Amnesty Journal 31. August 2023

Ende der Bevormundung

Ein Mann trägt Brille und einen Mundnasenschutz in Regenbogenfarben, er hält mit der rechten Hand eine Fahne hoch, die hinter ihm weht.

Fast in allen Staaten erfahren trans Personen Diskriminierung und Gewalt – sei es durch die Gesellschaft oder durch Gesetze. Einige Länder ermöglichen bereits die Selbstbestimmung über Geschlechtseintrag und Vornamen. Deutschland zieht nun nach.

Von Juliane Fiegler

Weltweit haben erst 18 Länder ein Selbstbestimmungsgesetz, das es trans männlichen und trans weiblichen sowie nicht-binären Menschen ermöglicht, Vornamen und Geschlechtseintrag ohne Einschränkungen oder Voraussetzungen zu ändern. Das zeigen Daten des internationalen Dachverbands ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association). In zwei weiteren Ländern gibt es zwar auch ein Selbstbestimmungsgesetz, allerdings nur mit der Möglichkeit, den Geschlechtseintrag "divers" bzw. "nicht-binär" eintragen zu lassen. In Indien ist dies auch ohne weitere Voraussetzungen möglich; um den anderen binären Geschlechtseintrag zu bekommen, also "männlich" oder "weiblich", muss jedoch nachgewiesen werden, dass eine geschlechtsangleichende Operation stattgefunden hat.

Noch bis 2018 klassifiziert als "Krankheit"

In vier weiteren Ländern gibt es Gesetzgebungen, die nicht landesweit gelten, in Kanada beispielsweise auf Provinzebene oder in den USA auf bundesstaatlicher Ebene.

International galt Transgeschlechtlichkeit gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch bis 2018 als Krankheit. Erst dann änderte die Organisation ihren Krankheitskatalog – die Änderung trat jedoch erst nach vier weiteren Jahren, also 2022, in Kraft.

In Europa wurden die Mitgliedstaaten der EU schon 2015 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats aufgefordert, einfache, unbürokratische Verfahren zu schaffen, damit trans Personen ohne Gerichtsurteile, Zwangsbegutachtungen oder andere Nachweise ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ändern lassen können. Viele europäische Länder sind dem bereits nachgekommen. In Deutschland wird es in diesem Jahr wohl so weit sein: Die Ampelkoalition arbeitet derzeit an einem Selbstbestimmungsgesetz. Das aktuell geltende Transsexuellengesetz (TSG) wurde schon mehrfach vom Bundesverfassungsgericht in Teilen für grundgesetzwidrig erklärt.

»Von dieser Basis aus können wir weiterkämpfen«

von Marcela Romero, trans Aktivistin, ­Argentinien

Seit elf Jahren haben wir in Argentinien ein Selbstbestimmungsgesetz für trans Menschen. Die politische Reise dorthin begann bereits vier Jahre vor der Verabschiedung des Gesetzes: Es waren vier Jahre der politischen Bildung. Wir haben uns für ein Gesetz eingesetzt, das auch die Rechte von Kindern, Jugendlichen und Migrant*innen berücksichtigt. Im argentinischen Parlament gab es dann nicht mehr viel Gegenwind – weil Organisationen wie ATTTA (Asociación de Travestis, Transexuales y Transgéneros de Argentina) bereits jahrelang dafür lobbyiert hatten.

Seither hat sich die Situation für trans Personen in Argentinien schätzungsweise um etwa dreißig Prozent verbessert, aber siebzig Prozent fehlen noch. Das Selbstbestimmungsgesetz hat eine Basis für Gleichberechtigung geschaffen. Von dieser Basis aus können wir für alles weiterkämpfen, was noch fehlt. Es fehlt die soziale und berufliche Inklusion. Trans Menschen leben weiterhin unterhalb der Armutsgrenze. Und geschlechtsspezifische Gewalt ist aufgrund von Patriarchat, Machismo und Straflosigkeit immer noch ein strukturelles Problem für uns.

