Amnesty Journal Libanon 04. Juni 2018

Der Staub des Krieges

Ein Mann steht mit dem Rücken zur Kamera auf einem Baugerüst und blickt in die Ferne, wo man Stadt und Meer sieht

Über den Dächern von Beirut. Auf libanesischen Baustellen arbeiten viele syrische Flüchtlinge.

Der syrische Regisseur Ziad Kalthoum setzt in seinem Dokumentarfilm "Der Geschmack von Zement" geflüchteten Arbeitern in Beirut ein Denkmal aus ­fantastischen Bildern.

Von Jürgen Kiontke

Welchen Inhalt hat Krieg? Mord und Totschlag, Zerstörung und Aufbau sicherlich. Und noch fokussierter: das Zersprengen von Baustoffen. Diese Perspektive wählt der 37-jährige syrische Regisseur Ziad Kalthoum für seinen Film "Der Geschmack von Zement". Egal ob Bomben fallen und die Toten und Verletzten aus den Trümmern geborgen werden müssen oder der Krieg vorbei ist und die Infrastruktur wieder aufgerichtet werden muss: Es wird auf jeden Fall staubig sein.

Kalthoums Film handelt vom Leben syrischer Arbeiter, die auf den Hochhausbaustellen in Beirut ein Auskommen gefunden haben. Ihr Leben als Flüchtlinge ist stark reglementiert. Sie wohnen in, nein, unter der Baustelle. Abends ziehen sie sich in ein Kellerloch zurück, wo sie auf dem Boden schlafen. Ausgang nach 19 Uhr ist ihnen verboten, das Leben bestimmen die Baustoffe. Der Zement ist überall, die Arbeit ist gefährlich.

Aber mit der Beschreibung des Inhalts wird diesem Film kaum Genüge getan. Kalthoum, selbst 2013 vor dem Krieg geflohen, findet so schräge Perspektiven, so außergewöhnliche Einstellungen, um das Leben der Menschen und ihre Arbeit zu bebildern, dass man ihm dafür jeden Filmpreis überreichen möchte. Für das Thema Zerstörung dienen ihm Panzerfahrten durch die zerlegten Städte Syriens, die Kamera auf dem Geschützturm montiert. Die Kanone kracht, Gebäudetrümmer fliegen durch die Gegend, Staub verteilt sich. Jene Zementstaubwolken, die sich wieder aufwölben, wenn nachts eine Bombe in ein Wohnhaus gefallen ist und Rettungsmannschaften und Nachbarn ­versuchen, Verletzte zu bergen. Drohnenflüge und Unterwasserkamerafahrten besorgen weitere Bilder – eigentlich ist dieser Film selbst wie ein Kriegseinsatz.

Dass das Herkunftsland der Arbeiter in Trümmern liegt und sie das Nachbarland aufbauen, ist gefilmter Zynismus. Aber der Einsatz syrischer Arbeiter im Libanon hat auch Tradition, wie der Erzähler im Off-Text erklärt. Schon die Vorfahren gingen dort arbeiten. "Vaters Hände sahen aus wie der Stadtplan Beiruts", heißt es an einer Stelle. Die Aufzüge fahren hier auf dem Kopf stehend nach unten, durch die Rohbau-Etagen leuchtet der Sonnenuntergang. Hier macht ein Künstler entschiedene Anleihen beim expressionistischen Stummfilm der zwanziger Jahre – mit modernster technischer Ausstattung. Nicht ohne sich Zeit zu nehmen für das zutiefst Menschliche: Morgens kämmen sich die Arbeiter mit Blick in einen abgenutzten Handspiegel – einen der wenigen persönlichen Gegenstände –, obwohl sie wahrscheinlich den ganzen Tag von niemandem gesehen werden ­außer den Kollegen. Ein sehr privater Moment.

