Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 11. September 2023

Eine Begnadigung ist überfällig

Ein Mann um die 60 steht an einem Stehtisch, trägt eine Art Trainingsjacke, Schnurrbart und das Haar lang bis zur Schulter, an der Wand rechts von ihm hängen Zettel, Flyer.

Leonard Peltier sitzt seit mittlerweile 46 Jahren in den USA in Haft. Was mit gestohlenen Cowboystiefeln begann, beschäftigt bis heute Gerichte, Anwälte und Menschenrechtsorganisationen.

Von Sumit Bhattacharyya

In der Pine Ridge Reservation in South Dakota war Dick Wilson von 1972 bis 1976 Stammesvorstand. Die Bürgerrechtsbewegung American Indian Movement (AIM), die sich für die Rechte der nordamerikanischen indigenen Bevölkerung einsetzt, unterstützte Wilson anfangs. Sie überwarf sich aber mit ihm, als er eine Bürgerwehr gründete und politisch aktive Einwohner*innen von Pine Ridge einschüchterte oder sogar ermordete. Es kam zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Bürgerwehr, dem FBI und dem AIM. Mehr als 60 Menschen kamen innerhalb von vier Jahren zu Tode.

Und mittendrin: Leonard Peltier als Mitglied der AIM. Schon früh erlebte er die ungerechte Behandlung, die die indigene Bevölkerung in den USA erfuhr. Im Alter von neun Jahren wurde er 1953 gegen seinen und den Willen seiner Familie in ein Internat gebracht. In diesen vom Bureau of Indian Affairs geführten Schulen gehörten Gewalt und die Unterdrückung der indigenen Identität zum Alltag. Nach seiner Rückkehr litt er immer wieder unter Hunger, erlebte abermals Gewalt und Ungerechtigkeit. Diese Erfahrungen trugen zu seiner Politisierung bei, und so schloss er sich dem 1968 gegründeten AIM an. Die Organisation machte mit spektakulären Aktionen auf die miserable Situation der indigenen Bevölkerung aufmerksam. Die Besetzung der Gefängnisinsel Alcatraz in der Bucht von San Francisco sorgte 1969 weltweit für Schlagzeilen.

FBI sucht Cowboystiefel

Am 26. Juni 1975 stürmten zwei Mitarbeiter des FBI auf der Suche nach gestohlenen Cowboystiefeln ein AIM-Camp in der Pine Ridge Reservation. Im Camp brach Panik aus, da die Bewohner*innen Misshandlungen befürchteten. Einige Aktivist*innen griffen zu ihren Waffen, und es kam zu einem langen Schusswechsel, in dessen Verlauf die beiden FBI-Agenten Ronald Williams und Jack Coler sowie der Aktivist Joe Stuntz getötet wurden. Während niemals untersucht wurde, wer Joe Stuntz getötet hatte, wurde Leonard Peltier, der nach dem Schusswechsel nach Kanada geflohen war, vom FBI schnell als Täter präsentiert.

"Als ich die Akte las, wurde für mich offensichtlich, was passiert war und warum es niemals hätte passieren dürfen. Darum entschloss ich mich, Peltier kostenlos zu vertreten", sagt der Anwalt Kevin Sharpe. Aus seiner Sicht verstieß das Verfahren gegen Peltier aus mehreren Gründen gegen die US-Verfassung. So sei eine Zeugin massiv beeinflusst worden. Hauptbelastungszeugin war Myrtle Poor Bear, die ihre Aussage später widerrief und erklärte, sie sei eingeschüchtert worden und man habe ihr Gewalt angedroht, sollte sie Peltier nicht belasten. Tatsächlich war die Indigene, wie später bekannt wurde, zum Tatzeitpunkt gar nicht in Pine Ridge. Dennoch lieferte Kanada Peltier auf der Grundlage ihrer Falschaussage an die USA aus.

Entlastendes Gutachten verschwiegen

Die Tatsache, dass Myrtle Poor Bear ihre Aussage zurückzog, wurde den Geschworenen ebenso wenig bekannt gemacht wie ein entlastendes ballistisches Gutachten, das nachwies, dass die tödlichen Kugeln nicht aus Peltiers Waffe stammten. Ein Geschworener erklärte außerdem vor dem Prozess, er sei bei Indigenen voreingenommen. Trotzdem blieb er in der Jury.

