Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 24. August 2021

Rechte Eliten

Männer und Frauen sitzen und stehen auf einer Tribüne und hören einer Wahlkampfrede von Donald Trump zu, auf der Tribüne wehen US-Flaggen und im Hintergrund geht die Sonne unter.

Weltweit sorgen populistische Politiker_innen für die Aushöhlung von Demokratien. Doch wer verbreitet ihre Lügenbotschaften? In "Die Verlockung des Autoritären" sucht Anne Applebaum Antworten.

Von Wera Reusch

Anne Applebaum war eine der US-Intellektuellen, die während der Trump-Präsidentschaft immer wieder düstere Vorhersagen machte, die früher oder später exakt so eingetroffen sind. Die Historikerin und Publizistin hat sich intensiv mit Diktaturen beschäftigt, insbesondere mit dem Stalinismus, und kennt die Vorzeichen und Mechanismen autoritärer Herrschaft sehr genau.

In ihrem neuen Buch untersucht sie die Rolle einer ganz bestimmten Gruppe: Autor_innen, Intellektuelle, Blogger_innen und Meinungsmacher_innen, mit ihren Worten: "Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren." Diese Bildungselite ist ihrer Ansicht nach unabdingbar für die Aushöhlung der Demokratie.

Bemerkenswert an Applebaums Essay ist ihre Perspektive: Die 56-Jährige machte in den USA als Journalistin Karriere, unterrichtete an britischen Hochschulen und lebt seit Jahren in Polen. Sie bezeichnet sich selbst als konservativ und hat in den vergangenen Jahren erlebt, wie viele ihrer einstigen Freund_innen, Bekannten und Kolleg_innen mit einem "altmodischen Konservatismus" brachen und der "Verlockung des Autoritären" erlagen: "Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen." Beispiele dafür findet Applebaum in Polen und Ungarn, den USA und Großbritannien, aber auch in einem Land wie Spanien.

Persönliche Erfahrungen der Autorin

Bemerkenswert an dieser Gruppe ist, dass sie weder arm noch unterprivilegiert ist, kein Opfer politischer Umwälzungen wurde, geschweige denn ihre Jobs an Zuwanderer_innen verlor. Woher kommen also der Hass, die Wut und der Zynismus der autoritären Intellektuellen, wenn es dafür ganz offensichtlich keine wirtschaftlichen Gründe gibt? Applebaum verweist auf die Verhaltensökonomin Karen Stenner, der zufolge "rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe" und keine Komplexität aushalte. Auch die Angst vor dem Verlust von Privilegien spiele eine Rolle und schwelende Ressentiments: "Wer glaubt, er habe einen Platz an den Schalthebeln der Macht verdient, spürt oft ein starkes Bedürfnis, Eliten zu attackieren, Gerichte mit Gesinnungsgenossen zu besetzen und die Presse zu manipulieren, um seine Ziele zu erreichen." Dass die Lügen und Verschwörungstheorien Widerhall finden, liegt laut Applebaum daran, dass es kein "homogenes nationales Gespräch" mehr gibt: "Menschen hatten immer unterschiedliche Ansichten. Heute haben sie unterschiedliche Tatsachen."

Die Autorin will keine allumfassende Theorie für die extreme Lagerbildung und die autoritäre Unterwanderung von Demokratien durch Figuren wie Kaczyński, Orbán, Trump und auch Johnson sowie deren Lakaien liefern. Ihr Essay spiegelt vielmehr persönliche Erfahrungen und Überlegungen wider, verweist auf historische Parallelen, sucht nach Antworten, wie sich der Gefahr begegnen ließe.

Es ist Applebaums Verdienst, den Blick auf die geistigen Brandstifter zu lenken, zu kurz kommen in ihrer Analyse allerdings die Wähler_innen, die ebenso der "Verlockung des Autoritären" erliegen. Denn Wahlerfolge autoritärer Potentaten lassen sich nicht allein mit ideologischer Manipulation durch reaktionäre Spindoctors erklären.