Auch in Deutschland und anderswo müssen Politik und Gesellschaft anfangen, den politischen Diskurs zu verändern. Wir müssen über geschlechtsspezifische Gewalt und Transfeminismus reden. Wir müssen trans Organisationen empowern. Wir können Transfeindlichkeit nur beseitigen, wenn trans Organisationen gestärkt werden, damit sie öffentlich auftreten und von ihren Regierungen eine Politik fordern können, die die Lebensqualität von trans Personen fördert. Dazu gehört ein umfassendes Gesetz, das Migrant*innen und trans Personen mit niedrigem Einkommen einbezieht. Wichtig sind aber auch sichere Orte mit Ansprechpersonen für trans Menschen – so wie die "Casa Trans", die wir in Buenos Aires haben.

»Menschen müssen selbst bestimmen dürfen, wer sie sind«

von Claude Beier, Themenkoordinationsgruppe Queeramnesty, Deutschland

Es braucht dringend ein Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland. Die gesellschaftliche Diskriminierung von trans Personen wird nicht einfach verschwinden, deshalb muss sie zunächst von staatlicher Seite aufhören. Es muss Schluss sein mit der Gängelei. Menschen müssen selbst bestimmen dürfen, wer sie sind.

Konservative und rechtsgerichtete Kräfte haben das Thema "trans" für sich entdeckt und instrumentalisieren es. Diese Polarisierung findet sich auch im Gesetzentwurf wieder. Einerseits ist er zwar progressiv, weil er die psychologischen Zwangsbegutachtungen abschafft. Andererseits gibt es aber immer wieder Passagen, die genau den gegenteiligen Tonfall haben, zum Beispiel solche, die einen Missbrauch des Gesetzes unterbinden sollen. Dabei wurde in Ländern, die bereits ein Selbstbestimmungsgesetz haben, kein Missbrauch beobachtet. Diese Unterstellung und Täter-Opfer-Umkehr zu sehen, ist furchtbar.

In Deutschland erfahren Personen vor allem dann Diskriminierungen und Gewalt, wenn sie nicht den gängigen Vorstellungen eines männlichen oder weiblichen stereotypen Aussehens entsprechen. Das betrifft besonders oft trans Frauen und nicht-binäre Personen. Daher brauchen wir Schutzmaßnahmen für LGBTI-Personen in den verschiedenen Bereichen.

Nötig sind aber auch Aufklärung und Schulungen im Gesundheitswesen, in der Schule, im Berufsleben oder bei der Polizei. Gerade mit dem Thema Nicht-Binärität kann unsere Gesellschaft noch gar nichts anfangen. Weil ich bestimmte äußere Marker erfülle, werde ich nicht als nicht-binär gesehen, selbst wenn ich das tausendmal klargestellt habe. Zwar gibt es den Geschlechtseintrag "divers" – aber was bedeutet er wirklich? So etwas mit Leben, mit Identitäten zu füllen, wird noch ein sehr weiter Weg.

Die Prozedur nach dem TSG widerspricht menschenrechtlichen Standards der Vereinten Nationen. Trans Personen müssen zwei psychologische Gutachten über sich erstellen lassen und dafür intime Fragen beantworten, bevor dann ein Gericht darüber entscheidet, wer sie sind – dies alles ist langwierig, kostenintensiv und alles andere als selbstbestimmt. Zudem erschwert das langwierige Verfahren den Alltag von trans Menschen, weil sie sich oft erklären und rechtfertigen müssen: beim Abschließen von Verträgen, beim Reisen mit dem Flugzeug, bei einer Fahrschein- oder Verkehrskontrolle – überall dort, wo ein Ausweisdokument verlangt wird.

Selbstbestimmung rückgängig gemacht

Ungarn und die Slowakei haben die Selbstbestimmung von trans Menschen wieder rückgängig gemacht oder stehen kurz davor. Auch in Deutschland wird das aktuelle Selbstbestimmungsgesetz von transfeindlicher Meinungsmache begleitet. Nach Angaben des Europäischen Parlamentarischen Forums für sexuelle und reproduktive Rechte nehmen Hass und Gewalt gegen LGBTI-Personen zu, teilweise finanziert von erzkonservativen Kräften aus den USA und Russland, die anti­feministische und transfeindliche Stimmungen schüren wollen.

Vorbild für mehr Gleichberechtigung ist seit 2012 Argentinien, das als erstes Land weltweit ein Selbstbestimmungs­gesetz verabschiedete. Inzwischen ist ­Argentinien noch einen Schritt weiter ­gegangen und hat eine Quote eingeführt, nach der ein Prozent der Arbeitsplätze in Behörden mit trans Personen besetzt sein sollen.

Juliane Fiegler ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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