Amnesty Journal Japan 19. März 2021

Abgeurteilt

Eine Gruppe von Menschen steht im Boxring, ein Mann und eine Frau halten Blumen in der Hand

Vorläufig frei: Iwao Hakamada erhält eine Ehrenauszeichnung des ostjapanischen Boxsportverbands.

Die Verurteilungsrate in Kriminalfällen liegt in Japan bei über 90 Prozent. Nach Ansicht von Kritikern ist ein Grund dafür, dass Geständnisse in Verhören häufig erzwungen werden.

von Felix Lill

Ein halbes Jahrhundert hat Iwao Hakamada, ein ehemaliger Profiboxer aus dem Südosten Japans, auf die Vollstreckung seines Todesurteils gewartet. Im Sommer 1966 war er festgenommen worden, nachdem man ihn in einem brennenden Haus angetroffen hatte, in dem die Körper von vier erstochenen Menschen lagen. Nach 264 Stunden Verhör gestand der damals 30-jährige Hakamada die Tat, zog seine Aussage aber vor Gericht wieder zurück. Die verhörenden Polizisten hätten ihn geschlagen, ihm gedroht und sein Geständnis erzwungen, sagte Hakamada in der Verhandlung. Die Richter ließen sich davon aber nicht überzeugen und verhängten die Todesstrafe.

Der Prozess gegen Hakamada zählt zu den bekanntesten im Land und hat auch internationale Aufmerksamkeit erregt. Immer wiederwurde das Urteil kritisiert und angefochten. Zum Vorwurf des erzwungenen Geständnisses kam hinzu, dass die Beweise zusehends konstruiert erschienen. So sei die blutverschmierte Kleidung, die er getragen haben soll, zu klein für seinen Körper gewesen.

Gebeugter Gang, müder Blick

Im Jahr 2014 urteilte das Bezirksgericht von Shizuoka schließlich, dass der Fall erneut aufgerollt werden müsse und Hakamada aufgrund seiner langen Haftzeit vorläufig freizulassen sei. Die Frage der Wiederaufnahme ging durch mehrere Instanzen, bis der Oberste Gerichtshof Ende 2020 abschließend entschied, dass ein neues Verfahren zulässig sei. Nun wartet Iwao Hakamada auf einen erneuten Prozess. Er ist mittlerweile 85 Jahre alt, hat einen gebeugten Gang und einen müden Blick. Die jahrzehntelange Inhaftierung, davon die längste Zeit in Einzelhaft, haben ihn schwer gezeichnet.

In Japan ist jetzt der Streit neu aufgeflammt, ob hier einem Mann zu Unrecht ein Leben lang die Freiheit genommen wurde. Außerdem wird die Frage diskutiert, ob die Strafjustiz des Landes ein generelles Problem hat – denn in Japan werden Angeklagte mit einer Wahrscheinlichkeit von weit über 99 Prozent schuldig gesprochen.

"Sehr häufig ist dem Schuldspruch ein Geständnis vorausgegangen", sagt Lawrence Repeta, Rechtsprofessor an der Meiji-Universität in Tokio. Aber er sagt auch: "Es gibt eine hohe Zahl von Geständnissen, die in Wahrheit falsche Geständnisse sind." Mit anderen Worten: erzwungene Geständnisse – wie womöglich im Fall Hakamada.

Eine japanische Frau und ein japanischer Mann sitzen nebeneinander vor einem Amnesty-Banner.

Jahrzehnte im Gefängnis: Iwako Hakamada, links neben ihm seine Schwester Hideko Hakamada.

Auch Emi Suzuki, Sprecherin von Amnesty International in Japan, kritisiert diese Rechtspraxis. Es sei zwar ein Fortschritt, dass seit 2016 Verhöre per Video aufgenommen werden müssen, sagt sie. "Aber leider gilt dies nur für Fälle, für die Schöffengerichte zuständig sind. Es wird in der Regel nicht bei schweren Verbrechen angewendet, für die zum Beispiel die Todesstrafe verhängt werden kann. Das wichtige Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand haben Verdächtige bis heute nicht."

