Amnesty Journal Thailand 12. März 2021

Sündenböcke im Strandparadies

Sonnenuntergang am Meer mit Wolken am Himmel, im Vordergrund pink angeleuchtete Zweige eines Baumes.

In Thailand wurden im Jahr 2015 zwei junge Männer aus Myanmar zum Tode verurteilt – für eine Tat, die sie ­wahrscheinlich nicht begangen haben. Im Sommer 2020 wandelte der thailändische König ihre Strafe in lebenslange Haft um. Viele Fragen bleiben.

Von Bartholomäus von Laffert (Text) und Rafael Heygster (Fotos)

Am 14. August 2020 begann für die Gefangenen Zaw Lin und Wai Phyo in der Haftanstalt Bang-Kwang in Bangkok ein neues Leben. An diesem Tag wurde bekannt, dass der König aus Anlass seines 68. Geburtstags Milde walten lässt und ihr Todesurteil in eine lebenslange Haftstrafe umwandelt. In Thailand bedeutet dies 50 Jahre Gefängnis. Damit wäre auch eine Auslieferung nach Myanmar möglich.

Viereinhalb Jahre zuvor, am 24. Dezember 2015, waren die beiden Gastarbeiter für den Doppelmord an einer britischen Touristin und einem britischen Touristen im Jahr 2014 auf der Taucherinsel Koh Tao zum Tode verurteilt worden. Dass sie die Tat begangen haben, bezweifeln Prozessbeobachter, Menschrechtsaktivistinnen, Diplomaten aus Myanmar und Unterstützerinnen der beiden bis heute.

Zaw Lin, einer der beiden Verurteilten, schrieb im August 2020 in einem Brief: "Ich bin ein unschuldiger Mann, ich weiß nichts über die Morde. Als ich in den Knast gekommen bin, war ich 20 Jahre alt, jetzt werde ich bald 26, also bin ich schon sechs Jahre im Gefängnis für nichts. Und nichts wendet sich für mich zum Guten. Ich verschwende meine Lebenszeit im Gefängnis."

Katherine Gerson, die 2015 eine Kampagne von Amnesty International für die beiden Männer leitete, sagt: "Wir haben große Zweifel, ob die Verurteilung rechtmäßig war. Es gab klare Indizien, dass thailändische Polizisten die Männer gefoltert haben, um ein Geständnis zu erzwingen, und dass man ihnen vor Gericht keinen Glauben schenkte." Zum Zeitpunkt der Verhaftung der beiden habe es unzählige Fälle gegeben, in denen Gastarbeiter aus Myanmar von thailändischen Polizisten erpresst oder unrechtmäßig in Gewahrsam genommen wurden.

Eine Million Urlaubsgäste

Aber warum wurden die beiden auf Koh Tao verhaftet? Und welche gesicherten Informationen gibt es darüber, was in der Nacht des 15. September 2014 tatsächlich geschah, als David Miller und Hannah Witheridge am Sairee Beach von Koh Tao ermordet wurden?

Zaw Lin hat seine Geschichte in Dutzenden Briefen an Freund_in­nen und Unterstützer_innen niedergeschrieben: 2012 wanderte er von Myanmar nach Thailand aus. Er war 18 Jahre alt, als er beschloss, seine Mutter und seinen Bruder in einem bitterarmen Fischerdorf im Bundesstaat Rakhine an der Westküste Myanmars zurückzulassen und sich nach Thailand durchzuschlagen, um dort Geld zu verdienen. Damit war er einer von etwa 2,3 Millionen Menschen aus Myanmar, die nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration ihr Glück in Thailand suchen.

Zaw Lin landete auf Koh Tao, einer kleinen paradiesischen Insel in Form einer Schildkröte mit schneeweißen Stränden und Hügeln voller Palmen, in deren Buchten Boote schaukeln. 7.000 Menschen leben dort: 1.500 Thailänder_innen, 1.500 Aussteiger_innen, der Rest sind Gastarbeiter_innen aus Myanmar. Außerdem kommen pro Jahr knapp eine Million Urlaubsgäste, viele von ihnen zum Tauchen.

Zaw Lin fand Arbeit in einer Bar und lebte fernab der schicken Touristenhotels in einer Arbeitersiedlung, wo er sich mit fünf anderen Männern ein Zimmer teilte. Dort lernte er einen anderen jungen Mann aus Myanmar kennen: Wai Phyo, der wie er aus Rakhine kommt, der ebenfalls 2012 mit 18 seine Familie zurückließ, nach Thailand auswanderte und jetzt in einer Bar Tourist_innen Bier ausschenkt. Auf den Facebook-Fotos von damals hängen Wai Phyo die langen, mit Henna gefärbten Haare strähnig in die Stirn. Zaw Lin wirkt älter und hat Pockennarben im Gesicht. Er trägt Shirts mit Motiven von Manchester United und Bob Marley.