Anne Applebaum: Die Verlockung des Autoritären. Warum antidemokratische Herrschaft so populär geworden ist. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Siedler Verlag, München 2021, 208 Seiten, 22 Euro.

Wera Reusch ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

WEITERE BUCHTIPPS

Ethnografie Morias

von Wera Reusch

"Der Brand von Moria war real und zugleich hoch symbolisch", schreibt Helge-Ulrike Hyams. Wer verstehen will, warum Europas größtes Flüchtlingslager im September 2020 in Flammen aufging, sollte dieses Buch lesen. Die Psychoanalytikerin und Pädagogin ging im Herbst 2019 nach Lesbos und arbeitete dort ein halbes Jahr für eine Schweizer Hilfsorganisation. Mit ihren 77 Jahren war sie eine Ausnahmeerscheinung unter den Freiwilligen aus aller Welt. Außergewöhnlich ist auch ihr Bericht über Moria: In kurzen Kapiteln zu Stichworten wie Kinder, Trauma, Husten, Müll, Regen, Handys oder Resilienz schildert sie die unerträgliche Situation der Geflüchteten, nimmt aber auch die Helfer_innen und die Bevölkerung der Insel in den Blick. Als teilnehmende Beobachterin gleicht Hyams einer Ethnologin, und die vielen Facetten des Buchs fügen sich zu einer Art Ethnografie des Lagers. Die Autorin verzichtet auf billige Skandalisierung, vielmehr enthüllt sie durch ihre so persönliche und lebenskluge wie professionelle und sachliche Darstellung, "zu welchem Ausmaß an Menschenverachtung unsere Gesellschaft fähig ist, wenn sie Lager wie dieses toleriert". Ihr Fazit: "Moria brannte nicht, weil ein paar junge Männer gezündelt haben. Moria brannte, weil das Leben der Lagerbewohner in eine Sackgasse geraten war. Eine Sackgasse, die symbolisch für die gesamte Flüchtlingspolitik steht."

Helge-Ulrike Hyams: Denk ich an Moria. Ein Winter auf Lesbos. Berenberg Verlag, Berlin 2021, 160 Seiten, 16 Euro.

Einblick in die UNO

von Wera Reusch

Andreas Zumach war mehr als 30 Jahre lang UNO-Korrespondent in Genf und berichtete für die taz und andere Medien. Im Gegensatz zu vielen anderen, die der UNO stets Versagen und Machtlosigkeit vorwerfen, ist Zumach kein Zyniker, doch sieht auch er deutlichen Reformbedarf. Er weist darauf hin, dass es dafür durchaus Spielräume gibt – auch jenseits des ­Sicherheitsrats, den er derzeit für nicht reformierbar hält. Wenig zielführend sei die Politik der Bundesregierung, der es vor allem um einen ständigen Sitz in diesem Gremium gehe. Zumach untersucht die Rolle der UNO in zahlreichen Konflikten – von Syrien über Israel/Palästina bis hin zur Ukraine. ­Neben traditionellen Politikbereichen wie Friedenssicherung und Rüstungskontrolle beschäftigt er sich mit aktuellen und künftigen Herausforderungen wie Klimapolitik, Gesundheitspolitik, Wirtschaft und Menschenrechte. Nicht zuletzt kritisiert er den zunehmenden und hoch problematischen Einfluss internationaler Unternehmen und anderer Akteur_innen. So zählt etwa die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung mittlerweile zu den größten Geldgebern der WHO. Zwar fehlen wichtige Aspekte wie Frauenpolitik, dennoch bietet das Buch exzellente Einblicke in das UNO-System. Zumach ist es gelungen, komplizierte Sachverhalte verständlich und ohne Englisch-Kauderwelsch zu erklären, was bei diesem Thema eine große Herausforderung ist.

