Amnesty Journal Sudan 30. Juni 2023

Kämpfen? Lesen!

Eine mittealte sudanesische Frau in Bluse und Blazer darüber, vor einer Wand.

"Make a difference by a book": Unter diesem Motto hat die Autorin Stella Gaitano im Sudan 14 Bibliotheken aufgebaut. Weil sie in ihren Büchern Gewalt und Machtmissbrauch im Land kritisierte, erhielt sie Todesdrohungen und musste fliehen.

Von Cornelia Wegerhoff

Kamen in Nordrhein-Westfalen: Kleinstadt-Idylle im östlichen Ruhrgebiet. Bevor auf dem Alten Markt der traditionelle Maibaum aufgestellt wurde, hat Stella Gaitano mitgeholfen, den großen Kranz zu flechten, der an der Spitze hängt. Einige Literaturbegeisterte erkannten die Schriftstellerin dabei wieder, denn im Herbst war sie mit der bekannten Kölner Autorin und Schauspielerin Renan Demirkan bei einer Lesung in der Schlosskirche zu Gast. Auch ihre beiden Söhne, 12 und 14 Jahre alt, haben schon Anschluss gefunden: Sie spielen beim VfL Kamen Fußball.

"Ich bin sehr dankbar dafür, dass ­meine Familie und ich hier in Kamen so freundlich aufgenommen wurden. Vor allem danke ich Papa Bernhard", sagt Stella Gaitano. Sie meint den Lyriker Bernhard Büscher, bei dem sie gerade am Küchentisch sitzt. Der Kamener ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und steht Stella Gaitano bei ihrem Neuanfang in Deutschland zur Seite. Nach ihrer Flucht aus dem Sudan 2022 erhielt sie ein "Writers-in-Exile"-Stipendium des Schrift­stellerverbands. Sie lernt jetzt Deutsch, schreibt an einem neuen Buch. Und doch ist die 43-Jährige in Gedanken derzeit öfter in Khartum als in Kamen. Sie macht sich große Sorgen um ihre Angehörigen und Freunde dort, denn seit Mitte April herrscht im Sudan der Ausnahmezustand – wieder einmal.

Leichen auf den Straßen

Grund sind die schweren Gefechte zwischen dem sudanesischen Militär und ­paramilitärischen Milizen, die von zwei rivalisierenden Generälen angeführt ­werden. Seitdem wurden mehr als 1.800 Menschen getötet. Die Bilder der Leichen auf den Straßen und der eiligen Evakuierung ausländischer Staatsbürger*innen gingen um die Welt. Die Bewohner*innen der Hauptstadt Khartum blieben zwischen den Fronten zurück. Sie hätten größtenteils keinen Strom und kein Wasser, berichtet Gaitano, die versucht, den Kontakt zu halten. Die Supermärkte seien leer, es fehle an Essen und Medikamenten, es gebe Plünderungen. Nach UN-Angaben waren bis Anfang Juni mehr als 1,6 Million Sudanes*innen auf der Flucht. Zehn Anläufe zu einer landesweiten Waffenruhe gab es mittlerweile, doch es wird weiter gekämpft.

"Wir haben das alles erwartet", stellt Stella Gaitano nüchtern fest. Sowohl der sudanesische Armeechef und De-facto-Präsident Abdel Fattah al-Burhan als auch RSF-Befehlshaber Mohammed Hamdan Dagalo, ehemals Vizepräsident, hätten große Truppen hinter sich, enorme Mengen an Waffen und keinerlei Loyalität gegenüber der Zivilbevölkerung. 2021 putschten sie sich gemeinsam an die Macht, zerstritten sich dann aber. Beide seien keine Unbekannten, sagt die Schriftstellerin. Sie hätten auch schon in der westsudanesischen Konfliktregion Darfur zahlreiche Verbrechen begangen. Stella Gaitano hat sich nie mit Kritik an Korruption und Gewalt zurückgehalten. Nachdem sie wiederholt Todesdrohungen erhielt, musste sie untertauchen und aus dem Sudan fliehen.

Als Nestbeschmutzerin diffamiert

Die Autorin ist in Khartum geboren und aufgewachsen, aber ihre Eltern stammen aus dem Südsudan. 2011, als der Südsudan unabhängig wurde, erklärte der damalige sudanesische Staatschef Omar al-Baschir alle Bürger*innen mit südsudanesischen Wurzeln zu Fremden, sie wurden staatenlos. Gaitano war schon damals eine bekannte Schriftstellerin. Sie schrieb für Zeitungen und hatte mit ihrem ersten Kurzgeschichtenband "Wilted Flowers" (Verwelkte Blumen) für Aufsehen gesorgt: In tiefgründigen Geschichten schilderte sie die Folgen der jahrzehntelangen Konflikte und Kriege im Sudan, das große Leid, die bittere Armut der Menschen.

