Amnesty Report Kanada 01. Juni 2016

Kanada 2016

 

Umfassende Reformen der nationalen Sicherheitsgesetze riefen Befürchtungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Menschenrechte hervor. Nach einem Regierungswechsel wurde der Vorbereitungsprozess für die seit langem geforderte öffentliche Untersuchung von Fällen vermisster und ermordeter indigener Frauen und Mädchen eingeleitet. Die Regierung verpflichtete sich zudem, Lösungen für eine Reihe weiterer Menschenrechtsprobleme zu suchen.

Rechte indigener Bevölkerungsgruppen

Im Juni 2015 legte die Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) den Abschlussbericht über ihre zwischen Juni 2010 und Juni 2015 durchgeführte Untersuchung zu den Zuständen in den obligatorischen Internatsschulen für die Kinder indigener Gemeinschaften (Indian Residential Schools) vor. Eine der Schlussfolgerungen lautete, dass Kanadas Internatsschulsystem für die Kinder der indigenen Bevölkerungsgruppen einen "kulturellen Völkermord" darstelle. Der Bericht machte auch weitreichende Vorschläge, um indigene Gemeinschaften wieder zu stärken und weiteren Schaden von indigenen Kindern abzuwenden.

Im Juli 2015 wurde in der Provinz British Columbia mit dem Bau des Wasserkraftwerks Site C begonnen, ohne dass dabei die Auswirkungen auf die Rechte der indigenen Bevölkerungsgruppen berücksichtigt wurden.

Gleichfalls im Juli 2015 forderte der UN-Menschenrechtsausschuss Kanada auf, innerhalb eines Jahres einen Bericht über die Fortschritte vorzulegen, die bei der Eindämmung der Gewalt gegen indigene Frauen und Mädchen und dem Schutz der Landrechte der indigenen Bevölkerung erzielt wurden.

Ein Einspruch gegen die Entscheidung der kanadischen Regierung, die Realisierung des Pipeline-Projekts Northern Gateway (Rohrleitung zum Transport von Schweröl aus Ölsanden zwischen der Provinz Alberta und der Küste von British Columbia) im Norden von British Columbia zu genehmigen, war Ende 2015 noch anhängig. Die Genehmigung war erfolgt, obwohl sich viele der indigenen Bevölkerungsgruppen gegen das Bauvorhaben ausgesprochen hatten, weil sie befürchteten, dass das Projekt negative Auswirkungen auf ihre lebensnotwendigen Land- und Wasserressourcen haben könnte.

Das seit 14 Monaten erwartete Urteil des Kanadischen Gerichts für Menschenrechte (Canadian Human Rights Tribunal) in einem im Jahr 2008 aufgenommenen Verfahren war Ende 2015 weiterhin anhängig. Gegenstand des Verfahrens war der Vorwurf, dass die Regierung die Kinder der indigenen Gemeinschaften der First Nations diskriminiere, indem sie keine ausreichenden Finanzmittel für den Schutz dieser Kinder bereitstelle.

Frauenrechte

Im März 2015 stellte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau fest, dass die kanadische Polizei und das Justizsystem dabei versagt hatten, indigene Frauen wirksam vor Gewalt zu schützen, Täter zur Rechenschaft zu ziehen und Wiedergutmachung für die Opfer sicherzustellen.

Nach dem Regierungswechsel wurden im Dezember 2015 Vorbereitungen für eine öffentliche Untersuchung über Gewalt gegen indigene Frauen und Mädchen eingeleitet. Die Untersuchung sollte 2016 beginnen.

Antiterror- und Sicherheitsmaßnahmen

Im Mai 2015 wurde der kanadische Staatsangehörige Omar Khadr auf Kaution freigelassen, bis über ein in den USA anhängiges Rechtsmittel gegen seinen Schuldspruch entschieden sein würde. Omar Khadr war als 15-Jähriger in das US-Gefangenenlager in Guantánamo Bay gebracht und dort zehn Jahre lang festgehalten worden, bevor er im Jahr 2012 im Rahmen eines Abkommens zum Gefangenentransfer nach Kanada rückgeführt wurde. Ebenfalls im Mai 2015 urteilte der Oberste Gerichtshof Kanadas, dass Omar Khadr im kanadischen Strafrechtssystem als Minderjähriger zu behandeln sei.

Im Juni 2015 trat das Antiterrorgesetz in Kraft. Es erweiterte die Befugnisse der kanadischen Regierungsbehörden, ohne angemessene Sicherheitsvorkehrungen Informationen über Personen auszutauschen, und erlaubt dem kanadischen Inlandsgeheimdienst (Canadian Security Intelligence Service – CSIS), Maßnahmen zu ergreifen, um Gefahren für die nationale Sicherheit einzudämmen – selbst dann, wenn durch solche Maßnahmen Rechte verletzt werden. Das neue Gesetz führte als neuen Straftatbestand Äußerungen der Befürwortung oder Förderung "terroristischer Verbrechen im Allgemeinen" ein, wodurch das Recht auf Meinungsfreiheit untergraben wird. Zum Jahresende war noch ein Rechtsmittel gegen das Antiterrorgesetz anhängig, und die neue Regierung verpflichtete sich, einige Bestimmungen des Gesetzes zu revidieren.