Andreas Zumach: Reform oder Blockade – welche ­Zukunft hat die UNO? Rotpunktverlag, Zürich 2021, 360 Seiten, 25 Euro.

Bedroht in der Arktis

von Wera Reusch

Wer wissen will, wo das Erdgas herkommt, das bei uns für mollige Wärme sorgt, der sollte diesen Roman lesen. Die größten Gasvorkommen Russlands liegen dort, wo die Nenzen leben – noch leben. Denn der Klimawandel begünstigt die Gasförderung und bedroht den arktischen Lebensraum der Indigenen. Anna Nerkagi gehört zu dieser westsibirischen Bevölkerungsgruppe und hat ihr mit "Weiße Rentierflechte" ein Denkmal gesetzt. Ihr im Original bereits 1996 ­erschienenes Buch handelt von einer weiteren Gefahr: der Entfremdung der Kinder von ihren Familien. Denn die nenzischen Kinder werden mit Hubschraubern in russische Internate gebracht und verlieren so den Bezug zu ihrer Heimat. "Weiße Rentierflechte" ist ein zutiefst wehmütiger Roman – erzählt aus Sicht der Alten, die am nomadischen Leben festhalten und jahrelang vergeblich auf die Rückkehr ihrer Kinder warten. Nerkagi beschreibt das traditionelle Leben der Rentierzüchter_innen, ihren Alltag, ihre Mythologie und Weisheit. Sie schildert aber auch die Konflikte in einer Ge­sellschaft, die von Frauen völlige Unterordnung verlangt, ­obwohl sie ohne deren harte Arbeit nicht überleben kann. Eindrucksvolle Fotos von Sebastião Salgado vermitteln eine Vorstellung von den harten Lebensbedingungen der Nomad_innen, ein "Kleines ABC des nenzinschen Lebens" ­bietet Hintergrundinformationen zu diesem ­berührenden ­Roman.

Anna Nerkagi: Weiße Rentierflechte. Aus dem Russischen von Rolf Junghanns. Mit Fotos von Sebastião Salgado. Faber & Faber, Leipzig 2021, 192 Seiten, 22 Euro.

Aktivist_innen der Erinnerung

von Marlene Zöhrer

Am Ende der Graphic Novel, die Stationen aus dem Leben von Beate und Serge Klarsfeld beleuchtet, hält eine Gesprächspartnerin der beiden treffend fest: "Sie stehen für Mut, Überzeugungskraft, Bescheidenheit, ein Gefühl für Gerechtigkeit, eine Opferbereitschaft, für die Sie sich selbst in Gefahr bringen!" Was das Ehepaar Klarsfeld mit seinem unermüdlichen Kampf gegen das Vergessen geleistet hat und immer noch leistet, inszenieren Pascal Bresson und Sylvain Dorange in einer spannungsgeladenen Biografie, die in ihrer Machart an einen Agententhriller erinnert. Wobei der Stoff dieses Abenteuers eben keine Fiktion ist. Das Handeln der beiden hat seit den späten 1960er Jahren entscheidend zur Aufklärung und Verurteilung von NS-Kriegsverbrechen beigetragen. Beate und Serge Klarsfeld, sie Deutsche, er französischer Jude, verfolgen ihr gemeinsames Ziel mit beeindruckender Vehemenz und Selbstlosigkeit. Mit ihren Aktionen – die spektakulärste war wohl die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zusammen mit dem Ausruf "Nazi" in aller Öffentlichkeit verpasste – machen sie sich nicht nur Freunde. Doch dieses Risiko nehmen die "Aktivist_innen der Erinnerung" für ihre Mission gegen das Vergessen der Opfer der Shoah gerne in Kauf.

Pascal Bresson, Sylvain Dorange: Beate und Serge ­Klarsfeld – Die Nazijäger. Aus dem Französischen von Christiane Bartelsen. Carlsen, Hamburg 2021, 208 Seiten, 28 Euro, ab 14 Jahren.

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