Amnesty Journal Kolumbien 10. September 2020

Ein Fenster zwischen den Welten

Männer stehen bis zu den Knien in einem Fluss und bilden eine Menschenkette; sie werfen sich Ziegelsteine zu und beladen ein schmales Holzboot.

Vor vier Jahren schlossen die kolumbianische Regierung und die linke Guerilla FARC einen Friedensvertrag, um den jahrzehntelangen Bürgerkrieg zu beenden. Der Fotograf Federico Ríos Escobar hat die Rebellen während der Entwaffnung begleitet. Ein Gespräch über Bilder als Teil eines gesellschaftlichen Dialogs und darüber, warum der Frieden in Kolumbien so schwer zu erreichen ist.

Interview: Mariana Delgado und Felix Wellisch. Fotos: Federico Ríos Escobar

Ihre Fotos zeigen den Alltag der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, der FARC. Was sagen die Rebellen selbst zu den Bildern?

Manchen gefallen die Fotos, anderen nicht – aber auch die sagen meistens: Ja, so war es, das ist eben der Krieg. Für meine Aufenthalte bei der FARC hatte ich auch schon vor der Entwaffnung immer klare Regeln gesetzt: Ich werde die Wahrheit nicht verzerren oder Lügen erzählen. Dafür darf ich fotografieren, wo ich möchte. Über die Jahre habe ich das Vertrauen der Rebellen gewonnen und habe mich bei der Arbeit nie bedroht oder in ­Gefahr gefühlt.

Ihre Bilder sind heute weltweit bekannt. Wie kamen Sie mit der Fotografie in Berührung?

Mein Vater kommt aus einer armen Bauernfamilie, aber er hat es auf die Universität geschafft und ging 1979 mit einem Stipendium nach Ägypten. Das war damals in Kolumbien ungefähr so, als wäre er zum Mond geflogen. Er nahm eine Kamera mit und als er zurückkam, hängte er im Wohnzimmer unseres Hauses Fotos auf: mein Papa auf einem Kamel, mein Papa vor den Pyramiden. Damals habe ich verstanden, dass Bilder den Menschen Dinge zeigen können, die sie sonst nicht verstehen würden.

Männer und Frauen in Tarnanzügen stehen im Dschungel und richten ihre Blicke und Sturmgewehre zum Himmel.

 

Wie haben Sie den Friedensprozess erlebt?

Als die FARC sich entschlossen, ihren Kampf nach 56 Jahren auf demokratische Weise als Partei im Parlament weiterführen zu wollen, hat mich das tief bewegt. Ich fotografiere die Guerilla schon seit vielen Jahren, aber ich identifiziere mich nicht mit ihrer Idee, ein Ziel mit Waffen zu erkämpfen. Nach 2016 konnte ich mich so unbeschwert durch Kolumbien bewegen wie nie zuvor. Die FARC waren dabei, ihre Waffen abzugeben. Der ELN, die zweitgrößte Guerilla, musste sich neu aufstellen, und die rechten Paramilitärs waren geschwächt. Aber seit Iván Duque 2018 zum Präsidenten gewählt wurde und die Zugeständnisse an die FARC infrage stellte, ist die Angst zurück. 2019 stieg die Mordrate in Kolumbien auf den höchsten Stand seit 15 Jahren. Duque hat uns um Jahre zurückgeworfen, und wenn sich nichts ändert, geht dasselbe Spiel von vorne los.

 

Frauen in Tarnanzügen mit Sturmgewehren stehen und sitzen auf der Veranda einer Holzhütte.

 

Was müsste sich ändern?

Die Abwesenheit und das Desinteresse des Staates müssen ein Ende finden. Um mal ein Beispiel zu nennen: In einem Dorf, in dem ich fotografiert habe, stritten sich zwei Familien um eine Grundstücksgrenze. Einer ritt zur Polizei in die nächste Stadt – zwei Tage auf einem Esel. Die Polizisten haben nicht einmal verstanden, von welchem Dorf er sprach. Sie sagten ihm, er solle sein Anliegen schriftlich einreichen, obwohl der Mann nicht schreiben konnte. Als er zurück ins Dorf kam, ging er zu den FARC-Rebellen, die den Streit letztlich geschlichtet haben. Und das zieht sich durch alle Bereiche: Ob Bildung, ob Gesundheit oder Bürgerrechte – der Staat kümmert sich an vielen Orten nicht darum.

Was bedeutet das für den Friedensprozess?