Nach japanischem Recht darf ein Verdächtiger bis zu 23 Tage lang ohne Anklage festgehalten und befragt werden. In dieser Zeit ist weder der Kontakt zu einem Rechtsbeistand noch zur Familie garantiert. Und nach Ablauf dieses Zeitraums ist eine erneute Festnahme wegen neuer Verdachtsmomente möglich. Nicht selten, sagen Kritiker, werde eine Festnahme durch die Staatsanwaltschaft von Anfang an so begründet, dass für eine eventuelle weitere Festnahme noch Verdachtsmomente übrigbleiben, sofern dies für das Herauslocken eines Geständnisses nötig sein sollte.

Der Fall des Carlos Ghosn

So verbrachte Carlos Ghosn, der einstige Chef der Autokonzerne Renault, Nissan und Mitsubishi, ab Herbst 2018 insgesamt 108 Tage in Haft. "Ghosn war zuerst Steuerhinterziehung und Untreue für einen bestimmten Zeitraum vorgeworden worden", sagt Setsuo Miyazawa, emeritierter Rechtsprofessor an der Aoyama Gakuin-Universität in Tokio. "Als Ghosn nach Ablauf einer Festnahmeperiode noch immer nichts gestanden hatte, wurde er mit demselben Verdacht, aber für einen anderen Zeitraum erneut festgenommen." Es sei schwer vorstellbar, dass diese Haftverlängerung nicht von vorneherein geplant gewesen sei.

Carlos Ghosn, der später spektakulär aus dem Land floh und seither von seinem Heimatland Libanon aus seine Unschuld beteuert, hielt den Verhörmethoden der japanischen Staatsanwaltschaft offenbar stand. Vielen anderen gelingt dies nicht.

UN-Beobachter haben das japanische Strafjustizsystem mit Verweis auf den Internationalen Pakt über politische und bürgerliche Rechte wiederholt deutlich kritisiert. Laut einem UN-Bericht von 2014 haben die Verhörkammern in den Polizeiwachen die Funktion von Gefängnissen – mit dem Unterschied, dass es noch gar keine schuldiggesprochene Person gibt. International sei das System einzigartig.

In Japan haben Verdächtige weiterhin kein Recht auf Zugang zu einem Anwalt.

Dimitri
Vanoverbeke
Rechtssoziologe und Professor für Japanologie

"Ein internationaler Vergleich, wie harsch die japanische Praxis nun ausfällt, ist schwierig", sagt Dimitri Vanoverbeke, Rechtssoziologe und Professor für Japanologie an der Universität Leuven in Belgien. So hänge die Menschlichkeit eines Rechtssystems manchmal stärker von ihrer praktischen Anwendung als von den Regeln ab, sagt Vanoverbeke."In Frankreich zeigt sich zum Beispiel, dass die Polizei Menschen häufig zunächst nicht formal festnimmt, sondern die Verdächtigen in einem lockeren Gespräch freiwillig befragt." Sofern Personen nicht über ihre Rechte informiert sind, könne dies für sie ein entscheidender Nachteil sein. Allerdings betont auch Vanoverbeke: "In Japan haben Verdächtige weiterhin kein Recht auf Zugang zu einem Anwalt."

Dabei gibt es auch in Japan Verbesserungen, auch wenn diese nicht besonders weitreichend sind. So wurde 2016 eingeführt, dass Verhöre per Video dokumentiert werden müssen. "Das ist grundsätzlich ein Schritt nach vorne", sagt Lawrence Repeta. "Aber die Regel betrifft nur einen kleinen Anteil aller Fälle." Bei Verdacht auf schwere Verbrechen wie Mord kann weiterhin unbeobachtet verhört werden. Auch deshalb versprechen sich Kritiker der japanischen Strafjustiz etwas von der Wiederaufnahme des Falls Iwao Hakamada: Man könnte mehr darüber erfahren, ob der damals junge Mann zu seinem Geständnis gezwungen wurde.

Felix Lill ist freier Südostasien-Korrespondent. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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