Kameras, die nichts aufzeichnen

Die Nacht, die das Leben der jungen Männer für immer verändert, ist wolkenverhangen. Am Abend des 14. September 2014 treffen sich die beiden am Strand. Zaw Lin hat seine Gitarre mitgebracht. Gemeinsam mit einem Freund namens Mau Mau sitzen sie unter einem Pinienbaum am Sairee Beach und singen Lieder in ihrer Muttersprache. Vor einer Bar ganz in der Nähe findet eine Feuershow statt. Eine Überwachungskamera zeichnet auf, wie die drei Freunde in einem nahegelegenen Shop Zigaretten und Bier kaufen. Es ist kurz vor Mitternacht, als Mau Mau Zaw Lin bittet, ihm sein Motorrad zu leihen, weil er seine Freundin besuchen will.

An einem thailändischen Strand bei Nacht balanciert ein Mann über eine Slackline und jongliert dabei mit Feuer, während um ihn herum Menschen sitzen und stehen, die zuschauen.

Als er nach zwei Stunden noch nicht zurück ist, entscheiden sich Zaw Lin und Wai Phyo, ihn zu Hause aufzusuchen. Um sich abzukühlen, springen die beiden auf dem Rückweg kurz ins Meer. Als sie kurz danach an Mau Maus Wohnung in der Nähe des Strandes anklopfen, öffnet niemand, doch die Tür ist unverschlossen. "Also sind Wai und ich hineingegangen, wir haben uns hingelegt und geschlafen. Das ist alles, was ich weiß", schreibt Zaw Lin später in einem Brief an eine britische Journalistin.

Vier Stunden nachdem Zaw Lin und Wai Phyo sich schlafen gelegt haben, werden am Sairee Beach, wenige Meter entfernt von dem Pinienbaum, unter dem die Freunde saßen, die britischen Tourist_innen tot aufgefunden. Die Leiche von David ­Miller treibt in der Bucht. Sie ist bis auf eine schwarze Socke am linken Fuß entkleidet und mit Stichnarben übersäht. Die Leiche Hannah Witheridges liegt wenige Meter entfernt am Strand, das Gesicht ist zertrümmert, der Slip heruntergerissen.

Vergeblich sucht die Polizei nach Zeug_innen für die Tat. Sie findet lediglich einzelne Beweisstücke am Strand: drei Zigarettenstummel, eine Plastiktüte, ein rechter Flip-Flop, ein benutztes Kondom, eine blutige Gartenhacke. Die meisten Bänder der Überwachungskameras, die zu Dutzenden am Strand angebracht sind, fehlen. Sie hätten nichts aufgezeichnet, werden die Polizisten später sagen.

Suche nach dem "Running Man"

Es gibt aber zumindest eine Videosequenz, die die Ermittler auf eine Spur bringt: Sie zeigt einen jungen Mann, oben ohne, die schwarzen Haare fallen ihm tief in die Stirn. Die Bilder zeigen ihn, wie er am Shop in der Nähe des Sairee Beach vorbeiläuft, einmal um 3:44 Uhr, einmal um 4:49. Die thailändischen Medien taufen das Phantom "Running Man". Bald berichten Zeitungen und Fernsehsender auf der ganzen Welt, darunter die britische Sun, die BBC und der Guardian, über den grausamen Doppelmord. Zwei Wochen später nehmen die Ermittler Zaw Lin und Wai Phyo fest.

Schon am nächsten Tag werden die beiden in Koh Tao der Weltöffentlichkeit vorgeführt: Bei einem in Thailand üblichen "Reenactment" am Sairee Beach, bei dem die Verdächtigen gezwungen werden, das Verbrechen im Beisein von Polizei und ­Zuschauer_innen am Tatort nachzuspielen, verkünden die Ermittler, die beiden Männer hätten die Tat bereits gestanden.

In der Gerichtsakte heißt es, Mau Mau, Zaw Lin und Wai Phyo hätten sich am 14. September um 22 Uhr am Strand getroffen. Dort hätten sie getrunken und geraucht. Auf dem Heimweg hätten sie gesehen, wie sich die beiden Tourist_innen hinter einem Felsen entkleiden. Daraufhin hätten sie den Mann erschlagen und die Frau vergewaltigt, bevor sie auch sie umbrachten. Und der "Running Man" sei Wai Phyo.

Am Heiligen Abend des Jahres 2015 wird im Gerichtssaal von Koh Samui, einer Insel knapp 70 Kilometer südlich von Koh Tao, das Urteil über die beiden Männer gefällt: Schuldig des zweifachen Mordes und der schweren Vergewaltigung. Die Strafe: Tod durch die Giftspritze.

Die Urteilsbegründung stützt sich auf das Geständnis der beiden. Und auf die Spermaspuren an Witheridges Leiche, die nach Angaben des thailändischen DNA-Gutachtens mit Spuren auf den Zigarettenstummeln und dem Speichel von Zaw Lin und Wai Phyo übereinstimmen.

Wer sagt die Wahrheit?

