Amnesty Journal 26. Januar 2022

Raue Realität

Eine Person in einem roten Overall mit einer schwarzen Maske im Gesicht, auf der ein Dreieck abgebildet ist, bewacht mit einem Gewehr in den Händen eine Gruppe von Menschen in Trainingsanzügen, die in Reih und Glied stehen.

Um Leben und Tod spielen: Szene aus der Serie "Squid Game".

Die Netflix-Serie "Squid Game" erfährt international enorme Resonanz. Sie spiegelt die Situation von Beschäftigten und Gewerkschafter_innen in Südkorea wider – wenn auch überzeichnet.

Von Felix Lill

Für sein Leben hätte sich der Gewerkschaftsführer Han Sang-gyun noch vieles vorstellen können. Dass es die Blaupause für einen Blockbuster werden würde, war ihm nicht durch den Kopf gegangen. "Ich finde die Geschichte grausam", sagt er. Aber er sagt auch: "Ich bin dankbar, dass die Hauptperson eine Würdigung der gefeuerten Arbeiter_innen von Ssangyong darstellt." In diesem Zu-sammenhang, sagt er, passe die Grausamkeit, wenn auch in überzogener Form, ins Bild.

Als sich der 59-jährige Han Sang-gyun zum ersten Mal die Netflix-Serie "Squid Game" ansah, konnte er seine Augen nicht vom Bildschirm abwenden. "Diese direkte Beschreibung der herzlosen Realität in Südkorea. Es ist eine Gesellschaft, in der die Siege­r_in­nen alles bekommen." Und wo die Verlierer_innen – so die Logik der Geschichte – um Leben und Tod zocken müssen, um vielleicht eine neue Chance zu erhalten. "Aber der bedingungslose Kampf der Unterdrückten", sagt Han San-gyun, "der ähnelt unserer Sache im wahren Leben."

142 Millionen Haushalte schauen zu

Die Kapitalismusdystopie, in der viele den Gewerkschafter Han wiedererkennen, bricht seit Wochen Rekorde. Obwohl sie erst ab Mitte September ausgestrahlt wurde, war sie schon im Oktober in mehr als 60 Ländern die beliebteste Show. Mehr als 142 Millionen Haushalte haben die Serie laut Netflix bisher gesehen. Der Finanzdienstleister Bloomberg schätzte den Wert der Marke auf rund 900 Millionen US-Dollar. Und vor Kurzem wurde angekündigt, dass es bald eine zweite Staffel geben soll.

Die Handlung ist schnell erzählt: ­Seong Gi-hun, einst Chauffeur beim ­imaginären Automobilkonzern Dragon Motors, ist nun arbeitslos und bei Kredit­haien verschuldet. Eines Abends wird der geschiedene Vater dazu überredet, an Spielen teilzunehmen, die ihm Schuldenfreiheit garantieren, wenn er sich gegen alle anderen Spieler_innen durchsetzt. In seiner Hoffnungslosigkeit nimmt Seong die Herausforderung an. Genau wie 455 weitere Personen.

Unter ihnen befinden sich viele, die typische Kandidat_innen sind für ein Abrutschen in die Armut: Da ist der ausgebeutete Arbeitsmigrant aus Südasien, dem die Lohnzahlung verweigert wurde, oder die aus Nordkorea Geflüchtete, die im südkoreanischen Kapitalismus nicht zurechtkommt. Auch Senioren in Altersarmut, geschiedene Frauen mit großen Aufgaben und Verbindlichkeiten sowie prekär beschäftige junge Erwachsene haben zahllose Vorbilder in der Realität Südkoreas.

Haft für Engagement in Gewerkschaften

In der Serie "Squid Game" treten solche Charaktere gegeneinander in Spielen an, die man in dem ostasiatischen Land aus der Kindheit kennt. Aber hier werden die Verlierer_innen nicht bloß ausgelacht, sondern erschossen, Runde für Runde. ­Seong Gi-hun hangelt sich von Aufgabe zu Aufgabe und ähnelt dabei auffallend Han Sang-gyun – der als Gewerkschafter beim Automobilkonzern Ssangyong für Furore sorgte.

In der Realität werden die sozialen Verlierer_innen zwar nicht erschossen. Doch kommt es in Südkorea auch nach dreieinhalb Jahrzehnten Demokratie durchaus vor, dass Menschen ins Gefängnis kommen, wenn sie Proteste anzetteln oder sich gewerkschaftlich engagieren. So wurde Han Sang-gyun zu zwei Jahren Haft verurteilt, nachdem er als Vorsitzender der innerbetrieblichen Gewerkschaft bei Ssangyong Proteste gegen Massenentlassungen initiiert hatte und es daraufhin zu einer Ausschreitung gekommen war.