Der sudanesischen Regierung war sie schnell ein Dorn im Auge. Stella Gaitano war Hasskampagnen ausgesetzt, verlor ihre Arbeit. 2011 ging sie in den Südsudan, in der Hoffnung, in dem jungen Staat herrsche mehr Gerechtigkeit. "Aber es gab wieder Korruption, es gab wieder Diskriminierung, und die politisch Verantwortlichen spielten verschiedene ethnische Gruppen gegeneinander aus", ­erzählt sie. Als Stella Gaitano öffentlich Kritik übte, diffamierte man sie als Nestbeschmutzerin und zensierte ihre Texte.

Nachdem im Südsudan 2013 Krieg ausbrach, kehrte die Autorin 2015 in den Norden zurück, nach Khartum. Doch war sie dort nur geduldet, musste vorsichtig sein, um nicht inhaftiert und abgeschoben zu werden. Auch beim sudanesischen Volksaufstand 2018/19 hielt sie sich im Hintergrund, dokumentierte aber das Aufbegehren der jungen Generation. Zwar sei Langzeitdiktator al-Baschir gestürzt worden, doch habe das Militär die Revolution gestohlen, stellt Stella Gaitano klar. Ihr schon vor dem Aufstand erschienener Debütroman "Eddo’s Soul", der die Abgründe eines zerrissenen Landes auslotet, erschien später auch auf Englisch. Es war das erste Werk einer Autor*in mit südsudanesischen Wurzeln, das international besprochen und ausgezeichnet wurde.

Spendet Bücher!

Ab 2020 habe sie wieder im Sudan ­reisen können, erzählt Stella Gaitano. Sie wollte sich für den Friedensprozess stark machen und bot in Darfur Workshops für kreatives Schreiben an. Sie habe die jungen Leute aufgefordert, mehr zu lesen, sich zu bilden. Doch die hätten ihr erklärt, in den armen, abgelegenen Regionen Darfurs könne man keine Bücher kaufen, es gebe auch kaum Büchereien. Zurück in Khartum startete Gaitano ihre Initiative "Make a difference by a book" ("Mit einem Buch etwas bewegen"). Sie rief öffentlich dazu auf, Bücher zu spenden. Mit Erfolg: Binnen weniger Monate kamen mehr als 22.000 Bücher zusammen. In Darfur und auch in anderen Krisenregionen, etwa im Bundesstaat Blauer Nil, in den abgelegenen Nuba-Bergen und auch in Armenvierteln von Khartum konnte sie innerhalb von zwei Jahren 14 Bibliotheken eröffnen. Die Ausleihe ist kostenlos, Freiwillige helfen bei der Organisation. Eine Bücherei befindet sich in einem ehemaligen Gefängnis, das nach der Revolution zu einem Frauen- und Jugendzentrum umgebaut wurde.

Stella Gaitano strahlt, wenn sie von ­ihrer Initiative spricht. Sie selbst habe als Kind bis zur 6. Klasse Probleme mit dem Lesen und Schreiben gehabt, gibt sie offen zu. Ihre Eltern konnten ihr nicht helfen, sie waren Analphabet*innen. "Aber meine Mutter erzählte uns jeden Abend Gute-Nacht-Geschichten. Wenn sie aus dem Zimmer ging, erzählte ich meinen beiden Schwestern im Zimmer einfach die Fortsetzung. Bis meine Mutter rief: 'Stella, schlaf jetzt!'" Irgendwann habe sie begonnen, ihre Geschichten aufzuschreiben. Ihre Kommiliton*innen an der Universität, wo sie Pharmazie studierte, hätten ihre Texte dann an eine Zeitung geschickt. So habe ihre Reise begonnen, erzählt Stella Gaitano lächelnd. Doch beim Gedanken an den jüngsten Gewaltausbruch verfinstert sich ihr Gesicht.. Die Autorin hofft inständig, dass die jungen Sudanes*innen weiter lesen statt zu kämpfen, und sie tut alles dafür, um ihre Initiative auch von Kamen aus zu unterstützen: "Das wird unsere Art der Revolution."

Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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