Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 06. April 2020

Waffen hamstern

Vor einem US-amerikanischen Waffenladen bildet sich eine lange Schlange von Menschen, die stehend oder sitzend warten.

Waffenverkäufer in den USA verzeichnen in der Corona-Krise Rekordumsätze. Es scheint ganz so, als könne man das Virus erschießen.

Von Bernd Pickert

Die US-Amerikaner rüsten auf. Seit die Corona-Krise Mitte März auch im öffentlichen Bewusstsein der USA angekommen ist und erste Gemeinden und Bundesstaaten begonnen haben, das öffentliche Leben herunterzufahren, boomen die Waffenkäufe.  Die Bundespolizei FBI, die für obligatorische Backgroundchecks in lizensierten Waffengeschäften zuständig ist, verzeichnete von Ende Februar bis Ende März eine Rekordzahl von 3,7 Millionen Anträgen.

Die Anzahl der gekauften Waffen dürfte allerdings noch wesentlich höher liegen: Zum einen, weil auch für den Kauf mehrerer Waffen nur ein Antrag notwendig ist, zum anderen, weil bei Privatverkäufen, beim Internetversandhandel und bei Käufen auf Waffenmessen keine solchen Abfragen stattfinden.

Auch wer bereits eine Waffe besaß, hat offenbar nachgerüstet: Der Online-Händler für Munition ammo.com berichtete von einer Steigerung der Munitionsverkäufe um 792 Prozent.

Die Steigerung beim Run auf die Schusswaffen ist nur mit dem Januar 2013 vergleichbar: Da fürchteten viele US-Amerikaner, es könne bald enger werden mit dem freien Kauf von Schusswaffen. Präsident Barack Obama, ein erklärter Unterstützer schärferer Waffenkontrollgesetze, war damals gerade wiedergewählt worden, das Schulmassaker von Sandy Hook hatte die nationale Debatte über Gesetzesverschärfungen erneut angefacht.



Woher kommt der Ansturm?

Eine ähnliche Motivation dürfte hinter dem jetzigen Run auf die Waffenläden stehen. Bei den US-Demokraten etablierte sich Ende Februar Obamas früherer Vizepräsident Joe Biden als Favorit für die Präsidentschaftskandidatur, und auch der gilt als strikter Verfechter schärferer Waffengesetze.

Aber das allein erklärt den Ansturm nicht: Es ist vielmehr die Corona-Krise, die die Menschen zum Waffenkauf treibt – ganz so, als ob sie das Virus erschießen könnten. "Angst und Ungewissheit lässt viele Leute Waffen kaufen", sagt die Strafrechtsprofessorin Lacey Wallace von der Penn State Altoona University. "Der wichtigste Grund, warum Leute Waffen kaufen und besitzen wollen, ist persönlicher Schutz. Wenn sie in den Nachrichten sehen, dass alles dichtgemacht wird und das Virus sich ausbreitet, schafft das eine Menge Unsicherheit", sagte sie der Huffington Post.

Das reflektiert auch ein Narrativ, das allen dystopischen Serien und Hollywood-Filmen gleich ist: Ob nun in der Zombie-Apokalypse oder in einem umweltbedingten filmisch inszenierten Weltuntergang: Wer letztlich mit seiner Familie eine Überlebenschance haben will, braucht Waffen, um sich nach dem Staatszerfall im Kampf um die knappen Ressourcen durchsetzen zu können.



Gefährliches Narrativ

Dieses Narrativ hat die Trump-Regierung Ende März sogar noch befördert: In einem Memorandum der Heimatschutzbehörde über Wirtschaftszweige und Berufsbilder, die während der Pandemie dringend aufrecht erhalten werden müssen, finden sich – wie überall auf der Welt – das Gesundheitswesen, die Sicherheitsbehörden, Apotheken und der Lebensmittelhandel, aber eben auch Waffengeschäfte.

Das ist rechtlich zwar nicht bindend, weil die Ausgestaltung von pandemiebedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens den Bundesstaaten und Gemeinden obliegt. Aber überall dort, wo Gouverneure entschieden, im Zuge des öffentlichen "Lockdowns" müssten auch Waffengeschäfte schließen, wurden Klagen der Waffenlobby beflügelt. Und dank der Empfehlung aus Washington, Waffenläden als Teil der kritischen Infrastruktur zu betrachten, waren sie oft erfolgreich.

