Amnesty Journal Deutschland 20. Dezember 2021

Fortschritt von gestern und heute

Kolumne von Markus N. Beeko
Ein Mann in einem weißem Hemd blickt in die Kamera.

Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Markus N. Beeko über Fortschritt, die Versprechen des neuen Koalitionsvertrags und Menschenrechte als Kompass für den Wandel.

Von Markus N. Beeko

Der Soziologe Harald Welzer erinnert sich an die Mondlandung: "Ich war zehn und dabei." Dagegen war ich 1969 erst zwei Jahre alt und somit nicht wirklich dabei. Aber auch für mich gilt, was Welzer über die Prägung seiner Jugend durch die technische Fortschrittsorientierung sagt: "Was (…) entworfen wurde, war nichts weniger als ein Versprechen auf die Gestaltbarkeit einer Welt, die besser sein würde als die, die man gerade hatte. Und Zukunft war (…) ein Versprechen, das sich unablässig einlöste. In den Autoquartetts gab es Maseratis und Ferraris, die 280 km/h erreichten, in den Flugzeugquartetts Düsenjets, die mehrfache Schallgeschwindigkeit flogen." Unsere Fantasie wurde damals "technisch aufgerüstet", die "expansive Kultur der Moderne" – ­inklusive Raubbau an den natürlichen Ressourcen – wurde "Teil unserer mentalen Innenausstattung".

Auch wenn sich Errungenschaften der Moderne für viele als segensreich erwiesen haben, so sind die Sackgassen, in die wir im unbändigen "Fortschrittsglauben" gerast sind, doch allgegenwärtig: Artensterben, Klimakrise, Ungleichheit und eine Digitalisierung, die sich Mensch und Gesetz zunehmend entzieht.

Grundlegende Veränderungen und ein konsequenteres Vorgehen, was die Klimakrise und die Generationengerechtigkeit betrifft, sind überfällig. Wir schauen auf eine Welt, in der Deutschland ­gefragt ist. Wer nach innen blickt, sieht Handlungsbedarf bei gesellschaftlichen Problemen wie soziale Ungleichheit, ­Rassismus oder extremistische Gewalt.

Für Amnesty ist klar: Es braucht bei all dem die Menschenrechte als handlungsleitenden Kompass, damit sie Teil einer "neuen Zukunft" sind. Unter dem Titel "Zukunft. Menschen. Rechte" haben Amnesty-Expert_innen der Bundesregierung die wichtigsten menschenrechtlichen Projekte auf 40 Seiten ins Pflichtenheft geschrieben.

In einer Welt im Wandel muss sich Regierungshandeln daran messen lassen, ob es die Zukunft so gestaltet, dass möglichst viele Menschen in Deutschland und der Welt ihre Menschenrechte wahrnehmen können. Woran denn auch sonst?

Markus N.
Beeko
Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Als die Protagonist_innen der Ampelkoalition wie Filmfiguren eines Blockbusters aufmarschierten, um den Koalitionsvertrag vorzustellen, musste man sich die Augen reiben: Ihr Papier trägt tatsächlich den Titel "Mehr Fortschritt wagen". Dabei scheint im Jahr 2021 kaum etwas mehr von gestern zu sein als der traditionelle "Fortschritt".

Doch der Vertrag enthält Neues und Begrüßenswertes: Es findet sich darin ­vieles, was Menschenrechtsorganisationen und Zivilgesellschaft als entscheidend ansehen – weil es selbstverständliche menschenrechtliche Verpflichtungen sind. Dazu gehört, die Digitalisierung menschenrechtskonform zu gestalten und die Klimatransformation gerecht umzusetzen. Dazu gehören die Bekämpfung rassistischer Gewalt, das Streichen des Transsexuellengesetzes und die sexuelle Selbstbestimmung. Dazu gehören auch ein Rüstungsexportgesetz, eine unabhängige Polizeibeauftragte, Anti-Rassismustrainings und die Kennzeichnung der Bundespolizei. Dazu gehören weiter die Eingrenzung von Staatstrojanern, das Verbot von biometrischer Überwachung, von Social Scorings sowie der Exportstopp von Überwachungssoftware an ­"repressive Regime". Gleichzeitig bleibt einiges vage, anderes fehlt.

Immerhin, es ist ein Vertrag mit Punkten, die Amnesty als Versprechen ansieht. Diese Versprechen können und werden wir einfordern. Uns ist klar, wie wichtig unsere kritische Begleitung sein wird, wenn es an die Umsetzung geht. Wir ­werden die Bundesregierung beim Wort nehmen. Wir werden weiter einfordern, dass nachgelegt wird, wo Wichtiges fehlt oder etwas zu kurz greift. In einer Welt im Wandel muss sich Regierungshandeln daran messen lassen, ob es die Zukunft so gestaltet, dass möglichst viele Menschen in Deutschland und der Welt ihre Menschenrechte wahrnehmen können. Woran denn auch sonst?

Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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