Die Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen die im Jahr 2014 verabschiedeten Reformen des Staatsbürgerschaftsgesetzes stand noch aus. Die Änderungen ermöglichten es, Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft, die wegen Terrorismus oder anderer Straftaten verurteilt wurden, die kanadische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Die neue Regierung kündigte an, die Reformen zurückzunehmen.

Justizsystem

Im September 2015 stellte die Polizei Kanadas (Royal Canadian Mounted Police – RCMP) einen Strafantrag gegen einen Angehörigen des syrischen militärischen Geheimdienstes wegen Folter im Fall des kanadischen Staatsbürgers Maher Arar, der nach seiner rechtswidrigen Überstellung durch die USA zwischen 2002 und 2003 widerrechtlich in Syrien inhaftiert war. Dies war der erste Fall einer in Kanada erstatteten Strafanzeige wegen Folter in einem anderen Land.

Zwei Gerichtsverfahren wegen der weitverbreiteten Praxis der Isolationshaft waren noch nicht abgeschlossen.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Im Oktober 2015 tauchten Berichte auf, denen zufolge Regierungsbeamte im Sommer während mehrerer Wochen die Bearbeitung der Anträge syrischer Flüchtlinge auf Feststellung des Flüchtlingsstatus ausgesetzt und die Fälle mit dem Ziel überprüft hatten, Flüchtlingen Priorität einzuräumen, die ethnischen und religiösen Minderheiten angehörten, Geschäfte geführt hatten und fließend Englisch oder Französisch sprachen. Im November 2015 kündigte die neue Regierung einen Plan zur dauerhaften Aufnahme (Resettlement) von 10 000 syrischen Staatsangehörigen bis zum Ende des Jahres 2015 an, mit dem Ziel, bis Anfang 2016 insgesamt 25 000 Resettlement-Plätze anzubieten. Bis Ende 2015 waren 6000 syrische Staatsangehörige in Kanada eingetroffen.

Im Juli 2015 rief der UN-Menschenrechtsausschuss Kanada dazu auf, innerhalb eines Jahres über eine Reihe von Menschenrechtsproblemen, denen Migranten und Flüchtlinge ausgesetzt waren, Bericht zu erstatten.

Gleichfalls im Juli 2015 verwarf der Bundesgerichtshof die Liste der "designierten Herkunftsländer". Auf der Grundlage dieser Liste war geflüchteten Antragstellern aus "sicheren" Herkunftsländern das Recht auf Anfechtung abgelehnter Anträge auf Erteilung des Flüchtlingsstatus verweigert worden.

Im August 2015 wurde der kamerunische Staatsangehörige Michael Mvogo aus Kanada abgeschoben. 13 Monate zuvor hatte die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen gefordert, dass er aus der unbefristeten Haft entlassen werden solle.

Die neue Regierung kündigte im November 2015 an, dass sie die Kürzungen der Bundesmittel zur Finanzierung des Vorläufigen Föderalen Gesundheitsprogramms für Flüchtlinge und Antragsteller auf den Flüchtlingsstatus rückgängig machen und die medizinische Grundversorgung für diesen Personenkreis wiederherstellen wolle.

Unternehmensverantwortung

Im Februar 2015 setzten Behörden des Bundes und der Provinzen eine gemeinsame Untersuchung in Gang, die feststellen soll, ob das Unternehmen Imperial Metals Corporation (IMC) im Zusammenhang mit dem Bruch des Damms eines Abwasserstausees ihrer Gold- und Kupfermine Mount Polley im Jahr 2014 gegen Gesetzesbestimmungen verstoßen hat. Die Umweltkatastrophe spülte 24 Mio. Kubikmeter toxisches Abraumwasser in fischreiche Wasserwege.

Im Mai 2015 erschien der vierte Jahresbericht über die Auswirkungen des kanadischen Freihandelsabkommens mit Kolumbien auf die Menschenrechte. Die gravierenden Menschenrechtsprobleme der Bevölkerung Kolumbiens wurden in dem Bericht erneut nicht behandelt, darunter schwere Verstöße gegen Angehörige indigener und afro-kolumbianischer Gemeinschaften und gegen Menschen, die in Gebieten lebten, wo es Investitionsprojekte zur Rohstoffgewinnung gab.

Im Oktober 2015 unterzeichnete Kanada als eines von zwölf Ländern das Abkommen über eine Transpazifische Partnerschaft (TPP). Das umfangreiche neue Freihandelsabkommen enthält keine Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte.

Zum Jahresende 2015 waren vor kanadischen Gerichten noch fünf Verfahren anhängig, die zum Ziel hatten, die kanadischen Mutterunternehmen für die Folgeschäden von Menschenrechtsverletzungen bei Bergbauaktivitäten in Eritrea und Kolumbien haftbar zu machen.

Entwicklungen in Justiz, Verfassung und Institutionen

Eine Gesetzesvorlage, mit der die Geschlechtsidentität als Diskriminierungsverbot in das kanadische Menschenrechtsgesetz und in die strafrechtlichen Bestimmungen zu Hassverbrechen aufgenommen werden soll, war vor der Sitzungspause des Parlaments im Vorfeld der Unterhauswahlen vom Senat noch nicht verabschiedet worden.

Trotz wiederholter Aufforderungen hat die kanadische Regierung bislang weder den internationalen Vertrag über den Waffenhandel noch das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter ratifiziert.

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