Amnesty Journal 29. Juni 2020

Nationen-Virus bedroht Europa

Zwei Männer mit Mundnasenschutzmasken in Militäruniform halten Maschinenpistolen in ihren Händen und stehen vor einem Gebäude.

Militärpatrouille in der ungarischen Hauptstadt Budapest im April 2020

Egal ob bei Grundrechten, Überwachung oder Minderheiten: Die Corona-Krise zeigt die Schwächen der Europäischen Union. Sie zu überwinden, ist eine riesige Aufgabe. Nun übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft.

Von Malte Göbel

Wenn Deutschland am 1. Juli für sechs Monate die Präsidentschaft des Europäischen Rats übernimmt, ist die Bundesregierung nicht zu beneiden. Mit dem Brexit und den Haushaltsverhandlungen hat sie Themenkomplexe von früheren Präsidentschaften geerbt, die längst geregelt sein sollten – und dann sind da noch die Folgen von Corona. Die Pandemie hat Europa auf mehreren Ebenen vor eine Zerreißprobe gestellt. Anstatt im europäischen Rahmen gemeinsam auf die Herausforderung zu reagieren, zeigten die Einzelstaaten nationale Reflexe, zogen die Grenzen hoch, schotteten sich voneinander ab, verabschiedeten ihre eigenen Anti-Corona-Maßnahmen und konkurrierten teilweise um medizinische Ausrüstung.

Grundrechte wurden in allen Staaten eingeschränkt, sozial benachteiligte Gruppen wie Obdachlose, Geflüchtete oder Häftlinge bekamen die Auswirkungen stärker zu spüren als der Rest der Bevölkerung, regional flammte auch Hass gegen Minderheiten auf, etwa in Ungarn gegen Roma und transgeschlechtliche Menschen. Die Corona-Krise hat die Europäische Union erschüttert und ihre Grundlagen und Werte stärker infrage gestellt als jemals eine Krise zuvor.

Überwindung der Nationalstaaten lautete der alte europäische Traum. Und nun erleben wir das Gegenteil. Alles lief zuletzt über die Einzelstaaten, Politik wurde in den Hauptstädten gemacht, Europa war an den Rand gedrängt. "Ich war enttäuscht bis schockiert, was da für nationale Reflexe kamen", sagt Hannah Neumann, die in der Fraktion der Grünen/EFA im Europäischen Parlament sitzt. "Wenn man das Ganze analytisch betrachtet hat, war schon früh klar, dass das nicht die richtige ­Antwort ist."

Bereits im Januar, noch vor Ausbruch der Krise in Europa, habe die Europäische Kommission versucht, eine europäische Reaktion auf die mögliche Pandemie zu koordinieren. Der Rücklauf aus den Mitgliedstaaten war gering. Und als die Krankheit sich ausbreitete, reagierten die Länder einzeln. "Aus meiner Sicht war das ein Versagen der Nationalregierungen, weil sie sich sehr lange auf das Nationale konzentriert und nicht verstanden haben, dass man es europäisch viel besser angehen kann", sagt Neumann, die 2019 ins Europäische Parlament einzog und überzeugte Europäerin ist.

Mittlerweile ist sie aber optimistischer, was die europäische Idee angeht. "Es gab drei, vier kritische Wochen am Anfang", sagt sie. "Aber seitdem hat sich ein Momentum entwickelt für Solidarität und ein Verständnis, dass keiner schuld ist an dieser Krise und wir sie nur gemeinsam bewältigen können. Das zeigt, wie widerstandsfähig und stark die europäische Idee ist." So haben sich die europäischen Staaten mittlerweile gegenseitig mit medizinischer Ausrüstung unterstützt, deutsche Krankenhäuser nahmen Patientinnen und Patienten aus Frankreich und Italien auf. Auf diese Weise habe Deutschland auch lernen können, wie man mit dem Virus umgeht. "Wir haben es geschafft, über diese erste nationalistische Antwort hinwegzukommen. Und das geht jetzt mit der Diskussion um europäische Finanzhilfen weiter."

Problematische Corona-App

Auch das Gezerre um eine Corona-App zeigt die vielfältigen ­Probleme, die Europa mit einer gemeinsamen Reaktion auf die Pandemie hat – und dass die Antwort nur europäisch sein kann. Staaten wie China, Südkorea oder Kenia nutzten schon früh Handydaten, um die Ausbreitung des Corona-Virus nachzuverfolgen. Rücksicht auf Privatsphäre nahmen sie nicht. "In diesen Ländern wird Datenschutz verletzt unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung. Das ist nicht verhältnismäßig", erklärt Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International.

Mitte April 2020 empfahl die Europäische Kommission einen gemeinsamen Ansatz für Corona-Apps, und das Europäische Parlament beschloss eine Resolution, die notwendige Schutzmaßnahmen für die Privatsphäre beim Einsatz von Corona-Technologie betonte. Auch Amnesty hat solche Schutzmaßnahmen wiederholt gefordert, wie etwa die Freiwilligkeit bei der Nutzung, die maximale Anonymisierung und die dezentrale Speicherung von Daten.

