Amnesty Journal 04. November 2021

Und plötzlich geht die Reise von vorne los

Ein Mann sitzt in einem Probenraum zwischen Klavieren und neben einer Gitarre.

Wilder Sound: Metin Demiral pausiert während einer Jam-Session Mitte der 1980er Jahre.

Vor 30 Jahren tourte Café Türk mit einer Mischung aus New Wave, westasiatischer Musik und gesellschaftspolitischen Texten durch die Schweiz und Deutschland. Nun wird die Band wiederentdeckt.

Von Ulrich Gutmair

Metin Demiral ist 18 Jahre alt, als er sich 1976 aufmacht, per Interrail durch Europa zu fahren. "Hippiemäßig", wie er sagt, in zerrissenen Jeans, mit Rucksack und Gitarre reist er über Amsterdam nach Schweden. Er setzt gerade über den Öresund, da wollen zwei Zollbeamte Metins Visum sehen – er hat aber keines. Als er aufbrach, bestand keine Visumspflicht für Menschen wie ihn, mit türkischem Pass. Er wehrt sich: "Was erzählt ihr da?" Mitreisende mischen sich ein, es kommt zu einem kurzen Handgemenge. "Die Beamten sagten, vor ein paar Tagen seien mehr als 5.000 Asylanten ins Land gekommen. Deswegen habe die schwedische Regierung kurzfristig diese Visumspflicht eingeführt. Ich habe ihnen gesagt: 'Sehe ich wirklich wie ein Asylant aus?'", erzählt Metin Demiral. Er wird in Gewahrsam genommen und "nach ­einer Übernachtung in einem kleinen Raum" wieder zurück­befördert nach Dänemark. "Ich war natürlich sauer. Das geht den Türken heute noch so, es gibt wenig Länder, die sie ohne ­Visum bereisen können."

Mit 15 in die Schweiz

Seinen Zorn übersetzt Demiral später in ein Lied mit dem Titel "Haydi Yallah". Es ist das erste Stück, das er 1982 zusammen mit Stefan Bittlinger in seinem Studio in Schaffhausen einspielt. Dort lebt Demiral seit 1973. Mit seiner Familie war er als 15-Jähriger in die Schweiz gekommen. "Wir waren anfangs zu zweit. Stefan hat die Drums und Bass gespielt, ich die restlichen Instrumente, Gitarre, Perkussion und so weiter." Demiral und Bittlinger bilden den Kern einer Band, die sie später Café Türk nennen. In den 1980er Jahren nimmt die Band zwei Alben auf, die Deborah Ipekel gut 30 Jahre später entdeckt. Die Istanbulerin betreibt in London das Label Zel Zele. Dort erschien vor kurzem eine Kompilation, die das Werk von Café Türk vorstellt.

Der Held von "Haydi Yallah" ist in der Türkei berühmt: ­Evliyâ Çelebi reiste im Dienste des Osmanischen Reichs durch viele Länder und schrieb auf, was er sah. Für seinen Song versetzte Demiral die Figur des Çelebi in die Gegenwart. "Er nimmt sich ein Schiff und kommt nach Deutschland", erzählt Demiral. "Er geht in eine Disko. Und dann passiert die alte Geschichte: Er ­beginnt, Türkisch zu sprechen, weil er nichts anderes kann. So wird er entdeckt: Er ist nicht einer von uns, er kann unsere Sprache nicht, sagen die Leute, und werfen ihn raus."

Die Musik von "Haydi Yallah" reflektiert ihre Entstehungszeit und den Geschmack Demirals und seines Freundeskreises. Synthies erinnern an Kraftwerk. Der Bass ist funky, dazu gibt es Blasinstrumente. Demiral übt sich in Sprechgesang, zwischendurch wird eine Platte gescratcht, wie im New Yorker HipHop.

Demiral singt seine Lieder auf Türkisch, Deutsch und Englisch. Der Sound von Café Türk speist sich aus Funk, New Wave und den traditionellen Liedern von Türk_innen und Aseris, die im westasiatischen Raum leben. Demirals Familie stammt aus Kars, der östlichsten Stadt der Türkei, auch er ist dort geboren. Damals lag hinter der Grenze die Sowjetunion, heute ist es Armenien. "Die Bevölkerung bestand zum größten Teil aus Aseris, die dort schon immer mit den Armeniern und anderen Ethnien zusammengelebt haben", erzählt Demiral. "Es gab Juden in Kars, es gab Griechen, Kurden. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das bunt gemischt."

