Amnesty Journal 19. November 2010

Jenseits der Gönnergeste

Regisseur Tom Tykwer

Regisseur Tom Tykwer

Der deutsche Regisseur Tom Tykwer leitet in Nairobi Filmworkshops, in denen kenianische Künstler ihre Sicht der Dinge darstellen und eigene Erzählformen entwickeln. Nun ist das erste Ergebnis zu besichtigen: der Spielfilm "Soul Boy".

Zur Person

Tom Tykwer, geboren 1965, ist Filmregisseur, Dreh­buchautor, Produzent und – was eher unbekannt ist – Komponist. Seine Karriere begann er als Filmvorführer in Berlin. Zu seinen erfolgreichsten Filmen gehören "Lola rennt" und "Das Parfum – Geschichte eines Mörders". Tykwer engagiert sich unter anderem für Amnesty ­International.

Sie haben Ihren ersten Film in einem afrikanischen Land gedreht – und dann gleich in einem der größten Slums des Kontinents, in Kibera bei Nairobi. Wird es europäischen Filmemachern langweilig im Westen?
Na, ich hab den Film ja nicht gemacht! Ich habe nur einen Workshop geleitet und war sozusagen Pate. Mich interessieren die – wie soll ich sagen – ungehobenen Schätze, die es dort gibt.

Wie ist das zu verstehen?
Es ist für Künstler nicht immer leicht, sich in Kenia oder anderen afrikanischen Ländern über Medien zu äußern. Das sind Dinge, die Geld kosten. Meine Lebenspartnerin Marie Steinmann veranstaltet in Kibera über den Verein "One Fine Day" ­gemeinsam mit ihren Kollegen Kurse in bildender Kunst, Theater, Musik und Tanz. Dabei ist sie auf sehr viele sehr begabte Kinder gestoßen. Das war für mich ansteckend. Es ging mir darum, die Möglichkeiten junger Leute auszuloten: Gibt es eine originäre ostafrikanische Filmsprache? Oder eine spezifisch kenianische? Wie ist die Sicht der Leute auf die Dinge dort, wenn eine Kamera ins Spiel kommt?
Das ist durchaus eigennützig – denn man kann eine Menge lernen, wenn man aus einer ganz anderen Perspektive auf das Medium schaut.

Wie sieht der Kinofilm-Workshop aus?
Es ist ein zweiwöchiger Intensivkurs, zu dem wir vier bis acht Lehrer mitbringen – einen für Kamera, einen für Ausstattung, einen für Schnitt, einen für Regie, usw. An den Kursen nehmen sieben bis zehn ausgewählte Bewerber teil, dabei findet sich ­relativ schnell ein Team zusammen, mit dem man den Film ­machen kann.

Es verwundert, dass es solche Kurse nicht schon längst gibt …
Eine deutsch-kenianische Zusammenarbeit gibt es in der Tat erst jetzt in dieser ausgeprägten Form. Die Berlinale hat da viel Basisarbeit geleistet und vieles erst ins Bewusstsein gebracht. Da es oft an ökonomischen Möglichkeiten und Förderung mangelt, gibt es bislang eben verhältnismäßig wenig künstlerisch autonome Stimmen. Und genau die wollen wir entwickeln. Das Stichwort heißt Nachhaltigkeit. Ich habe von vielen Leuten in ­Kibera gehört, dass es immer wieder sozial und künstlerisch angehauchte Projekte gegeben habe, von Leuten, die sich eine Art Abenteuerurlaub leisteten mit afrikanischen Armen, damit sie sich selbst besser fühlten. Die Nachhaltigkeit solcher Initiativen erweist sich erst nach drei oder vielleicht sogar erst nach fünf Jahren. Unser Ziel ist es, einen kontinuierlichen Experimentierraum entstehen zu lassen.

Von Filmen aus Afrika wird in der Regel erwartet, dass sie soziale Konflikte und Bürgerkriege thematisieren. Hat das bei der Stoffentwicklung eine Rolle gespielt?
Ich würde das gerne aus der Diskussion heraushalten, denn damit wird die Idee der freiheitlichen künstlerischen Entwicklung häufig verunstaltet. Es gibt diese Vorstellung, dass es um Katastrophen gehen muss, wenn man in Afrika – zumindest südlich der Sahara – die Kunst fördern will. Das ist eine Überformung der Vorstellung, Afrika sei grundsätzlich mit Elend gleichzusetzen, Schönheit darf es nur geben, wenn die Weißen in ihren Camps dinieren oder auf Safari gehen. Afrika ist aber ein wunderschöner Kontinent. Auch die Menschen, die dort leben, genießen die Natur. Doch das wird so nie erzählt.
Es gibt auch in Nairobi eine vitale intellektuelle Mittelschicht – Leute, die in Kneipen zusammenhängen und rauchen und aussehen wie wir, wenn wir in Kneipen zusammensitzen. Das gibt es alles, kommt aber nirgendwo vor. Das sind nicht 50, das sind Tausende, und diese Menschen fühlen sich auf kultureller Ebene inexistent. Der nächste Film, den wir machen, spielt deshalb in der Theaterszene von Nairobi, wo man sich mit modernen Stoffen auf einem hohen Niveau auseinandersetzt. Das ist mir fast das Wichtigste: Dass sich diese Perspektive öffnet – und man weder die Mitleids- noch die Gönnergeste raushängen lässt.

