Amnesty Journal Russische Föderation 23. Juni 2023

Her mit der Palastrevolution!

Der russische Staatspräsident Wladimir Putin trägt einen Anzug, hält die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und steht in einem barocken Kaminzimmer.

Der russische Dissident und Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow analysiert, wie stark das System Putin

auf Korruption gebaut ist und ob Hoffnung besteht, es zu überwinden.

Von Tigran Petrosyan

In seinem Buch "Putinland – Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens" erklärt Leonid Wolkow einem westlichen Lesepublikum, wie das Regime im Kreml funktioniert. Der russische Dissident ist politischer Direktor der Antikorruptionsstiftung FBK, die der mittlerweile inhaftierte russische Oppositionelle Alexej Nawalny einst gegründet hat. Mittlerweile lebt Wolkow im Exil in Vilnius. Die Jahre seien den Menschen nach dem Zerfall der Sowjetunion als die schwierigste Zeit ihres Lebens in Erinnerung geblieben, erklärt er, "als Phase eines existenzbedrohenden wirtschaftlichen Chaos, wie der politischen Unsicherheit". Die Demokratie bedeutete für die postsowjetische russische Gesellschaft nicht etwa neu gewonnene Freiheit, sondern Unwägbarkeit, und viele empfanden dies als bedrohlich.

Dokumentation von Nawalnys Kampf

Anhand konkreter Beispiele zeigt Wolkow, dass die Putin-Regierung direkt nach Beginn ihrer ersten Amtszeit im Jahr 2000 den Föderalismus in Russland demontierte, indem sie vertikale Machtstrukturen in der Wirtschaft etablierte und das Land in einen "Mafiastaat" verwandelte. Das totalitäre politische System Russlands sei ganz und gar auf Korruption gegründet, schreibt Wolkow. Deshalb habe sich das Wahlkampfteam von Alexej Nawalny, zu dem auch Wolkow zeitweise gehörte, von Anfang an so beharrlich auf das Problem der Korruption konzentriert.

Der studierte Mathematiker und Programmierer schreibt bemerkenswert unterhaltsam und auch emotional. Er analysiert Protestbewegungen, an denen er selbst beteiligt war, wie die zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtungsbewegung, die er als spezifisch russisches Phänomen sieht. Für viele Menschen sei die Teilnahme an der Wahlbeobachtung eine wichtige Form der politischen Aktivität gewesen, nachdem die Regierung Demonstrationen immer wieder niedergeschlagen hatte. Als Vertrauter und jahrelanger Kollege Nawalnys dokumentiert Wolkow außerdem die wichtigs­ten Stationen in dessen Kampf gegen das Regime: die Kampagnen zur Moskauer Bürgermeisterwahl im Jahr 2013 und zur Präsidentschaftswahl im Jahr 2018 sowie den Giftanschlag auf ihn im Jahr 2020.

So, wie die Dinge standen, passten sie dem Westen gut ins Konzept, und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt passte dieser Zustand auch Putin.

Wolkow übt harte Kritik am Westen, der die Entwicklungen in Russland und die imperiale Politik Putins beharrlich ­ignoriert habe. So sei der russische Präsident auch nach der Annexion der Krim 2014 noch "als respektierter Staatsmann" auf allen großen internationalen Bühnen aufgetreten. Sanktionen gegen Russland seien kein Thema gewesen. "So, wie die Dinge standen, passten sie dem Westen gut ins Konzept, und bis zu einem bestimmten Zeitpunkt passte dieser Zustand auch Putin."

Am Ende entwirft Wolkow ein Szenario für die nahe Zukunft Russlands, das seiner Ansicht nach optimal wäre: "Ein akuter Elitekonflikt, der zu einer Palast­revolution und zur Entmachtung Putins führt. Das würde der Zivilgesellschaft einen enormen Möglichkeitsraum schaffen." Das klingt utopisch – wie aus dem hoffnungsvollen Programm von Alexej Nawalny.

Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Leonid Wolkow: Putinland. Der imperiale Wahn, die russische Opposition und die Verblendung des Westens. Droemer Knaur, München 2022, 240 Seiten, 22 Euro

WEITERE BÜCHER

Der Wille zur Freiheit

von Steffen Küßner

"Nur wer selbst brennt, kann andere entflammen", schreibt der Politiker und Menschenrechtsanwalt Gerhart Baum am Ende seines Buches. Und das tut er ohne Frage – auch mit 90 Jahren. Der bekannte Sozialliberale, der Amnesty International seit vielen Jahren solidarisch zur Seite steht, beleuchtet wichtige Stationen der Menschenrechtspolitik, erklärt ihre ideengeschichtlichen Grundlagen, würdigt Menschenrechtsverteidiger*innen und warnt vor Staaten und Bewegungen, die die "Herrschaft des Rechts" durch das "Recht des Stärkeren" ersetzen wollen.

Baum schreibt pointiert, verständlich und sehr persönlich. Die Schrecken von Naziherrschaft und Krieg machten ihn zum aufrechten Demokraten. Die Welt der Menschenrechte und des Völkerrechts bezeichnet er als sein Lebensgerüst, das durch den russischen Angriff auf die Ukraine ins Wanken geriet. Das Erschrecken darüber ist über das gesamte Buch hinweg greifbar. Den Menschen in Russland und der Ukraine fühlt sich Baum besonders verbunden: Sein Großvater stammt aus Charkiw, seine Mutter aus Moskau.

Die auf Menschenwürde und Friedenssicherung gegründete Weltordnung steht auf dem Spiel, warnt Baum. Er ruft dazu auf, sie "mit Zähnen und Klauen" zu verteidigen. Und er ist überzeugt: Der Wille, frei zu leben, ist jedem Menschen angeboren und lässt sich auch in Russland und China auf Dauer nicht unterdrücken.

