Amnesty Journal Marokko 17. August 2020

Lockdown im Transit

Im Kampf gegen unerwünschte Migration baut die EU die Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Transitländern aus. In Marokko setzen Repressionen staatlicher Sicherheitskräfte und Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie Migrantinnen und Migranten unter Druck.

Von Phillip John Koller

Während ein jüngst veröffentlichter UN-Bericht die tödlichen Risiken und Formen extremer Gewalt dokumentiert, denen subsaharische Migrantinnen und Migranten auf dem Weg zum Mittelmeer ausgesetzt sind, konzentriert sich die EU-Flüchtlingspolitik weiterhin auf Migrationsabwehr. Mitte Juli haben die EU-Innenminister bei einer Konferenz beschlossen, die Zusammenarbeit mit der Polizei in nordafrikanischen Transitländern zu verstärken. Ziel sei es, Tote im Mittelmeer zu verhindern und gegen Schlepperkriminalität vorzugehen, erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer.

Tatsächlich dürfte es den EU-Ländern darum gehen, Migrantinnen und Migranten noch in Nordafrika aufzuhalten. "Die Konferenz findet statt, während es den Mitgliedsstaaten nicht gelingt, sich auf ein funktionierendes gemeinsames Asylsystem in Europa zu einigen", sagt Franziska Vilmar, Asyl-Expertin von Amnesty International: "Weil nicht alle europäischen Länder dazu bereit sind, Schutzsuchende aufzunehmen, sollen nordafrikanische Staaten weiterhin dafür sorgen, dass Menschen auf der Flucht die EU-Außengrenzen gar nicht erst erreichen."

Die Folgen der EU-Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften in den Transitstaaten zeigen sich in Marokko. Seit den neunziger Jahren ist der Staat an der Nordwestspitze Afrikas zu einem wichtigen Knotenpunkt der Migration nach Europa geworden. Zwischen Januar 2015 und November 2019 haben laut UNHCR rund 153.000 Menschen von Marokko und Algerien aus über die westlichen Mittelmeerrouten die EU erreicht. Die fortschreitende Militarisierung der europäischen Flüchtlingspolitik und die Verschiebung des EU-Grenzschutzes nach Nordafrika machen die Reise nach Europa jedoch immer gefährlicher: Im genannten Zeitraum starben mindestens 1.475 Migrantinnen und Migranten bei dem Versuch, das Meer in Richtung Spanien zu überqueren.

Weil nicht alle europäischen Länder dazu bereit sind, Schutzsuchende aufzunehmen, sollen nordafrikanische Staaten weiterhin dafür sorgen, dass Menschen auf der Flucht die EU-Außengrenzen gar nicht erst erreichen.

Franziska
Vilmar
Asyl-Expertin von Amnesty International

Während sich das marokkanische Königreich die Migrationsbekämpfung im Auftrag Europas fürstlich vergüten lässt – alleine 2018 erhielt die Regierung in Rabat hierfür 140 Millionen Euro aus dem Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika – hängen Tausende Migrantinnen und Migranten für Wochen, Monate oder Jahre im Land fest. Die Mehrheit von ihnen ist zu einem Leben in der Illegalität gezwungen. Armut, Unsicherheit sowie die ständige Angst vor Repressionen und Polizeiwillkür prägen ihren Alltag. Staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben die Situation weiter verschärft.

Über die Runden kommen

Das autoritäre Regime reagierte auf die Corona-Krise mit einem viermonatigen Lockdown. Mitte März wurden die Landesgrenzen geschlossen, der Gesundheitsnotstand ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt. Ende Juli wurden, nach zwischenzeitlichen Lockerungen, acht Großstädte komplett abgeriegelt. Überwacht werden die Maßnahmen vom bestens ausgebauten Sicherheitsapparat.

"Durch die Corona-Pandemie ist alles noch schlimmer geworden", berichtet Sandra* Mitte Juni am Telefon. Die 43-Jährige aus der Zentralafrikanischen Republik verkauft Kunsthandwerk, um sich und ihre Tochter zu ernähren. Seit vier Jahren sind sie in Tanger gestrandet. Die touristische Hafenmetropole an der Straße von Gibraltar liegt keine 20 Seemeilen vom südspanischen Tarifa entfernt. "Jetzt ist alles geschlossen. Seit drei Monaten gibt es keine Touristen mehr. Wir verdienen im Moment gar nichts", sagt Sandra. Wie lange sie noch von ihrem Ersparten leben kann, weiß sie nicht. Die Menschen in ihrem Umfeld seien verzweifelt. "Viele überleben nur noch durch Betteln. Sie müssen trotz der Ausgangssperre auf die Straße gehen. Aber was sollen wir machen? Wir und unsere Kinder müssen ja etwas essen."

Ausgangssperren und verschärfte Polizeikontrollen bedeuten für Migrantinnen und Migranten, von einem Tag auf den anderen ihr Einkommen zu verlieren. Hausangestellte wurden auf die Straße gesetzt, Restaurants und Baustellen geschlossen. Migrantinnen und Migranten, die das Geld für ihre Miete nicht mehr aufbringen können, landen in der Obdachlosigkeit. Staatliche Hilfsprogramme gibt es für die Menschen ohne Aufenthaltspapiere ebenso wenig wie einen gesicherten Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem.

Jagd im Auftrag Europas

Hinzu kommen anhaltende Repressionen. Nachdem Marokko 2018 vorübergehend zum wichtigsten Transitland für subsaharische Migrantinnen und Migranten auf dem Weg nach Europa wurde, setzen die EU, Spanien und Marokko nun wieder alles daran, diese Menschen aufzuhalten. "Die mit EU-Geldern aufgerüsteten, marokkanischen Forces Auxiliaires machen Jagd auf Migrantinnen und Migranten und halten diese brutal davon ab, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen", sagt Carla Höppner, Aktivistin beim Alarm Phone, einer selbstorganisierten Notrufzentrale für Migrantinnen und Migranten in Seenot. Gewaltsam würden sie daran gehindert, aufs Wasser zu kommen; ihre Schlauchboote zerstört; Rettungswesten beschlagnahmt; Rucksäcke, Telefone und Bargeld von den marokkanischen Sicherheitskräften entwendet. "Die Polizei dringt gewalttätig in die Wohnungen von Migrantinnen und Migranten ein, nimmt die Menschen auf der Straße fest und deportiert sie anschließend in den Süden Marokkos und in die Westsahara", sagt Höppner.

Ohne richterlichen Beschluss festgehalten

Mitten in der Corona-Krise werden Migrantinnen und Migranten ohne richterlichen Beschluss in staatlichen Internierungszentren festgehalten – unter Missachtung aller Gesundheitsvorschriften, wie das marokkanische Rechercheportal LeDesk im Mai dokumentierte. Gleichzeitig verstärkt die Pandemie die Notsituation der Frauen und Männer im Transit und erhöht so den Druck, das Land Richtung Europa zu verlassen. Weil marokkanische Sicherheitskräfte die Routen über das Mittelmeer abriegeln, weichen sie auf die noch tödlicheren Routen im Atlantik aus. In den ersten drei Monaten des Lockdowns kamen mindestens 137 Menschen auf dem Seeweg zu den Kanarischen Inseln ums Leben.

* Name von der Redaktion geändert

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