Amnesty Report Nepal 08. Juni 2016

Nepal 2016

 

Nach dem verheerenden Erdbeben am 25. April 2015 wurde innerhalb weniger Monate eine neue Verfassung verabschiedet, die im September 2015 in Kraft trat. Sie wies zahlreiche Defizite in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte auf und sah eine föderalistische Staatsstruktur vor, die von den ethnischen Gruppen in der Terai-Region abgelehnt wurde. Gewalttätige Zusammenstöße zwischen Protestierenden und der Polizei führten zu mehr als 50 Toten. Durch eine ungleiche Verteilung der Katastrophenhilfe nach dem Erdbeben wurden marginalisierte Gruppen benachteiligt, und in allen betroffenen Gebieten kam es zu Verzögerungen beim Wiederaufbau. Diskriminierung, u. a. aufgrund von Geschlecht, Kaste, Gesellschaftsschicht, ethnischer Zugehörigkeit und Religion, war nach wie vor weit verbreitet.

Hintergrund

Am 25. April 2015 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,8 Nepal, auf das Hunderte von Nachbeben folgten. Bis Oktober 2015 verzeichnete das Innenministerium 8856 Tote und 22 309 Verletzte durch das erste Erdbeben. Insgesamt 602 257 Häuser wurden als vollständig und weitere 285 099 als teilweise zerstört gemeldet; mehr als 100 000 Personen mussten monatelang in Notlagern leben. Medizinische Grundversorgungsleistungen waren für viele nur schwer oder überhaupt nicht zugänglich, und die Lebensmittelversorgung war instabil.

Der Verfassunggebenden Versammlung gelang es nicht wie zugesichert, bis zum 22. Januar 2015 eine neue Verfassung zu verabschieden. Sie einigte sich dann jedoch nach dem Erdbeben in kurzer Zeit auf eine Fassung, die im September 2015 in Kraft trat. Gruppen der Madhesi und Tharu organisierten häufig gewalttätige Demonstrationen, um gegen das in der neuen Verfassung enthaltene Föderalismusmodell zu protestieren. Die Sicherheitskräfte gingen mit Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Ab der dritten Septemberwoche 2015 wurden Lkw mit Treibstoff, Nahrungsmitteln und Medikamenten an der indischen Grenze aufgehalten, was zu erheblichen Engpässen führte.

Gesetzliche, verfassungsrechtliche und institutionelle Entwicklungen

Der im Juli 2015 zur öffentlichen Konsultation vorgelegte Verfassungsentwurf sorgte für starke Bedenken hinsichtlich der Menschenrechte, da die Rechte von Frauen und marginalisierten Gemeinschaften, wie den Dalits, darin unzureichend geschützt wurden. Große Besorgnis weckten auch die bürgerrechtlichen Bestimmungen, die alleinstehende Frauen und gleich-geschlechtliche Paare diskriminierten, sowie Bestimmungen zu Religions- und Meinungsfreiheit, zum Zugang zur Justiz, zur Präventivhaft, zu sexuellen und reproduktiven Rechten und Kinderrechten. Während der öffentlichen Konsultation gingen etwa 40 000 Empfehlungen von Menschenrechtsorganisationen und aus der Öffentlichkeit bei der Verfassunggebenden Versammlung ein. Diese nahm jedoch nicht die notwendigen Änderungen vor, sodass wichtige Bedenken in der endgültigen Fassung, die am 20. September 2015 verabschiedet wurde, unberücksichtigt blieben.

Am 8. August 2015 einigten sich vier der wichtigsten Parteien darauf, Nepal in der neuen Verfassung als föderale Republik zu definieren und in sieben föderal verwaltete Bundesstaaten aufzuteilen. Ethnische Gruppen im Süden und mittleren Westen von Nepal protestierten gegen die neue Struktur, die ihnen ihrer Meinung nach die politische Repräsentanz verweigerte. In der Folge kam es zu gewalttätigen Protesten in der Terai-Region. Die Sicherheitskräfte wendeten bei mehreren Zusammenstößen mit Protestierenden exzessive, unverhältnismäßige oder unnötige Gewalt an. Bis Oktober 2015 waren mindestens 47 Zivilpersonen und zehn Polizeiangehörige bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben gekommen.

Straflosigkeit

Am 26. Februar 2015 erklärte der Oberste Gerichtshof Bestimmungen zur Empfehlung von Amnestien bei völkerrechtlichen Straftaten, die im Gesetz zur Einsetzung einer Kommission für Wahrheit und Versöhnung festgeschrieben waren, für rechtswidrig. Das Gesetz war im April 2014 von der Verfassunggebenden Versammlung verabschiedet worden. Die Regierung lehnte das Urteil des Obersten Gerichtshofs ab und reichte einen Antrag auf Überprüfung ein. Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung und die Kommission zur Untersuchung von Fällen des Verschwindenlassens, die durch das Gesetz von 2014 geschaffen wurden, nahmen trotz der Amnestiebestimmungen ihre Tätigkeit auf und riskierten so die weitere Straffreiheit für Verantwortliche von Völkerrechtsverbrechen, die während des bewaffneten Konflikts begangen worden waren.

Bemühungen, die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen zu gewährleisten, wurden auch weiterhin dadurch stark untergraben, dass die Polizei die zur Einleitung von Ermittlungen erforderlichen Berichte (First Information Reports) nicht anfertigte, keine Untersuchungen einleitete und gerichtliche Anweisungen nicht befolgte. Dies galt selbst in Fällen von mutmaßlichen außergerichtlichen Hinrich-tungen, Menschenhandel, geschlechtsspezifischer Gewalt sowie von Folter und anderen Misshandlungen.