Dieser Film steuert unaufhaltsam auf seinen cineastischen Höhepunkt zu: eine Rundfahrt durch Beirut, gefilmt aus einem rotierenden Zementmischer heraus. Spätestens hier fährt das Publikum Karussell. "Ich setze den Betrachter selbst in die erste Person", sagt der Regisseur. "Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln des Kinos mache ich exemplarisch die Situation der syrischen Arbeiter in Beirut spürbar. Ich setze hierbei meine eigenen Erfahrungen als Geflohener in meine Filmsprache um: das Gefühl des Abwartens, das Hereinbrechen der Traumata in der Nacht, das Gefangensein in den Mühlen unserer Gesellschaft."

Dies ist wahrscheinlich einer der besten Dokumentarfilme des Jahres.

"Taste of Cement – Der Geschmack von Zement". D/LBN 2017. Regie: Ziad Kalthoum. Kinostart 24. Mai 2018

 

Film- und Musiktipps

Von Opfern und Träumen

Von Opfern und Träumen

Wie sind Frauen gestrickt, die Karriere in der Kunst machen? Mitra, eine ehrgeizige Künstlerin, will das wissen. Und nun bekommt sie die Chance, einen Film über ihre Heldin zu drehen: die ägyptische Sängerin Oum Kulthum – die so berühmt war, dass zu ihrer Beerdigung 1975 in Kairo Millionen Menschen kamen und den Trägern den Sarg abnahmen, um ihn drei Stunden lang durch die Menge wandern zu lassen. Der Plan, sich Kulthums Leben mit einem eigenen Kunstprojekt zu erschließen, führt Mitra zwangsläufig zu der Frage, welche Opfer man in einer restriktiven Umgebung bringen muss, um seine Träume zu leben. Widerstände seitens der Produzenten und im Drehteam machen ihr zu schaffen. Zudem verschwindet ihr Sohn auch noch während der Dreharbeiten. Die Regisseurin operiert an der Grenze von Selbstfindung und Zusammenbruch. Shirin Neshat nähert sich in ihrem zweiten Werk nach "Women Without Men" (2009) der berühmten Sängerin in einer verschachtelten Film-im-Film-­Erzählung über weibliche Identitätssuche auf verschiedenen Ebenen. Sie verknüpft exzellent fotografierte Spielfilmszenen mit historischen Aufnahmen; in jeder Einstellung ist der Wille zur Kunst spürbar. Eine kraftvolle Arbeit, die sie selbst in die Tradition des Ausdrucks und der Intensität von Künstlerinnen in der arabischen Welt stellt.

"Auf der Suche nach Oum Kulthum". D/AUT/I/MAR 2017. Regie: Shirin Neshat, Darstellerinnen: Neda ­Rahmanian, Yasmin Raeis. Kinostart: 7. Juni 2018

Globale Bande

"Wir lebten im Paradies", sagt Tochter Yasmin zu Beginn des Films "Global Family". Und es stimmt: Vater Cabtan Shaash war ein berühmter Fußballspieler. Sein Anhang wäre heute womöglich prominent – hätte es ab 1989 in Somalia keinen Bürgerkrieg gegeben: Seitdem sind die Shaashs Teil einer Internationale der Flucht. Wie es ist, wenn man in alle Welt verstreut wird, davon lassen die Regisseure Melanie Andernach und Andreas Köhler die Mitglieder der globalen Familie Shaash berichten. Es ist ein Leben in Unruhe. Sohn Aden ist obdachlos in Italien, der größere Teil wohnt seit den neunziger Jahren in Deutschland und kommt einigermaßen zurecht, und Großmutter Imra lebt in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Dort kann sie nun jedoch nicht mehr bleiben. Ein Familiennachzug scheint nicht möglich. Und Imra möchte sowieso am liebsten zurück nach Somalia, wo jedoch verfeindete Clans herrschen. Der Film erzählt entlang der Wegstrecke moderner Fluchtgeschichten: Menschen auf kleinen Booten, Flüchtlingslager, Todesangst. "Die Familie steht stellvertretend für viele, die in die Diaspora gezwungen wurden, wegen Krieg, Vertreibung, Hunger", sagt Andernach. ­Ereignisse, die ihre Spuren hinterlassen. "Früher konnte ich kein Blut sehen", sagt Sohn Aden. "Seit dem Krieg ist das ­anders." Der Gewinner des Preises "Bester Dokumentarfilm" auf dem Max-Ophüls-Festival 2018 in Saarbrücken ist ein Werk über Erfahrungen, die die Protagonisten lieber nicht hätten machen müssen.