Es geht also um eine gewisse Normalität, um den Alltag?
Ja. Der Film "Soul Boy" ist dafür ein gutes Beispiel. Natürlich bezieht sich jeder interessante Film in irgendeiner Weise auf die soziale Realität. Aber ich gehe nicht los und mache einen politischen Film, sondern ich erzähle. Und das ist das Bedürfnis von "Soul Boy": Es geht darum, Geschichten zu entwickeln, die aus dieser Welt erwachsen sind, in ihrer plausibelsten Form. Man muss diesen Kosmos einfangen, ohne ihn zu stark zu kommentieren. Kibera ist ein sehr kompaktes, komplexes soziales Gefüge, in dem nicht alle Leute ständig schlechte Laune haben, sondern in dem es tausend menschliche Aspekte gibt. Gerade die Jugendszene ist sehr vital und gutlaunig und liebevoll.

Der Film schildert die Probleme vor Ort verblüffend einleuchtend: Erstens wird ein Handy geklaut. Zweitens geht es um Schulden beim Vermieter …
Die Leute sind pleite, können die Miete für den Laden nicht ­zahlen … Überall auf der Welt haben die Menschen die gleichen Probleme.

Wie stellt sich für Sie Kenias Filmschaffen dar?
Es gibt eine vitale Filmproduktionswelt, sie ist im Low-Budget-Bereich angesiedelt und funktioniert hauptsächlich übers Fernsehen: Daily Soaps und andere Formate, die irre erfolgreich sind. Die haben eine ästhetische Normierung, fordern aber keine individuelle künstlerische Perspektive heraus. Uns geht es darum, den künstlerischen Film zu fördern. "Soul Boy" war der erste Workshop, nun folgt der zweite. Ab jetzt machen wir das jährlich.
Es gibt Millionen Menschen dort, die viele Filme sehen, das darf man nicht unterschätzen. Es gibt jede Menge Kinos, in denen bunte Programme laufen. Manchmal ist es nur ein Fernseher, der in der Mitte steht. Nachmittags laufen Fußballspiele, ­danach kommt ein Schwarzenegger-Film oder auch mal ein künstlerischer von Paul Thomas Anderson oder anderen. Die Kultur ist eben vielschichtig und unterschiedlich.
Ich möchte den Film als Medium stärken, damit die Menschen mehr Möglichkeiten bekommen, von sich zu erzählen, und das heißt ja im weiteren Sinne von ihrer sozialen Wirklichkeit und ihren Phantasien, vielleicht auch den trivialen Sehnsüchten. Ich glaube, das fehlt. Ich habe das Gefühl, Ostafrika ist so monothematisch zugekleistert in der medialen Öffentlichkeit, dass sich kaum noch jemand bewusst wird: Hier ist eine Welt, in der viele interessante Dinge passieren, jenseits von Elend und Hunger.

Besteht nicht die Gefahr, dass man etwas zerstört, indem man es abbildet?
Dieser Gedanke war mir immer schon fremd. Man findet einen erzählerischen Weg für die Welt, in der man lebt – das ist für mich eine Bereicherung. Ich wüsste nicht, was daran zerstörerisch sein soll. Es ist doch das Schönste, was es gibt, wenn die Menschen in der Lage sind, auf individuelle Weise ihre Welt zu beschreiben.

Fragen: Jürgen Kiontke

Infokasten: »Soul Boy«

One Fine Day e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der im Sommer 2008 von Marie Steinmann und Tom Tykwer ­gegründet wurde. Ziel des Vereins ist es, durch die Lehre von Kunstpraktiken und die Vermittlung ästhetischer Prinzipien Kindern und Jugendlichen in benachteiligten Regionen der Welt einen Zugang zu den Phantasie- und Entdeckungsräumen der Kunst zu ermöglichen.
In diesem Rahmen ist "Soul Boy" entstanden, der Debütfilm der ghanaisch-kenianischen Regisseurin Hawa Essuman. Die Produktionsleitung hatte der Regisseur Tom Tykwer. Gedreht wurde in Kibera, einem der größten Slums des afrikanischen Kontinents, einem Stadtviertel von Kenias Hauptstadt Nairobi. Der kenianische Autor Billy Kahora entwarf mit Tykwer das Konzept für den Film.
Der 14-jährige Abila (Samson Odhiambo), der mit seinen Eltern (Joab Ogolla, Lucy Gachanja) in Kibera lebt, findet eines Morgens seinen Vater krank und entrückt vor. Man habe ihm seine Seele geraubt, jammert dieser. Abila will ihm helfen und begibt sich auf die Suche nach einer möglichen Heilung. Er findet heraus, dass der Vater seine Seele bei einer Geisterfrau verspielt hat. So recht will der Junge daran nicht glauben, und macht sich auf die Suche nach der Hexe.
"Soul Boy" wurde 2008 in nur zwei Wochen mit Unterstützung der Deutschen Welle gedreht. Der Film lief auf verschiedenen Festivals, etwa der Berlinale. Am 2. Dezember kommt er in die deutschen Kinos.

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