Rechte von Arbeitsmigranten

2015 migrierten etwas über eine halbe Million Nepalesen über offizielle Wege ins Ausland, um dort vor allem in der Baubranche, in der Produktion oder als Hausangestellte gering qualifizierten Tätigkeiten nachzugehen. Nach wie vor wurden viele Arbeitsmigranten von Arbeitsagenturen und Arbeitsvermittlern zum Zweck der Ausbeutung und Zwangsarbeit vermittelt. Die Arbeiter wurden von den Vermittlern hinsichtlich Entlohnung und Arbeitsbedingungen getäuscht und mussten Vermitt-lungsgebühren zahlen, obwohl die Regierung kostenlose Visa gewährte, um Arbeitsmigranten die kostenfreie Reise ins Ausland zu ermöglichen. Frauen unter 30 war es gesetzlich verboten, in die Golfstaaten zu migrieren, um dort zu arbeiten. Obwohl dieses Gesetz dazu gedacht war, Frauen zu schützen, bedeutete es, dass viele gezwungen waren, auf anderen – informellen – Wegen Arbeit zu finden. Dadurch erhöhte sich das Risiko von Ausbeutung und Missbrauch. Nach dem Erdbeben im April 2015 war es für Arbeitsmigranten in den Golfstaaten, Malaysia und anderen Ländern schwierig, zu ihren Familien nach Nepal zurückzukehren.

Folter und andere Misshandlungen

Nach wie vor waren, vor allem während der Untersuchungshaft, Folter und andere Misshandlungen durch die Polizei weit verbreitet, um "Geständnisse" zu erzwingen und Personen einzuschüchtern. Im Anschluss an die gewalttätigen Proteste gegen die neue Verfassung in der Terai-Region stieg die Zahl der Berichte über Personen, die in Untersuchungshaft genommen wurden, stark an.

Die Verfassunggebende Versammlung hatte auch 2015 weder ein Gesetz erlassen, mit dem Folter definiert und unter Strafe gestellt wurde, noch hatte sie das Strafgesetz und die Strafprozessordnung gemäß internationalen Rechtsvorschriften und Standards reformiert. Ein Gesetzentwurf, der Folter unter Strafe stellte, lag der Verfassunggebenden Versammlung vor. Er entsprach jedoch nicht internationalen Standards, da er den Tatbestand von Folter und anderen Misshandlungen auf den Polizeigewahrsam beschränkte, Strafen für Täter und Wiedergutmachungsleistungen für Opfer einschränkte und vorsah, dass Anzeigen wegen solcher Straftaten innerhalb von 90 Tagen erstattet werden müssen.

Schutz der Menschenrechte nach dem Erdbeben

Es bestand die Sorge, dass die Hilfsmaßnahmen nicht alle von dem Erdbeben betroffenen Bevölkerungsteile gleichermaßen erreichten und vor allem die Bedürfnisse marginalisierter Gruppen nicht gedeckt wurden. Berichte Überlebender ließen auf zahlreiche Fälle von Diskriminierung bei der Verteilung von Hilfsgütern aufgrund von Kastenzugehörigkeit, sozioökonomischem Status und Geschlecht schließen.

Im Juni 2015 weigerte sich die Regierung, bei Hilfslieferungen auf kostenaufwändige und zeitraubende Zollverfahren zu verzichten. Diese Entscheidung erhöhte das bereits beträchtliche Risiko, dass betroffenen Bevölkerungsteilen der Zugang zu der dringend benötigten Hilfe verwehrt blieb. Bis Oktober 2015 hatte die Regierung weder die staatliche Behörde für den Wiederaufbau eingerichtet noch die am 25. Juni 2015 auf der Geberkonferenz für den Wiederaufbau nach dem Erdbeben zugesagten 4,1 Mrd. US-Dollar ausgegeben.

Ende 2015 waren die Rechte der von den Erdbeben betroffenen Bevölkerung auf grundlegende Versorgungsleistungen wie angemessene Unterkünfte, Nahrung, Wasser und sanitäre Einrichtungen sowie auf Freizügigkeit, darunter der Schutz vor der Zwangsumsiedlung vertriebener Personen, nach wie vor gefährdet.

Diskriminierung

Es kam weiterhin zu Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht, Kaste, Gesellschaftsschicht, ethnischer Zugehörigkeit und Religion. Das Gesetz gegen Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit aus dem Jahr 2011 fand nur in einer kleinen Anzahl von Fällen Anwendung, da es nur wenig bekannt war und die Opfer Angst hatten, Übergriffe zur Anzeige zu bringen.

Frauen aus marginalisierten Gruppen, darunter Dalits und in Armut lebende Frauen, waren von Mehrfachdiskriminierung betroffen und daher besonders gefährdet. Die Gesetze gegen Vergewaltigung waren nach wie vor unzureichend und zeugten von einer diskriminierenden Einstellung gegenüber Frauen. Darüber hinaus machte die geschlechtsspezifische Diskriminierung es Frauen und Mädchen schwer, ihre sexuellen und reproduktiven Rechte wahrzunehmen. Dies betraf auch Entscheidungen bezüglich der Verwendung von Verhütungsmit-teln. Außerdem erschwerte die Diskriminierung es ihnen, sich gegen Frühverheiratung zu wehren, eine angemessene prä- und postnatale Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen und Zugang zu ausreichend nährstoffreicher Nahrung zu erhalten. Zudem waren sie durch häusliche Gewalt, auch in Form der Vergewaltigung in der Ehe, gefährdet. Eine Folge war, dass Frauen und Mädchen nach wie vor häufig unter einer Gebärmuttersenkung litten, oft bereits in jungem Alter.

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