Amnesty Journal Haiti 06. April 2010

Haiti: Leben nach dem Überleben

Valentine, Michel-Ange, Johanne und Anderson, die Sklavenkinder, über die ich im letzten Amnesty Journal berichtet habe, leben. Als ich sie fünf Tage nach dem Beben wiederfand, hatten sie seit drei Tagen nichts gegessen und ihren Durst mit Brackwasser gestillt. Weil es in Wharf Jérémie, dem Slum, in dem sie leben, keine mehrstöckigen Gebäude gab, war hier die Chance zu überleben relativ groß.

Sonst gibt es nicht viel Positives aus Haiti zu berichten. Nachdem am 12. Januar um 16.53 Uhr gut eine Minute lang der Boden unter der Hauptstadt Port-au-Prince und Umgebung bebte, stand kaum mehr ein Stein auf dem anderen. Mehr als 220.000 Menschen sind tot, über eine Million Haitianerinnen und Haitianer sind obdachlos geworden. Rund drei Millionen Menschen, ein Drittel der Gesamtbevölkerung, sind unmittelbar von dem Erdbeben betroffen.

Die Katastrophe hat aber noch eine andere Dimension. Auch Regierungsgebäude und städtische Behörden stürzten wie Kartenhäuser in sich zusammen. Minister und Verwaltungsbeamte sind unter den Trümmern gestorben. Fast alle öffentlichen Krankenhäuser sind zerstört. Die Schulen in der Erdbebenregion sind nur noch Trümmerhaufen. Haiti wird auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte finanzielle Hilfe aus dem Ausland für den Aufbau einer Infrastruktur benötigen. Der Staat, schon immer schwach, was den Schutz seiner Bürger angeht, ist kaum noch präsent. Haiti wird nur noch pro forma aus einem provisorischen Präsidentenbüro in einer Polizeistation in der Nähe des Flughafens regiert. De facto haben die USA und ihre Soldaten das Regiment übernommen.

Das größte Gefängnis der Stadt, in dem Tausende unter menschenunwürdigen Bedingungen eingepfercht waren, ist zerstört. Alle Gefangenen, darunter die Mehrzahl derer, die in den vergangenen Jahren wegen Menschenrechtsverbrechen inhaftiert und verurteilt worden waren, sind geflohen. Polizisten, so berichteten mir Passanten, nutzen die chaotischen Verhältnisse, um mit vermeintlichen oder tatsächlichen Plünderern und Dieben kurzen Prozess zu machen: Vier Personen, darunter eine Frau, wurden vor dem Zentralfriedhof in der Innenstadt von Port-au-Prince ­regelrecht hingerichtet. Niemand kümmerte sich darum, zwei Stunden später waren sie in einem Massengrab verscharrt.

Bei der Verteilung von Nahrung setzen sich immer wieder die Kräftigsten durch, Frauen und Kinder gehen oft leer aus. Weder die UNO-Blauhelmsoldaten noch die rund 11.000 US-Soldaten haben bisher garantieren können, dass Frauen und Kinder es ohne Kampf schaffen, genug Lebensmittel für das Überleben zu erhalten.

Nothilfe ist eine Sache. Die Aufbauhilfe, die jetzt dringend nötig ist, eine andere. Sie muss mehr sein, als nur über den Neubau von städtischen Behörden zu debattieren oder ein neues Regierungsviertel zu planen.

Valentine, Michel-Ange, Johanne und Anderson haben überlebt. Verbessert hat sich ihre Lebenssituation nicht. Sie müssen sich jetzt für ihre "Arbeitgeber" bei den Lebensmittelverteilungen anstellen. Von dem Reis, den Bohnen und dem Öl, das dort verteilt wird, bleibt für sie jedoch nur selten etwas. Und wenn beim Neuaufbau von Haiti ihre Rechte nicht ­gestärkt werden, dann wird sich daran auch nichts ändern.

Von Hans-Ulrich Dillmann.
Der Autor ist freier Journalist und lebt in der Dominikanischen Republik.

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