Am 18. April 1977 wurde Peltier wegen Mordes zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt. "Die Prozessbeteiligten haben ihren Schwur auf die Verfassung gebrochen", sagt Kevin Sharpe. Peltiers Fall war schon umstritten, als er noch vor Gericht stand. Neben Amnesty International forderten auch die Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela und Desmond Tutu ein faires Verfahren für ihn.

Seine Familie wartet auf ihn, und er möchte seine verbleibende Zeit bei seiner Familie verbringen, bei seinen Kindern, Enkel*innen und Urenkel*innen. Genug ist genug.

Leonard Peltier sitzt seit mittlerweile 46 Jahren in Haft. Mehrere Berufungsverfahren und viele Gnadengesuche wurden abgelehnt, obwohl selbst eine Begnadigungskommission feststellte, die Staatsanwaltschaft habe keinen direkten Beweis für die Beteiligung an den Morden vorgelegt. "Das FBI ist gegen jede Begnadigung, und kein Präsident traut sich, gegen das FBI zu opponieren", sagt Anwalt Kevin Sharpe. Umso wichtiger sei öffentlicher Druck: "Der Präsident ist um die öffentliche Meinung besorgt. Das Weiße Haus muss wissen, dass Menschen schockiert sind über diese unfaire Prozessführung. Je mehr die Regierung merkt, dass es sich um ein wichtiges Thema handelt, desto wahrscheinlicher wird eine Begnadigung."

Die Zeit drängt, denn Peltier ist 78 Jahre alt und schwer krank. Er kann sich nur noch mithilfe eines Rollators fortbewegen, ist seit einem Schlaganfall auf einem Auge blind und hat ein Aneurysma, das sein Leben jederzeit beenden kann.

Sharpe ist überzeugt, dass auch Druck aus Deutschland wirken kann, da nur wenige Länder eine so enge Beziehung zu den USA pflegen. Briefe, Karten und Nachrichten an das Weiße Haus könnten helfen. "Peltier könnte nach Hause gehen. Seine Familie wartet auf ihn, und er möchte seine verbleibende Zeit bei seiner Familie verbringen, bei seinen Kindern, Enkel*innen und Urenkel*innen. Genug ist genug."

Sumit Bhattacharyya ist USA-Experte der deutschen Sektion von Amnesty International.

HINTERGRUND

Rassistischer Kolonialismus

Die Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents bedeutete für die indigene Bevölkerung von Beginn an Gewalt, Ausbeutung, Unterdrückung und Leid. Die europäischen Kolonisa­tor*in­nen propagierten die Überlegenheit und Vorherrschaft weißer Menschen. Viele Indigene fielen diesem Rassismus zum Opfer: Sie wurden von ihrem Land vertrieben, vergewaltigt oder ermordet. Im 19. Jahrhundert zwang die US-Regierung die meist nomadisch lebenden Stämme, in streng abgegrenzten Gebieten zu leben, die deutlich kleiner und meist auch weitaus ­unfruchtbarer waren als das Land, auf dem sie ursprünglich lebten. So entstanden die sogenannten Reservate als Internierungslager für ­indigene Menschen. Sie waren nichts anderes als Gefangenenlager, niemand durfte sie ohne Erlaubnis verlassen. Doch hielten sich mehrere US-Regierungen noch nicht einmal an bestehende Verträge, sondern verkleinerten die zugewiesenen Gebiete immer weiter. Teile davon wurden an Weiße verkauft oder zur Ausbeutung von Bodenschätzen genutzt.

Die strukturelle Diskriminierung, die die indigene Bevölkerung bis heute an den Rand drängt, führt dazu, dass die Einwohner*innen der Pine Ridge Reservation in South Dakota eine Arbeitslosenquote von 89 Prozent aufweisen. Die ganz überwiegende Mehrheit lebt in Armut und hat eine sehr geringe Lebenserwartung.

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