Das Buch diskutiert aktuelle Themen wie die Abschottung Europas oder die Macht von Digitalkonzernen. Etwas unterbelichtet bleibt das Verhältnis von bürgerlichen zu sozialen und wirtschaftlichen Rechten. Dabei ist die zunehmende soziale Ungleichheit vielleicht ein Grund, warum das freiheitlich-demokratische Modell (…) weltweit an Anziehungskraft (verliert)", wie Baum selbst konstatiert.

Dennoch: ein aufrüttelndes Buch, das motivieren will, sich mit "Engagement und Leidenschaft" einzumischen.

Gerhart Baum: Menschenrechte. Ein Appell. Benevento, Elsbethen 2022. 240 Seiten, 18 Euro

Rassistische Provinzjockel

von Nina Apin

In Money, Mississippi, gehen seltsame Dinge vor sich: Seit dem Mord an einem Familienvater ist die Ruhe der Kleinstadt dahin. Eine landesweite Mordserie, in der die Opfer stets weiße Rednecks mit Rassisten-Stammbaum sind, nimmt hier ihren Ausgang. Dass am Tatort je ein toter, übel zugerichteter Schwarzer zu sehen ist, oft sogar derselbe, beunruhigt bald auch das FBI. Zwei Special Agents werden entsandt, um den "Provinzjockeln" beim Ermitteln zu helfen. Dass die beiden Schwarz sind, sorgt in Money auch noch Anfang des 21. Jahrhunderts für Aufsehen.

"Die Bäume" ist eine beißende Südstaatensatire im Krimi-Gewand: Da stehen sich dümmliche weiße Cops mit verspiegelten Sonnenbrillen beim Ermitteln im Weg, der örtliche Rechtsmediziner Reverend Doktor Cad Fondle ist auch Laienprediger und amtierender "Grand Kleagle des Ehrwürdigen Ordens der Ritter vom Majestätischen Ku-Klux-Klan der Vereinigten Staaten von Amerika". Fondle hält Obama für einen Klugscheißer und plant schon die nächste "Kreuzbeleuchtung" – bis auch er getötet wird. Am Tatort wieder eine Leiche, die einem 1955 gelynchten 15-Jährigen beunruhigend ähnlich sieht. Das Werk von Black Rights-Terroristen – oder die Rückkehr unschuldig Ermordeter aus dem Jenseits?

Der Autor Percival Everett, selbst aus Georgia, spielt virtuos mit den Ängsten ­einer weißen Bevölkerung, die mit der Schuld leben muss, zwischen 1877 und den 1950er Jahren mehr als 4.000 Schwarze Männer, Frauen und Kinder erschlagen, aufgeknüpft, erschossen oder verbrannt zu haben. Allerdings sind Everetts literarische Mittel nichts für empfindsame Seelen: Das N-Wort wird ebenso inflationär verwendet wie Flüche, und manches Wortspiel wirkt trotz der schwungvollen Übersetzung im Original sicher besser. Doch verbirgt sich hinter dem Klamauk eine schmerzhafte, lesenswerte Analyse des Rassismus als DNA der US-amerikanischen Gesellschaft.

Percival Everett: Die Bäume. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Carl Hanser Verlag, München 2023, 368 Seiten, 26 Euro.

Gegen das Wegschauen

von Marlene Zöhrer

Gerade mal zwei Tage sind die zehnjährige Aniyah und ihr fünfjähriger Bruder Noah in einer Pflegefamilie, als sie aus den Nachrichten von der Entdeckung eines neuen Sterns erfahren. Aniyah und Noah sind sich sicher: Der Stern ist ihre Mutter. "Das Herz meiner Mum ist letzte Woche zu einem Stern geworden. (…) Als der Polizist und die Frau im schwarzen Kostüm kamen und mit uns gesprochen haben, habe ich die Explosion gehört, als Mums Herz ihren Körper verließ." Eingebettet in ein spannendes Abenteuer, das die Kinder bis ins Royal Greenwich Observatory in London führt, werden die Hintergründe für den Tod der Mutter langsam enthüllt. Nach und nach klärt sich auf, warum die Geschwister in einer Pflegefamilie untergebracht wurden.

Die kindlich-naive Erzählperspektive erlaubt es der Autorin Onjali Q. Raúf häusliche Gewalt behutsam zu thematisieren. So umschreibt Aniyah die Übergriffe des Vaters mit harmlos klingenden Wendungen wie "Möbelrücken"; die Flucht in ein Frauenhaus erklärt die Mutter ihren Kindern mit einem Versteckspiel. Auch Mechanismen der Vertuschung und Rechtfertigung werden auf diese Weise offengelegt: "Grandma Irene und Tante Kathy [hatten] Mum immer für dumm gehalten und sie eine Lügnerin genannt, wenn sie ihnen erzählen wollte, warum unsere Teller schon wieder alle fehlten oder warum sie im Sommer Pullis mit langen Ärmeln tragen musste. Einmal, als ein Polizist zu uns kam, nachdem Dad so lange Möbel verrückt hatte, dass der Küchentisch und drei Stühle kaputt gegangen waren, sagte der Mann zu Mum, sie solle nicht so 'hysterisch' sein."

Die Autorin ist Gründerin der Menschenrechtsorganisation Making Herstory, die sich gegen Gewalt gegen Frauen engagiert. Mit ihrem Kinderroman ist ihr eine bewegende Geschichte gelungen, die auch als Appell gegen das Wegschauen zu lesen ist.

Onjali Q. Raúf: Der Stern vor meinem Fenster. Aus dem Englischen übersetzt von Katharina Naumann. Atrium, Zürich 2023, 304 Seiten, 17 Euro. Ab 10 Jahren.

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