Ssangyong, das zuvor von der bald in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Shanghai Automotive Industry Corporation übernommen worden war, hatte 2.600 Personen gekündigt. Proteste der Belegschaft schlug die Polizei nieder. Weil während der Proteste ein Helikopter und ein Kran beschädigt worden waren, wurden die Beschäftigten dazu verurteilt, 2,5 Milliarden Won (rund 1,85 Millionen Euro) zu bezahlen. "Wir können das Geld nicht aufbringen", sagt Han Sang-gyun.

Politischer Einfluss großer Konzerne

Proteste gegen Massenentlassungen und die verheerenden Folgen finden auch in "Squid Game" Erwähnung. Sie sind im echten Südkorea ein Extrem-, aber kein Einzelfall. Allein zwischen 2015 und 2016 dokumentierte Südkoreas Allgemeiner Gewerkschaftsbund KCTU 56 Fälle von Gewerkschafter_innen, die für "Vergehen gegen die öffentliche Ordnung" in Haft kamen und hohe Strafen zahlen muss­ten.

Präsident Moon Jae-in, der sich vor seiner politischen Karriere als Menschenrechtsanwalt einen Namen machte und Südkorea gerechter machen wollte, hat in den vergangenen Jahren wenig dafür getan, dass sich die prekäre Lage von Gewerkschafter_innen und Arbeiter_innen bessert. Ein Grund hierfür könnte der große politische Einfluss der koreanischen Konzerne von Samsung über Hyundai bis LG sein, die wenig Interesse an stärkeren Arbeitnehmerrechten haben. Für den Drehbuchautor und Regisseur von "Squid Game", Hwang Dong-hyuk, sind die systemische Ausbeutung und Unterdrückung die Kehrseite des weltweiten Erfolgs der Konzerne: "Die Gewinner unserer Gesellschaft stehen symbolisch auf den Körpern der Verlierer", sagt er.

"Lasst uns zusammen arbeiten!"

Inwieweit die Serie das heutige Süd­korea realistisch abbildet, ist umstritten. Die linksliberale Tageszeitung Hankyoreh lobte die Produktion in mehreren Artikeln. Nicht nur auf den oft grausamen Umgang mit den Schwächeren der Gesellschaft werde aufmerksam gemacht, sondern auch auf das wachsende Problem der Privatverschuldung. "Südkoreas selbstständige Kleinunternehmer müssen ihr eigenes 'Squid Game' spielen", ­titelte die Zeitung Anfang Oktober. Durch die Pandemie sieht sich laut einer Umfrage fast die Hälfte aller Kleinunternehmer_innen von der Pleite bedroht.

Eunsun Yang von Amnesty International Korea dagegen erkennt in der Erfolgsgeschichte an den Bildschirmen vor allem eine Geschichte. "Die Serie beschreibt nur einige Teile unserer Gesellschaft sehr dramatisch und extrem, und zwar als Film, nicht als Dokumentation", sagt Yang und betont, dass dies ihre private Meinung sei. "Ich bin auch der Ansicht, dass es noch immer Diskriminierung gibt, und wir haben einen weiten Weg vor uns." Allerdings arbeite man ­derzeit an einem Anti-Diskriminierungsgesetz, das einige der Gerechtigkeitsprobleme beheben soll. Ob das Gesetz jemals vom Parlament verabschiedet wird, ist unklar.

Wenn dagegen Han Sang-gyun die ­Serie sieht, überwiegen für ihn die Parallelen zum wahren Südkorea. "Sogar im Überlebenskampf gibt der Protagonist nicht auf, sich um die Liebe und Empathie anderer Menschen zu bemühen. Das hat mich sehr bewegt." In ihren Streiks gegen die umstrittenen Entlassungen forderten die Arbeiter_innen rund um Han Arbeitgeber_innen immer wieder auf: "Lasst uns zusammenarbeiten!". Der Slogan wurde in Südkorea als Geste der Solidarität berühmt – und nun in einer weltweit erfolgreichen Serie verarbeitet.

Squid Game, Netflix 2021, Staffel 1, Drehbuch und Regie: Hwang Dong-hyuk.

Felix Lill ist freier Südostasien-Korrespondent. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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