Amnesty Journal Niederlande 04. Dezember 2017

Ohne die Mächtigen

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Mit dem Internationalen Strafgerichtshof schuf die Staatengemeinschaft ein ­Instrument zur Durchsetzung des Völkerstrafrechts. Dem Gericht blies jedoch von Anfang an heftiger Gegenwind entgegen.

Von Andreas Zumach

Es war einer der bedeutendsten zivilisatorischen Fortschritte seit Ende des Kalten Krieges: Als im August 1998 der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court, ICC) gegründet wurde, war die Hoffnung groß, dass die Straflosigkeit für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskrieg ein Ende hat. Das Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg hatte diese vier Straftatbestände erstmals definiert. Doch es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, ehe mit dem Römischen Statut ein internationales Gericht geschaffen wurde, das auf ähnlichen Grundlagen agiert: 122 UN-Mitgliedsstaaten beschlossen vor 19 Jahren, einen Strafgerichtshof mit weltweiter Zuständigkeit einzurichten. Dieser nahm schließlich 2002 seine Arbeit auf. Möglich wurde dies unter anderem dank jahrelangen Drucks einer globalen Koalition von Nichtregierungsorganisationen, darunter Amnesty International.

Der Internationale Strafgerichtshof stand allerdings seit Beginn seiner Arbeit in der Kritik. Zuletzt schien er gar von einer, wie seine Gegner sagen, "Austrittswelle" erfasst zu werden: Drei afrikanische Staatschefs kündigten 2016 an, aussteigen zu wollen: Burundis Präsident Pierre Nkurunziza, Jacob Zuma an der Spitze Südafrikas und der Anfang dieses Jahres nach verlorener Wahl aus dem Amt gedrängte autoritäre Herrscher Gambias, Yahya Jammeh. Die Union der Afrikanischen Staaten prüft gar einen kollektiven Austritt ihrer Mitglieder. Die Begründung: Der Gerichtshof sei "ein Werkzeug des Westens", das "allein gegen afrikanische Regierungen" eingesetzt werde.

Burundi reagierte mit dem Ausstieg offensichtlich auf das von Chefanklägerin Fatou Bensouda 2016 eingeleitete Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das im Oktober 2017 eröffnet wurde. Gambia, wo Bensouda einst Justizministerin war, muss ebenfalls mit Ermittlungen des Strafgerichtshofs rechnen. Dessen Richter "widmen sich der Verfolgung und Erniedrigung dunkelhäutiger Menschen", hatte Gambias Präsident Jammeh geschimpft, ehe er im Dezember 2016 abgewählt wurde. Allerdings hat sein Nachfolger Adama Barrow im Februar 2017 bekannt gegeben, den Austritt nicht zu vollziehen. Auch aus Südafrika gibt es ermutigende Zeichen: Hier hat das Oberste Gericht den von Zuma erklärten Rückzug inzwischen als verfassungswidrig eingestuft, weil das Staatsoberhaupt das Parlament nicht konsultiert hatte.

Auch in der Afrikanischen Union wird dem Strafgerichtshof immer wieder rassistisches und imperialistisches Handeln unterstellt. Doch nur auf den ersten Blick scheinen diese Vorwürfe berechtigt. Zwar stammen alle acht bislang Verurteilten aus Afrika. Und neun der derzeit laufenden zehn Untersuchungsverfahren betreffen afrikanische Staaten. Für diese ­statistische Häufung gibt es allerdings einen Grund: Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es die allermeisten Bürgerkriege weltweit und andere gewalttätige Konflikte – und damit werden dort auch die Verbrechen am häufigsten verübt, für die der Strafgerichtshof zuständig ist.

Hinzu kommt, dass fast die Hälfte der Untersuchungsverfahren von den Regierungen der betroffenen afrikanischen Staaten selbst beantragt wurden: Mali, Uganda, Demokratische Republik Kongo und Zentralafrikanische Republik. Der Grund: Die nationalen Gerichte wären zu eigenen Verfahren nicht in der Lage gewesen. Zwei weitere Verfahren gegen Tatverdächtige in Libyen und im Sudan wurden dem Strafgerichtshof vom UN-Sicherheitsrat übertragen. Zudem führt das Gericht derzeit in einer Vielzahl von Regionen außerhalb Afrikas Vorermittlungen durch, die ebenfalls zu Anklagen führen können – unter anderem in Afghanistan, wo mutmaßliche Verbrechen von US-Soldaten untersucht werden.

Das größte Manko des Strafgerichtshofs ist, dass die größten und bevölkerungsreichsten Staaten der Erde nicht zu den Mitgliedern zählen – weder Russland und China noch Indien und die USA. Das hat die Hoffnungen auf ein Ende der Straflosigkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Anfang an getrübt und die Erwartungen an das Gericht gesenkt. Ohne den Beitritt der Schwergewichte kann der Strafgerichtshof die Erwartung kaum erfüllen, schwerste internationale Verbrechen zu ahnden. Dieses Defizit ist allerdings keine Besonderheit des Haager Gerichts, sondern liegt in der Natur des Völkerrechts.

Es beruht auf Vereinbarungen zwischen Nationalstaaten und ist damit immer politisch.

Doch so wünschenswert es wäre, dass sich auch US-Soldaten oder der frühere Präsident George Bush wegen mutmaßlicher Verbrechen im Irakkrieg 2003 juristisch verantworten müssten: Dass diese Verfahren nicht stattfinden, ist kein Argument gegen die Existenz des Gerichtshofs. Selektive Gerechtigkeit ist immer noch besser als überhaupt keine Gerechtigkeit.

Dass der Strafgerichtshof durchaus Großmächte beindrucken kann, zeigt die Erklärung des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom Oktober 2016 zum Rückzug seines Landes aus dem Gerichtshof wegen dessen angeblich "mangelnder Effizienz". Von einem tatsächlichen Rückzug konnte allerdings keine Rede sein, denn Moskau hatte das Statut zwar unterschrieben, aber ähnlich wie die USA nie ratifiziert. Auslöser für Putins Rückzugserklärung waren ganz offensichtlich Voruntersuchungen zu mutmaßlichen russischen Verbrechen auf der Krim, in der Ostukraine und während des Georgienkonflikts 2008.

Eine weitere Kritik entzündet sich an der langen Dauer der Verfahren. Bis zum ersten Schuldspruch – der Verurteilung des ehemaligen kongolesischen Milizenführers Thomas Lubanga 2012 – vergingen zehn Jahre. Grund dafür ist zum einen der ­erhebliche Aufwand bei der Verfolgung völkerstrafrechtlicher Verbrechen: Schon die Beweisfindung in fernen Krisenregionen stellt die Ermittler vor gewaltige Herausforderungen. Im Verfahren müssen sämtliche Dokumente und Zeugenaussagen in verschiedene Sprachen übersetzt und auch die Opfer in den Strafprozess integriert werden. Soll das Gericht keine unseriösen Schnellschüsse produzieren, sondern gründlich und unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze arbeiten, lassen sich Verzögerungen nicht vermeiden.

Hinzu kommt ein zweiter Grund: Viele Mitgliedsstaaten haben dem Strafgerichtshof bis heute nicht die dringend benötigten finanziellen, personellen und logistischen Ressourcen zur Verfügung gestellt. Es ist daher wichtig, dass die Zivilgesellschaften weiterhin Druck auf ihre Regierungen ausüben, damit dem Gericht der Rücken gestärkt wird.

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