Die stärkste Waffe der Guerillagruppen ist die Unterstützung, die sie in den ländlichen Gemeinden genießen. Leute aus der Stadt glauben oft, die Landbevölkerung lebe in Angst vor der Guerilla. Das ist Unsinn. Als die Entwaffnung der FARC-Rebellen begann, kamen in einem Dorf Bauern auf mich zu und wollten wissen, ob ich auch Kontakte zum ELN hätte. Ich solle sie bitten, in ihr Dorf zu kommen, wenn die FARC sich zurückziehen würden. Das klingt paradox, aber die Guerilla erfüllt an vielen Orten die Rolle des Staates, sie übernimmt Polizeiaufgaben und regelt, wer wie viel Holz aus dem Wald nehmen darf.

 

Ein Mann in einem Tarnanzug reitet durch einen Fluss; dem Pferd reicht das Wasser bis zum Hals.

 

 

Ich hoffe, dass meine Bilder ein Fenster sind, eine Brücke zwischen den Welten. Die Betrachter sollen sehen, wie das ganz normale Leben der Kämpfer ausgesehen hat. Sie sollen verstehen, was für eine Bedeutung es hat, dass diese Menschen ihre Waffen abgegeben haben, um den Schritt in ein ziviles Leben zu wagen.

Federico
Ríos Escobar
Fotograf

 

 

Zwei Männer in Tarnanzügen sitzen auf Plastikstühlen mitten im Dschungel, einer von ihnen hat ein Laptop auf dem Schoß, hinter ihnen ist Wäsche aufgehängt.

 

Wie hat diese Erfahrung Ihre Sicht auf die Guerilla geprägt?

Mich hat es bei meiner Arbeit nicht unberührt gelassen, Kämpfer zu sehen, die eine Schule für die Gemeinde oder eine Dorfstraße bauen, oder Kämpferinnen, die ihre Kinder im Dschungel aufziehen. Ich denke nicht, dass die Guerilla etwas Gutes ist, und ich bin gegen Waffen, egal zu welchem Zweck. Aber die Darstellung der politisch Rechten, dass die Guerilla an allem schuld sei, ist eine einseitige Sicht und macht uns blind für die echten Probleme. Solange der Staat sich nicht um die Menschen kümmert, wird sich nichts ändern.

Mit welchem Vorurteil würden Sie gerne aufräumen?

Dass die einfache Bevölkerung in den von der Guerilla dominierten Gebieten mit dem Drogenanbau das große Geld verdient. Ein Koka-Bauer verdient laut dem Drogenbeauftragten der Vereinten Nationen umgerechnet etwa 180 Dollar im Monat. Dafür arbeitet die ganze Familie, oft auch die Kinder. In Bogotá stellen sich viele vor, dass diese Bauern Millionäre seien und einen Whirlpool im Garten hätten. Tatsächlich können sie sich nicht mal ein Paar Gummistiefel leisten. Wenn diese Bauern für denselben Gewinn Kakao anbauen könnten, würden sie es sofort tun.

 

Zwei Menschen in Tarnanzügen liegen auf dem Dschungelboden eng beinander.

 

Was hat es für Sie bedeutet, Ihre Fotos in Bogotá zu zeigen?

Diese Bilder in Bogotá auszustellen, war für mich etwas Besonderes, weil viele Menschen gar nicht wissen, wie es in ihrem eigenen Land aussieht. Ich hoffe, dass meine Bilder ein Fenster sind, eine Brücke zwischen den Welten. Die Betrachter sollen sehen, wie das ganz normale Leben der Kämpfer ausgesehen hat. Sie sollen verstehen, was für eine Bedeutung es hat, dass diese Menschen ihre Waffen abgegeben haben, um den Schritt in ein ziviles Leben zu wagen. Und wie wichtig es ist, dass wir unsere Versprechen ihnen gegenüber jetzt halten. Meine Fotos sind nicht die einzige Wahrheit, aber sie sind ein Puzzlestück im großen gesellschaftlichen Dialog. Und den brauchen wir in Kolumbien dringend. Erst wenn die Leute verstehen, was in den Gebieten der Guerilla passiert, können sie auch über Lösungen nachdenken.

Ausstellung: Im März 2020 waren in der Galerie "Bandy Bandy" in ­Bogotá Fotografien von Federico Ríos Escobar unter dem Titel "Die Tage nach ­einem endlosen Krieg" (Los días póstumos de una guerra sin final) zu ­sehen. Gezeigt wurden Bilder, die er während der Friedensverhandlungen 2016 in Camps der FARC-Guerilla aufnahm. Eine für Juli geplante ­Ausstellung in der Pariser Filiale der Galerie musste wegen der Corona-Pandemie verschoben werden.

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