam mit Frauen, die im Verdacht standen, Islamisten zu unterstützen. Zuhra berichtet, wie die Frauen blutig geschlagen wurden. Wie ihre Nasen gebrochen, ihre Beine zerschmettert wurden. Die Folterer zwangen die Frauen, sich nackt auf den Boden zu legen – und stellten sich auf ihre Rücken. Zuhra berichtet, sie habe die Füße junger Männer "wegschmelzen" sehen. Die Peiniger hätten mit Stöcken und Ruten auf die Fersen eingedroschen, bis sich das Fleisch löste.

Es kann jeden treffen. Vahi Günes ist ein türkischer Geschäftsmann. Er hatte einen Supermarkt in Taschkent. Dann wurde er willkürlich zur Beute des usbekischen Staates. Günes sagt: Männer werden sexuell erniedrigt, vergewaltigt. Sie werden gefoltert in Verhörräumen, Strafzellen, Waschräumen, Duschen. Am schlimmsten sind "eigens dafür eingerichtete Räume", sagt Günes. Schalldichte Zellen. Hier werden Häftlinge eingesperrt. Einsam, nackt, verängstigt, zitternd. Dann kommen zwei maskierte Männer hinein, sagt Günes, und tun, "was sie wollen".

Die Schreie der Opfer kann niemand hören. Ihre Angst niemand fühlen, ihre Hoffnungslosigkeit niemand lindern. Sie sind den Sadisten des usbekischen Staates ausgeliefert, in dem das Verbrechen die Arbeit der Polizei ist. Günes lebt heute in ­Istanbul. Die Bilder der Häftlinge sind ihm dorthin gefolgt.

Meine Frau und ich hatten unbeschreibliches Glück. In einer Feuerpause rannten wir davon, gerade noch rechtzeitig, denn nun begannen weitere Panzerwagen, den Barbur-Platz einzukreisen. Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte.

Zurück im Hotel bemerkte Galima, dass eine Kugel ihren Rucksack durchschlagen hatte – und in ihrem Notizbuch stecken geblieben war. Über unsere Satellitentelefone riefen wir die Redaktionen der Welt an und berichteten von dem Massaker. Die Schuldigen wurden bis heute nicht benannt. Bis heute treten die Maskierten in die schalldichten Räume. Und bis heute nutzt die Bundeswehr das Flugfeld in Termes.

Info-Kasten: Folter in Usbekistan Schläge, simuliertes Ersticken, Vergewaltigungen werden in Uskekistan alltäglich eingesetzt, vor allem, um "Geständnisse" zu erzwingen. Am häufigsten kommt es im Gewahrsam der Polizei und des Nationalen Sicherheitsdienstes zu Folter. Besonders betroffen waren muslimische Personen, denen die Behörden "staatsfeindliche" oder terroristische Straftaten vorwarfen. Zudem drohen staatlich Bedienstete mit Haft und Folter, um Bestechungsgelder von Angehörigen zu erpressen. Der Usbekistan-Report kann unter amnesty.de heruntergeladen werden.

correct!v Marcus Bensmann ist Reporter bei CORRECT!V, dem ers­ten gemeinnützigen Recherchebüro im deutschsprachigen Raum. Zuvor war er zwanzig Jahre freier Journalist in Zentralasien. Die Reporter von CORRECT!V arbeiten investigativ, sie decken Missstände auf, haken gründlich nach und arbeiten oft jahrelang an einem ­Thema. Das Büro ist unabhängig von Verlagen und wird allein durch Spenden von Stiftungen und Bürgern finanziert. ­correctiv.org/correctiv/unterstuetzen

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