Doch die EU-Staaten sprachen sich nicht ab. Frankreich und Italien präsentierten Anfang Juni ihre Apps mit zentraler Datenspeicherung, die deutsche Version mit dezentraler Datenspeicherung wurde Mitte Juni vorgestellt. Alle Apps arbeiten mit Bluetooth-Technologie, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ließ seine ursprünglichen Pläne zur Nutzung von GPS- und Funkzellen-Daten nach Kritik wieder fallen. Zur Verfolgung von grenzüberschreitenden Ansteckungsketten sind die vielen Einzel-Apps jedoch nicht geeignet.

"Europa hätte Maßstäbe setzen können, wie damals bei der Datenschutzgrundverordnung", sagt Hannah Neumann. "Wenn wir die App kostenlos zum Download angeboten hätten, hätten wir der Welt einen großen Dienst erwiesen. Aber nun gibt es konkurrierende Systeme aus Nachbarstaaten – das ist sehr ärgerlich." Nationale Reflexe haben vorerst über eine gemeinsame Herangehensweise gesiegt. Neumann hofft, dass die Länder daraus eine Lehre ziehen. "Das zeigt, wie schnell das Nationale an seine Grenzen stößt. Das wiederum stärkt die europäische Idee!"

Auch Markus Beeko ist zwar nicht glücklich über die Situation, sieht aber auch Positives: "Ja, es gibt in Europa verschiedene Ansätze, aber immerhin gibt es eine Debatte!" Für ihn zeigen sich darin die Herausforderungen, die in den nächs­ten Jahren anstehen, noch stärker. "Eine der gesellschaftlichen Veränderungen durch die Corona-Krise ist die Beschleunigung der Digitalisierung. Wir sehen klaren Regulierungsbedarf, hier ist der rechtsstaatliche Rahmen nicht gegeben, und Tech-Konzerne müssen stärker durch staatliche Stellen kontrolliert werden."

Nicht nur Gesundheits-, sondern Menschenrechtskrise

Menschenrechte waren und sind in der Corona-Krise vielfältig bedroht. "Die Einschränkungen der grundlegenden Menschenrechte verbreiten sich in Europa gerade fast genauso schnell wie das Virus", warnte Anfang April die Europa-Direktorin von Amnesty, Marie Struthers, und mahnte, dass beim Schutz der Menschen vor der Pandemie nicht die Grundrechte auf der Strecke bleiben dürften. Zwar sei es notwendig, die Gesundheit der Menschen zu schützen, doch ein Virus sei keine Rechtfertigung für Diskriminierung, Repression und Zensur. Diese Warnungen waren bitter nötig. "Der Blick in die Welt zeigt: Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine Menschenrechtskrise", so fasst es Markus Beeko zusammen. 

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie hatten direkten Einfluss auf die Grundrechte. So wurden in weiten Teilen Europas die Rechte auf Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit und freie Religionsausübung eingeschränkt. "Amnesty hat den europäischen Staaten sehr schnell Handlungsanweisungen gegeben, wie diese Gesundheitsmaßnahmen menschenrechtskonform auszugestalten sind", erklärt Beeko. "Dazu gehört auch, dass die Maßnahmen zeitlich befristet sind, verhältnismäßig eingesetzt und unabhängig kontrolliert werden müssen." Doch manche EU-Staaten schienen die Krise eher dazu nutzen zu wollen, um eine Politik durchzusetzen, die nichts mit Gesundheit zu tun hat. 

Ungarn ist in Europa das eklatanteste Beispiel für eine Instrumentalisierung der Corona-Krise.

Markus N.
Beeko
Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International

Polen und Ungarn instrumentalisieren die Krise

Ungarn befindet sich seit Jahren auf dem Weg zu einem autoritären Staat. Im Windschatten der Corona-Krise beschleunigte Ministerpräsident Viktor Orbán diese Entwicklung sogar noch. "Ungarn ist in Europa das eklatanteste Beispiel für eine Instrumentalisierung der Corona-Krise", sagt Beeko. "Der Abbau von Rechtsstaat und Zivilgesellschaft der vergangenen Jahre geht nun noch schneller. Amnesty International sieht die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn massiv gefährdet."

Anfang März ließ sich Orbán vom Parlament mit weitreichenden Machtbefugnissen ausstatten. Das Notstandsgesetz erlaubte ihm das Regieren per Dekret. Das Parlament war faktisch entmachtet, der Rechtsstaat erheblich eingeschränkt, Wahlen und Volksabstimmungen waren ausgesetzt. Dies gelte "bis zum Ende der Gefahrenlage", sagte Justizministerin Judit Varga. Wann die vorbei sei, bestimme das Parlament, in dem Orbán eine komfortable Zweidrittelmehrheit hat, die sein Ermächtigungsgesetz dann auch beschloss.

Zwar präsentierte Orbán Ende Mai ein Gesetz, das seine erweiterten Befugnisse größtenteils wieder zurücknimmt. Doch die bereits erlassenen Maßnahmen, die nichts mit Corona zu tun haben, will Orbán beibehalten. "Die Unabhängigkeit der Gerichte, die Minderheitenrechte, Wissenschaftsfreiheit, Restriktionen gegenüber journalistischer Berichterstattung, wodurch Herr Orbán bestimmt, welche Fakten öffentlich und welche Desinformationen verbreitet werden – all das steht immer noch im Raum", zählt Hannah Neumann auf, die als stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte im EU-Parlament ein besonderes Auge auf diese Themen hat.