"Global Family". D 2018. Regie: Melanie Andernach, Andreas Köhler. Kinostart: 28. Juni 2018

Träume und Traumata

Sie sind die Shooting-Stars des Tuareg-Rock: die junge Band Imarhan aus Tamanrasset im Süden Algeriens, an der Grenze zu Mali. Von dort bis an die Küste des Mittelmeers sind es fast 2.000 Kilometer. Im Videoclip zu "Ammazan", dem Opener ihres zweiten Albums "Temet", legt Imarhan die Strecke auf dem Highway nach Algier in knapp vier Minuten zurück. Impressionen von Wüste und Meer, von einem Picknick am Straßenrand und den Häuserschluchten und Satellitenschüsseln der algerischen Hauptstadt schimmern auf. Der Albumtitel "Temet" bedeutet Verbindungen: zwischen Lagerfeuer und Stadtleben, zwischen Heimweh nach der Sahara und ­politischen Utopien, zwischen den über mehrere Länder verstreuten Tuareg und deren gemeinsamen Traditionen. Mit energiegeladenem Rock, der sich mit ruhigeren und meditativen Stücken abwechselt, verarbeiten Imarhan das Trauma der Tuareg-Rebellion in Mali im Jahr 2012, die von al-Qaida quasi gekidnappt und mit französischer Hilfe niedergeschlagen wurde. In dem Song "Imuhagh" fordert Sänger Samad: "Tuareg, hört auf, einander zu hassen", und schließt: "Da die Unabhängigkeit nicht erreicht wurde / könnten wir genauso gut die Gemeinschaft vereinen." Und im ruhigen Abschlusssong "Ma-S-Abrok" flüstert er: "Ich sehe Leute, die ihre eigene Stadt zerstören / Eine Schande, der sie sich immer noch zu rühmen vermögen."

Imarhan: Temet (Glitterbeat)

Magie und Migration

Vor sieben Jahren machte Fatoumata Diawara mit ihrem ­Debüt "Fatou" Furore. Seitdem stand sie mit Weltstars wie Paul McCartney und Herbie Hancock auf der Bühne, tourte mit dem kubanischen Jazz-Pianisten Roberto Fonseca, initiierte mit einer malischen All-Star-Band ein "Friedenslied" für ihr Land, nahm ein schillerndes Disco-Album mit dem französischen Gitarristen Mathieu Chedid alias "M" auf, trat auf Theaterbühnen und in Filmen ("Timbuktu", "Mali Blues") auf. Heute ist sie der größte weibliche Star des afrikanischen Kontinents. "In einer Welt, in der mehr als sieben Milliarden Menschen leben, sind mehr als eine Milliarde ­Migranten" – mit diesem Satz eröffnet das Musikvideo zu dem Song "Nterini", mit dem die malisch-französische ­Songwriterin auf ihr neues, zweites Solo-Album "Fenfo" ­Geschmack macht. Der Videoclip, in der Wüste Äthiopiens ­gedreht, folgt einem jungen Mann, der sein Bündel packt und seine Liebsten zurücklässt, auf der Suche nach einer ­besseren Zukunft. Doch die Nachricht, die seine Familie am Ende erhält, lässt nichts Gutes erahnen. Die magischen Bilder, mit denen die äthiopische Künstlerin Aida Muluneh den Afro-Folk der Sängerin in Szene setzt, liefern einen bewegenden Kommentar zu den globalen Fluchtbewegungen. So wie "Nterini", kreisen auch die anderen Songs auf "Fenfo" um Migration, Respekt, Demut, Liebe und um die Frage, wie sich für kommende Generationen eine bessere Welt schaffen lässt.

Fatoumata Diawara: Fenfo (Wagram / Montuno / Indigo)

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