"Musik der Sehnsucht"

Demirals Großvater hatte aserische Vorfahren. "In Kars wurde türkische Musik gehört, aber über Mittelwelle auch die Musik aus Aserbaidschan. Das war die Musik der Sehnsucht. Die Grenze war unüberwindbar, Verwandte von uns haben auf der anderen Seite gelebt. Sobald diese Musik gespielt wurde, fingen alle an zu weinen. Da hast du dir als Kind gedacht: Was ist das, das die Leute so stark bewegt? Dass sich große Männer in den Armen liegen und weinen wie kleine ­Kinder?"

In den 1970er Jahren, als die Sowjetunion sich öffnete, reisten Demirals Eltern mit dem Zug von Kars nach Aserbaidschan. "Sie kamen mit einem Sack voll Schallplatten zurück", erzählt Demiral. "Viele Originale von Songs, die wir mit Café Türk gespielt haben, habe ich auf Aseri-Schallplatten."

Der wilde Sound seiner Band beschwört die Erinnerung herauf an die Zeit des Osmanischen Reichs, in der viele Kulturen, Sprachen und musikalische Traditionen ihren Platz hatten und sich gegenseitig beeinflussten.

In den 1980er Jahren wollte Demiral erreichen, dass seine Lieder auch im türkischen Radio gespielt würden. Das scheiterte aber an der Zensur. "Es gab eine Kommission, bei der musstest du die Noten der Songs einreichen und die Texte dazu. Es ging darum, dass die türkische Musik nicht 'verroht' wird durch Interpretationen mit modernen Instrumenten."

Vom türkischen Radio zensiert

Der Antrag bei der Kommission hatte keinen Erfolg. "Wir sind also in Istanbul zum Radio gegangen und haben Redakteuren unsere neuen Stücke vorgespielt. Sie waren interessiert. Sie waren jung wie wir, aber sie haben gesagt: Wir können das nicht spielen. Es war eben die Zeit der Militärjunta." Beim Militär trage man Uniform, alle marschierten im Gleichschritt, sagt Demiral. "Und so haben sie sich auch die Musik vorgestellt: Dass sich alles in einem braven Rahmen abspielt. Das waren schlimme Zeiten." Ein Projekt wie Café Türk konnte nur im Westen entstehen, die Musik in der Türkei nicht Fuß fassen.

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre tourte Café Türk durch Deutschland und die Schweiz. Sie spielten in Kulturhäusern, Jugendzentren und kleineren Sälen. "Wir haben nicht für die Gastarbeiter gespielt", sagt Demiral, "weil viele Gastarbeiter unsere Musik nicht verstanden haben. Aber sie kamen zum Teil auch zu unseren Konzerten. Sie trafen dort auf Punks, Studenten, Musikfreaks, vor allem auf Leute, die gern getanzt haben. Wir haben das zelebriert und die Leute dazu animiert, sich über den Tanz auszutauschen."

Im "Fadekreuz der Skins"

Als Café Türk 1987 "Ali Baba" aufnahm, hatten Demiral und Bittlinger die Hoffnung, dass dieses Lied im deutschen und schweizerischen Radio gespielt werden könnte. Anders als in den meisten Stücken von Café Türk enthält es weder die synkopischen Rhythmen noch die Vierteltöne der orientalischen Musik. Das Thema lag in der Luft: "Von Istanbul zum Rheinfall sind die Türken überall. Einer da, einer dort, keiner will wieder fort", heißt es in "Ali Baba". Im Refrain singen Demirals Schwestern mit. Es scheint, als spräche dort ein Einwanderer zu Deutschen und Schweizer_innen: "Du kannst uns verstehen. Du, du kannst es wissen. Du, sag mir, wer bin ich. Dich werd ich vermissen." Aber auch im Westen wurde Café Türk nicht im Radio gespielt. Nach dem Hintergrund des Lieds gefragt, erzählt Demiral: "Ende der Achtziger gerieten wir ins Fadenkreuz der Skins. Die wollten ein paar unserer Konzerte stürmen. Das ist ihnen aber nicht gelungen."

Dass seine Musik jetzt auf so viel Interesse stößt, freut ­Demiral. "Ich habe unverhofft einen neuen Lebensabschnitt ­geschenkt bekommen. Ich hab’ alles liegen und stehen lassen." 25 Jahre lang hat er in Schaffhausen den Musikclub "Orient" ­betrieben, für den er jetzt eine Nachfolge sucht. Er befasst sich intensiv mit seinem Archiv. "Seit einem Jahr habe ich mein altes Studio aufgebaut und sitze inmitten von alten Taperecordern, einigen Synthies und Gitarren wieder in meinem geliebten Umfeld. Da ging die Reise plötzlich wieder von vorne los."

Ulrich Gutmair ist freier Journalist und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Café Türk: Café Türk (Zel Zele)

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