Wie das Virus Minderheiten trifft

Minderheiten sind dabei besonders betroffen: In Zeiten, wo sich jede und jeder von einem unsichtbaren Virus bedroht fühlt, fehlt es an Solidarität und Aufmerksamkeit für die ­Schwächeren – die gleichzeitig die Krise noch stärker zu spüren bekommen als die Mehrheit. Das bestätigt Katrin Hugendubel von ILGA-Europe, einer Organisation, die die Interessen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI) vertritt. "Die Krise macht strukturelle Ungleichheiten noch deutlicher. Vor allem trans- und intergeschlechtliche Menschen leben häufig in prekären ökonomischen Verhältnissen und stehen in so einer Krise ohne sozialen Schutz und ohne ­Einkommen da."

Es ist nicht die erste Attacke auf die Menschenrechte von Transgeschlechtlichen in Ungarn, aber die bisher schlimmste. Die Regierung hat die Covid-19-Krise ausgenutzt.

Anwar
Ouguerram
Organisation Transgender Europe

Anwar Ouguerram von der Organisation Transgender Europe bestätigt diese Einschätzung: "Krisenzeiten treffen die Marginalisierten am stärksten – physisch, psychisch, ökonomisch und politisch." Und sie können sich gegen Unterdrückung schlechter wehren, da der Lockdown die Arbeit behindert: Gemeinsame Büros können nicht mehr genutzt werden, die Einnahmen gehen zurück, Versammlungen oder Demonstrationen sind unmöglich. Darauf baute wohl auch Ungarn: Am 31. März präsentierte Orbáns Regierung ein Gesetz, das eine Änderung des Geschlechtseintrags verbietet. Beim Standesamt und auf amtlichen Dokumenten darf nur noch das "Geschlecht bei Geburt" vermerkt werden – Menschen mit Transidentität werden damit quasi für nicht existent erklärt. "Es ist nicht die erste Attacke auf die Menschenrechte von Transgeschlechtlichen in Ungarn, aber die bisher schlimmste", sagt Anwar Ouguerram. "Die Regierung hat die Covid-19-Krise ausgenutzt." Davon ist auch Katrin Hugendubel überzeugt: "Es ist kein Zufall, dass dieses Gesetz genau jetzt präsentiert wurde – weil die ungarische Regierung hoffte, dass alle mit der Corona-Krise beschäftigt sind. Das bestätigen uns Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort."

In Polen legte die rechtskonservative Regierung erneut ein Gesetz vor, das Abtreibung verbietet und Sexualaufklärung in den Schulen verhindert. "Es wurde genau in dem Moment eingebracht, als Proteste auf der Straße verboten wurden", sagt Hugendubel. "Das sind Versuche, Corona als Vorwand zu nutzen, um gegen LGBTI und Frauenrechte vorzugehen."

Ungarns Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit wurden durch die Pandemie noch verstärkt. Hannah Neumann ist dennoch für einen Verbleib des Landes in der EU: "Wenn ich mir ansehe, was in der Nachbarschaft der EU an Grundrechtseinschränkungen passiert, etwa in der Türkei oder in Ägypten – da ist mir ein in die EU eingebundenes Ungarn lieber. Auf der EU-Ebene werden die Vorgänge kritisch betrachtet, und innerhalb der EU gibt es zahlreiche Partner der ungarischen Zivilgesellschaft – schließlich gibt es in Ungarn auch viele kritische Stimmen. Eine solche Situation ist sicherlich besser als eine sich immer stärker radikalisierende ungarische Regierung außerhalb der EU."

Ähnlich sehen es die NGOs: Katrin Hugendubel erzählt von Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort, denen internationale Kontakte bei ihrer Arbeit helfen. "Ihr Einfluss würde geringer, wenn sie vor Ort isoliert würden." Hugendubel erinnert auch daran, dass deutsche Kommunen bereits Partnerschaften mit polnischen Orten ausgesetzt haben, die sich zu "LGBTI-freien Zonen" erklärten. "Wir rufen nicht dazu auf, Städtepartnerschaften aufzulösen, sondern man sollte lieber versuchen, Einfluss zu nehmen, und die Thematik ansprechen."

Umso wichtiger ist es allerdings, auch auf europäischer Ebene die menschenrechtsfeindliche Politik in Polen oder Ungarn anzugehen. "Die EU kann noch mehr tun, und sie sollte noch mehr tun", sagt Hugendubel. Unter anderem ist für November eine EU-Konferenz zu LGBTI-Themen geplant, in deren Rahmen eine Strategie vorgestellt werden soll. Markus N. Beeko von Amnesty International setzt seine Hoffnung in die deutsche Ratspräsidentschaft. "Da gibt es noch mehr Möglichkeiten. Ansonsten stehen die Funktionsfähigkeit und das Selbstverständnis der Europäischen Union auf dem Spiel."

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