Die stärkste Organisation der Waffenlobby, die zuletzt von zahlreichen internen Skandalen und Konflikten geplagte National Rifle Association, tut derzeit alles, um den Druck zu erhöhen: Handreichungen an ihre Anhänger tragen Titel wie "Covid-19: Bedrohung des Zweiten Verfassungszusatzes" oder "Pandemie zeigt die Gefahr der sogenannten 'allgemeinen' Backgroundchecks".

Der 1791 verabschiedete zweite Verfassungszusatz, der eigentlich davon spricht, dass "das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden" dürfe, weil "wohlgeordnete Milizen die Sicherheit eines freien Staates gewährleisten", wurde spätestens seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofes von 2008 in ein allgemeines Individualrecht auf Waffenbesitz uminterpretiert. Für die Schusswaffenlobby ist das einer ihrer größten Erfolge: Sie wird nicht nur von Donald Trump uneingeschränkt unterstützt, dessen Wahlkampf sie 2016 mit 30 Millionen US-Dollar unterstützte, sondern von den meisten republikanischen Politikern.



Neue Todesfälle durch "Family Fire"

Anti-Schusswaffen-Organisationen – und selbst manche Waffenhändler – fürchten hingegen, dass der massenhafte Erwerb von Schusswaffen durch ungeübte Käufer das öffentliche Gesundheitswesens zusätzlich belasten könnte. Schon seit Jahren warnt etwa die Brady Campaign vor dem sogenannten "Family Fire": Unbeabsichtigte Todesfälle durch nicht sicher verwahrte Schusswaffen, die zum Beispiel von Kindern gefunden werden. Laut der Kampagne werden in den USA jeden Tag acht Minderjährige versehentlich verletzt oder getötet, weil Schusswaffen ihrer Eltern nicht oder nur unzureichend gesichert verwahrt werden.

In Zeiten, in denen Familien viele Wochen lang eng beieinandersitzen, um eine Infektion mit dem Coronavirus zu vermeiden, wird weltweit ein Anstieg innerfamiliärer Gewalt gegen Kinder und Frauen erwartet. Wenn dann noch Schusswaffen hinzukommen, kann das katastrophale Folgen haben, befürchten Kritiker der laschen US-Waffengesetze.

Krankenhäuser und Lokalpolitiker schlagen bereits Alarm. Mitte März forderte Baltimores Bürgermeister Jack Young die Bürger auf, die Waffen niederzulegen und wegen der Ausbreitung des Coronavirus zu Hause zu bleiben. Die Stadt brauche ihre Krankenhausbetten jetzt für Covid-19-Patienten und nicht für Opfer sinnloser Waffengewalt, sagte Young, nachdem am Vorabend sieben Menschen nach einer Schießerei eingeliefert worden waren. "An alle, die weiterhin in dieser Stadt auf Leute schießen wollen: Wir werden das nicht tolerieren. Wir werden euch verfolgen, wir werden euch kriegen."



"We need the beds"

Das klingt denkbar hilflos – als ob Mord, Totschlag und Körperverletzung vor Corona gar keine polizeilichen Ermittlungen ausgelöst hätten. Es ist die Verzweiflung eines Bürgermeisters, der weiß, dass die USA angesichts der grassierende Schusswaffengewalt de facto schon lange kapituliert haben. Schon jetzt kommen auf 100 Einwohner rund 120 Schusswaffen – wobei die Annahme von rund 400 Millionen Schusswaffen in Privatbesitz, die dieser Rechnung zugrunde liegt, eine Schätzung ist. Die allermeisten Waffen sind nicht registriert, die Dunkelziffer könnte daher noch höher sein.

In keinem anderen wohlhabenden Industrieland sterben jedes Jahr so viele Menschen an Waffengewalt: Für das Jahr 2019 nannte das Gun Violence Archive die Rekordzahl von 15.208 Toten. Dabei sind Suizide, die im Vorjahr bei über 24.000 lagen, nicht mitgezählt.

Mehr als 80.000 Menschen werden pro Jahr durch Schusswaffen verletzt, und jedes vierte Schusswaffenopfer muss auf die Intensivstation, schreibt Dr. Elinor Kaufman, Intensivmedizinerin aus Philadelphia in der New York Times. Zwar seien Straftaten im Allgemeinen in Zeiten der Ausgangssperren zurückgegangen, nicht aber die Zahl der Schussverletzungen. Sie könnten ihrer Einschätzung nach eher noch steigen – und wie die bereits jetzt überforderten Krankenhäuser damit klarkommen sollen, weiß sie nicht. Ihr Appell: "Please, stop shooting. We need the beds."

Der Autor ist Auslandsredakteur der taz.

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