Amnesty Journal Algerien 17. September 2014

Zynisches Recht

Tunesien Petitionsübergabe

Tunesien Petitionsübergabe

Nach dem schockierenden Selbstmord einer 16-Jährigen, die gezwungen worden war, ihren Vergewaltiger zu heiraten, hat Marokko Anfang des Jahres die Straffreiheit für Vergewaltiger abgeschafft. In Tunesien und Algerien haben jedoch ähnliche Gesetze weiterhin Bestand.

Von Uta von Schrenk

Krämpfe, innere Blutungen, unsägliche Schmerzen. Vergiftung durch Rattengift ist einer der grausamsten Tode, die man sterben kann. Das wird Amina Filali ­gewusst haben. Und doch entschied sie sich im März 2012, das Gift zu schlucken. Sie war 16 Jahre alt, als sie starb. Wie verzweifelt muss ihre Lage gewesen sein, dass sie Rattengift für das kleinere Übel hielt?

Die Marokkanerin Amina Filali aus der Kleinstadt Larache war auf ihrem Nachhauseweg von der Schule im Sommer 2011 vergewaltigt und anschließend dazu gezwungen worden, den Täter zu heiraten – um die "Familienehre" zu retten und um dem Vergewaltiger eine Strafe zu ersparen. Ein Staatsanwalt hatte die außergerichtliche Entscheidung nahegelegt und die Anzeige von Aminas Vater gegen den 26-jährigen Vergewaltiger ­damit als erledigt betrachtet. Nach traditionellem maghrebinischem Rechtsverständnis ist dies eine Win-win-Situation – für die "geschädigte" Familie des vermeintlich "entehrten" Mädchens ebenso wie für den Straftäter – aus menschenrechtlicher Perspektive jedoch eine zynische wie inhumane Rechtslage. Wird doch die betroffene Minderjährige für die erlittene Vergewaltigung auch noch durch eine lebenslängliche Konfrontation mit ihrem Peiniger bestraft. Bis Anfang 2014 war diese Praxis gängiges Recht in Marokko, gedeckt durch den Paragrafen 475 des Strafgesetzbuches. Im Januar stimmte das Parlament in ­Rabat für eine Änderung des Paragrafen. So traurig es ist: Ohne Aminas Verzweiflungstat wäre dies undenkbar gewesen.

Nachdem Aminas Fall bekannt wurde, gingen Tausende ­Marokkanerinnen und Marokkaner auf die Straße, um gegen die unmenschlichen und frauenverachtenden Gesetze zu protestieren, internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International prangerten den Fall an. Auch Aminas ­Familie, untröstlich über den Verlust, war unter den Demons­trierenden. Auf den Protestplakaten stand: "Vergewaltige mich, dann heirate mich", "Ruhe in Frieden Amina" oder "Paragraf 475 tötete mich". Aminas schockierende Geschichte war zu einem Katalysator geworden, der eine längst überfällige gesellschaftliche Entwicklung in Gang brachte.

Amnesty begrüßt den politischen Schritt. "Indem wir sicherstellen, dass Gesetze, die es Vergewaltigern erlauben, ihre Opfer zu heiraten, um einer Anklage zu entgehen, für immer abgeschafft werden, können wir Amina würdig in Erinnerung halten", sagt Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Direktorin der Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika von Amnesty.

Dabei bildete Marokko keineswegs eine unrühmliche Ausnahme im Umgang mit Vergewaltigungen. Bis heute existieren vergleichbare Gesetze in Algerien und Tunesien: Vergewaltigung ist zwar strafbar, wird aber im Strafgesetzbuch nicht definiert. Vergewaltigung in der Ehe stellt kein Verbrechen dar. Es gibt keine spezifischen Bestimmungen zu häuslicher Gewalt. Und Vergewaltiger können, wie zuvor in Marokko, ihre Tat "sühnen", indem sie das minderjährige Opfer heiraten.

Alle Gesetze eint, dass sie das Täter-Opfer-Verhältnis umkehren: Frauen und Mädchen werden nicht als Opfer einer zu ahndenden Gewalttat gesehen, sondern als Verursacherin. In Tunesien meldete etwa eine junge Frau bei der Polizei, dass sie von zwei Polizisten vergewaltigt worden war. Das Ergebnis: Das Opfer wurde wegen "ungebührlichen Verhaltens" angeklagt. Und in Algerien griffen 2010 Gruppen von jungen Männern in der Stadt Hassi Messaoud zahlreiche Frauen an, die dort alleine lebten und arbeiteten. Sie gingen auf die Frauen mit Messern los und nahmen ihnen Telefone und Schmuck ab. Einige Frauen wurden auch sexuell missbraucht und als "Prostituierte" beschimpft. Bis heute haben die algerischen Behörden nicht bekannt gegeben, ob die Angreifer vor Gericht gestellt wurden.

"Frauen und Mädchen, denen sexuelle Gewalt angetan wird, werden als Problem wahrgenommen und ihnen wird vorgeworfen, selbst schuld an der Vergewaltigung zu sein", so Hassiba Hadj Sahraoui von Amnesty. Dabei müsse klar sein: "Vergewaltigung ist eine der extremsten Formen von Gewalt an Frauen und Mädchen. Der Staat ist verantwortlich dafür, dass das Gesetz, die Polizei und die Justiz sie davor schützen. Vergewaltigern muss klar gemacht werden, dass es keinen Weg gibt, sich dem Gefängnis zu entziehen. Opfer müssen unterstützt, nicht stigmatisiert werden." Im Rahmen der Kampagne "My Body, My Rights" fordert Amnesty von den Maghreb-Staaten, dass sie endlich und umgehend internationales Recht respektieren und in Bezug auf Frauen und Mädchen, die sexuelle Gewalt erlitten haben, ihre Gesetze und Praktiken ändern – auch von Marokko.

Denn der marokkanische Parlamentsbeschluss ist zwar "ein Schritt in die richtige Richtung", wie Hassiba Hadj Sahraoui sagt. Aber er ist nur "ein Anfang". Noch 2009 waren nach Angaben des Demokratischen Bundes für die Rechte der Frauen zehn Prozent aller Ehen Zwangsehen. Und angesichts von sechs Millionen Marokkanerinnen, die nach Zahlen des Familienministeriums Opfer von Gewalt wurden – mehr als die Hälfte davon in der Ehe – ist es an der Zeit, Gesetze einzuführen, die Überlebende von Vergewaltigungen schützen. Amnesty fordert, dass es bei der Strafverfolgung des Vergewaltigers künftig keine Rolle mehr spielen darf, ob das Opfer Jungfrau war oder nicht. Es ist absurd: Vergewaltigungsopfer laufen in Marokko noch immer Gefahr, strafrechtlich verfolgt zu werden – denn außerehelicher sowie gleichgeschlechtlicher Sex stehen unter Strafe. Die Umstände spielen dabei keine Rolle. "Wir haben auch die Verantwortung, Amina würdig in Erinnerung zu behalten, indem wir sicherstellen, dass niemand das durchmachen muss, was sie erlitt", so Hassiba Hadj Sahraoui.

Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin.

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