Amnesty Journal Nicaragua 15. März 2011

Das Schweigen brechen

In Nicaragua sind minderjährige Mädchen in besonders ­hohem Maße von sexueller Gewalt betroffen. Doch bitten die Opfer um Hilfe, stoßen sie auf Ignoranz und
Ablehnung.

Von Murielle Mervielle

Seit ihrem neunten Lebensjahr wurde Connie* von ihrem Vater sexuell missbraucht. Als sie mit 14 von ihm schwanger wurde und sich daraufhin an die nicaraguanischen Behörden wandte, beging ihr Vater Selbstmord. Doch der Leidensweg des Mädchens war damit noch nicht zu Ende. "Meine Familie sagte, ich wäre schamlos, dass ich meinen Vater verführt hätte, um ihn meiner Mutter wegzunehmen. Sie jagten mich aus dem Haus und sprachen nie wieder mit mir", berichtet die heute 17-Jährige.

Weil Gewalt in der Familie und sexueller Missbrauch von Frauen und Mädchen in Nicaragua Tabuthemen sind, werden die Opfer häufig zu Tätern gemacht. Wenn sie von ihren Qualen erzählen, müssen sie damit rechnen, von ihren Familien verstoßen und von der Gesellschaft stigmatisiert zu werden. Das führt dazu, dass es bei diesen Straftaten eine hohe Dunkelziffer gibt. "Jeden Tag leiden Mädchen in Nicaragua lieber still unter sexueller Gewalt, als die Ablehnung zu riskieren", sagt dazu Esther Major, Nicaragua-Expertin bei Amnesty International.

Das belegt auch ein Amnesty-Bericht über sexuelle Gewalt in Nicaragua, der im November 2010 veröffentlicht wurde. Polizeistatistiken zufolge gab es zwischen 1998 und 2008 mehr als 14.000 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen – mehr als zwei Drittel der Opfer waren jünger als 17 Jahre und 90 Prozent der Täter waren Familienangehörige.

Die Reaktionen von Polizei und Justiz auf Fälle sexueller Gewalt spiegeln die Einstellung der Gesellschaft wider. So stellt der Amnesty-Bericht fest, dass die Polizei nach einer gemeldeten Vergewaltigung oft Tage oder Wochen verstreichen lässt, bevor sie aktiv wird. Bevor ein Fall vor Gericht gehen kann, müssen die Opfer von der Gerichtsmedizin untersucht werden. Doch die Kosten für die Fahrt dorthin können Mädchen aus armen Familien und ländlichen Gegenden nur schwer aufbringen. Knapp die Hälfte der insgesamt fünf Millionen Einwohner Nicaraguas lebt unter der Armutsgrenze.

Auch existieren im ganzen Land nur elf Einrichtungen, in denen die Opfer Zuflucht finden und ihre Erlebnisse aufarbeiten können. Diese Anlaufstellen werden ausschließlich von NGOs getragen. Amnesty hat die Regierung von Nicaragua aufgefordert, sicher­zustellen, dass die erlebte Gewalt nicht das ­gesamte restliche Leben der Opfer bestimmt. "Die Regierung muss ein klares Zeichen setzen, dass sexuelle Gewalt niemals die Schuld des Opfers ist, dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden und dass den Opfern die Hilfe zukommt, die sie benötigen", erklärt Esther Major.

Die nicaraguanischen Behörden haben seit 2001 keine neuen Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt entwickelt. Stattdessen schaffte die Regierung 2007 die "Nationale Kommission für umfassende Betreuung und Schutz für Kinder" (CONAPINA) ersatzlos ab. Außerdem wurde 2006 ein Gesetz verabschiedet, das Abtreibung unter allen Umständen verbietet und unter schwere Strafe stellt – selbst wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist oder das Leben der Mutter gefährdet.

Das Gesetz zwingt Frauen und Mädchen dazu, Abtreibungen heimlich vornehmen zu lassen, was mit einem hohen gesundheitlichen Risiko verbunden ist. "Oft ist die Schwangerschaft gefährlich für junge Mädchen, weil ihr Körper nicht ausreichend entwickelt ist", erklärt ein auf Vergewaltigungsopfer spezialisierter Psychologe aus Nicaragua. "Auch werden viele von ihrer Familie verstoßen, weil sie für das, was ihnen widerfahren ist, verantwortlich gemacht werden. Häufig sehen die Mädchen in dieser Situation keinen anderen Ausweg mehr als Selbstmord."

Bereits fünf verschiedene UNO-Ausschüsse haben die nicaraguanischen Behörden aufgefordert, Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Frauen zu ergreifen und das restriktive Abtreibungsgesetz zurückzuziehen. Bislang jedoch ohne Erfolg.
Connie fand bei einer NGO in Managua Unterstützung. "Ich habe jetzt Termine mit einer Psychologin und habe viele andere Mädchen getroffen. Wir hörten einander zu, es war schön", erzählt sie. "Hier habe ich Frieden und neue Freunde gefunden. Und ich habe es geschafft, ein wenig aus der Dunkelheit, die mich umgab, herauszukommen."

  • Name geändert

Die Autorin ist Medienwissenschaftlerin und lebt in Hamburg.

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