Doch ist diesem Urteil zu trauen? Am 21. Oktober 2014, gut drei Wochen nach ihrer Verhaftung, widerrufen die beiden Männer ihr Geständnis. Zaw Lin schreibt später in einem Brief an eine Journalistin:

"Die Polizei hat mein Zimmer gestürmt um 6 Uhr früh. Sie haben mich mit dem Auto zu einem Bungalow gefahren, von dem ich wusste, dass er keine Polizeistation war, und da haben sie mich gefragt, ob ich am 15. September zwei Menschen ermordet habe. […] Als ich gesagt habe, dass ich nichts weiß über den Mord, da haben der Übersetzer und die Polizisten begonnen, mich zu schlagen und zu treten, ins Gesicht und gegen die Brust, dann haben sie mir eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, sodass ich nicht mehr atmen konnte. Ungefähr fünf von ihnen waren in dem Raum. Und jedes Mal, wenn ich gesagt habe, ich wisse nichts, haben sie mich noch mehr gefoltert. Sie haben gesagt, wenn ich nicht gestehe und das Dokument unterschreibe, dann werden sie mich erschießen. Und niemand wird je davon erfahren. Und während sie das sagten, hielt einer eine Pistole an meinen Kopf. […] Also habe ich beschlossen zu unterschreiben, und sie waren glücklich!"

Schreibt Zaw Lin in seinem Brief die Wahrheit? Oder hatten ihm seine Anwälte geraten, eine Lüge zu erzählen und die Aussage zurückzunehmen? Waren die DNA-Spuren nicht Beweis genug, dass die beiden das schwere Verbrechen begangen hatten?

Bei Nacht patrouillieren Polizisten an einem thailändischen Strand.

Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder die Prozessbeobachter der NGO Solicitors International Human Rights Group zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Prozesses. Ein Vorwurf lautet: Die Polizei, die die Spuren nahm, wertete die DNA auch aus. Ein externes Kontrollgremium, wie es in Großbritannien oder den USA vorgesehen ist, gab es nicht. Die Verteidigung forderte während des Prozesses, die DNA erneut zu testen. Die Antwort der Polizei: Die Spuren seien bedauerlicherweise nicht mehr verwertbar.

Außerdem kritisiert Katherine Gerson von Amnesty International das Vorgehen der National Crime Agency, der britischen Strafverfolgungsbehörde, die den thailändischen Behörden Informationen vom Smartphone eines der Opfer übermittelt hatte. Mit Hilfe dieser Informationen wurden die beiden Männer später zum Tode verurteilt. Nach EU-Recht, dem die britische ­Behörde damals unterlag, ist das illegal.

Viele Fragen sind bis heute unbeantwortet: Warum fand sich keine DNA der beiden vermeintlichen Täter an der Tatwaffe, der Gartenhacke? Wo sind die restlichen Videos der Überwachungskameras aus jener Nacht? Warum flohen Wai Phyo und Zaw Lin nicht, sondern gingen in den Tagen nach dem Mord weiter seelenruhig ihrer Arbeit in den Bars nahe des Tatorts nach?

Briefe aus der ganzen Welt

Gleichzeitig kursieren in Thailand bis heute Hinweise, die wahren Mörder würden noch immer auf der Insel leben. Ein Gerücht besagt, dass der Sohn eines wohlhabenden thailändischen Barbesitzers die Morde begangen haben soll und dessen einflussreiche Familie mithilfe der Sicherheitsbehörden das Verbrechen vertuscht habe. Dieser sei in Wahrheit der "Running Man" auf der Aufnahme der Überwachungskamera. Thailändische Medien schrieben dies schon vor Jahren, Inselbewoh­ner_in­nen behaupten das noch heute. Beweise dafür gibt es nicht.

In den ersten Monaten nach dem Urteil war die Unterstützung für Zaw Lin und Wai Phyo groß. Medien auf der ganzen Welt berichteten über das umstrittene Urteil. Die BBC bezeichnete die beiden in einem Artikel als "Sündenböcke". In der ­thailändischen Hauptstadt Bangkok gingen Tausende Gast­arbeiter_in­nen aus Myanmar auf die Straße und forderten die Freilassung der Inhaftierten. Irgendwann schalteten sich auch Diplomaten aus Myanmar ein.

Die Verurteilten bekamen solidarische Briefe aus der ganzen Welt, die ihnen Hoffnung machen, dass sie doch noch eines Tages freikommen könnten. Es ist eine Hoffnung, die nie greifbarer schien als am 14. August 2020.

Im November schrieb Zaw Lin aus dem Gefängnis in Bangkok: "Wie Sie wissen, hat der König anlässlich seines Geburts­tages ein Royal Pardon erlassen. Also bin ich von Block 5 nach Block 3 umgezogen, was heißt, dass ich nicht mehr im Todestrakt bin. Hier ist es besser, es gibt mehr Platz, sodass ich Sport­übungen machen und mich fit halten kann. Können Sie bitte Druck auf die Botschaft Myanmars ausüben, dass ich bald in mein Land zurückkehren kann?"

Bartholomäus von Laffert ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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