Amnesty Journal Peru 03. November 2021

Netze voller Wasser

Ein Mann mit Baseball-Mütze, in Jeans und Hemd steht mit ausgebreiteten Armen auf einer Sandfläche vor Netzen, die zwischen Stäben aufgespannt sind.

Jedes Netz gewinnt Nutzwasser: Abel Cruz Gutierrez vor neuen Nebelfängern, Ancon, 2020.

Seit Jahren plagt extreme Trockenheit die peruanische Hauptstadt. Sogenannte Nebelfänger sorgen neuerdings für Abhilfe.

Aus Lima von Andrzej Rybak

Dienstag ist Wassertag. Seit dem frühen Morgen wartet Gabriela Palomino vor ihrem Haus auf den Tankwagen, der einmal in der Woche Wasser bringt – bis ganz nach oben auf den Hügel im Armenviertel Villa Lourdes in Lima. "Wenn ich die Lieferung verpasse, bin ich eine ganze Woche ohne Wasser", sagt die 53-jährige Frau.

Von ihrer Baracke aus Sperrholz und Karton blickt sie auf ein Meer aus einfachen Bretterverschlägen und winzigen Ziegelhäusern, die an den Hängen der benachbarten Hügel kleben. Die Landschaft ist trostlos, kaum ein Baum oder Busch ist zu ­sehen. Auf den Häusern liegt eine dicke braune Schicht Staub, der vom Wind immer wieder aufgewirbelt wird. Entlang der Wege reihen sich Plastiktanks und -tonnen, meist rund, manchmal quadratisch.

"Sie sind unsere Lebensadern", sagt Palomino. "In den ­Armenvierteln hat niemand einen Wasseranschluss." Jeder Haushalt kauft sein Trinkwasser beim städtischen Trinkwasserversorger Sedepal, der Preis hängt von der Lieferentfernung ab. Auf dem Hügel kostet ein Kubikmeter 25 Sol, umgerechnet 5 Euro 50. "Ich habe acht Kinder, wir geben im Monat mehr als 180 Sol für Wasser aus", sagt die Peruanerin. Die Kosten wiegen schwer, denn niemand in der Familie hat einen festen Job. Alle sind fliegende Händler_innen, die an Straßenkreuzungen ­Süßigkeiten und Getränke an Autofahrer_innen verkaufen.

In einer hügeligen, trockenen Landschaft steht eine Frau mit Hut vor einem Fass, in das ein Schlauch hängt, der mit einem Tankwagen verbunden ist, vor dem ein Mann mit Schirmmütze und Tuch vor dem Mund steht.

Wasser marsch! Gabriela Palomino in Villa Lourdes, Lima, 2020.

Gegen 9:30 Uhr ist der Tankwagen da. Der Beifahrer steckt einen dicken Schlauch in Palominos Wassertonne, die Schwerkraft erledigt den Rest. In einer Minute ist die Tonne voll. Die Frau quittiert den Empfang, dann steuert der Tankwagen das nächste Haus und die nächste Tonne an.

Arm und trocken, reich und nass

Rund 1,5 Millionen Menschen im Großraum Lima haben keinen Zugang zu sauberem Leitungswasser und sind nicht an das Abwassernetz angeschlossen. Das sind gut 15 Prozent der Bevölkerung. Die Zahlen steigen jedes Jahr, denn immer mehr Peruaner_innen ziehen vom Land in die Stadt, weil sie hoffen, dort ­einen Job zu finden. "Im Jahr 1970 zählte Lima 1,5 Millionen ­Einwohner_innen, heute sind es bereits zehn Millionen", sagt Laureano del Castillo, Geschäftsführer des Zentrums für Sozialstudien (Cepes).

Mittlerweile lebt fast ein Drittel der peruanischen Bevölkerung in der Hauptstadt. Lima konkurriert mit Kairo um den Titel der weltweit größten Metropole, die mitten in einer Wüste liegt. In den vergangenen zehn Jahren betrug der jährliche Niederschlag im Durchschnitt zehn Millimeter. In manchen Jahren fällt so gut wie kein Regen in der Stadt. Denn vor der peruanischen Küste verläuft der kalte Humboldtstrom, der für extreme Trockenheit sorgt. Lima und die Küstenregion, in der etwa 70 Prozent der Peruaner_innen ­leben, verfügen über gerade mal zwei Prozent der landesweiten Wasserreserven.

In der Corona-Pandemie spitzte sich die Lage in den Armenvierteln Limas noch einmal dramatisch zu. "Die Behörden riefen uns auf, regelmäßig die Hände zu waschen und auf Hygiene zu achten", schimpft Pilar Gallegos, die im ­Armenviertel 12. Juli lebt. "Dafür habe ich aber nicht genug Wasser." Sie spart bereits jeden Tropfen, fängt das Wasser von der ­Wäsche auf, um damit die Hände zu waschen und das Haus zu putzen.

Eine sehr trockene Landschaft, in der sich Hütten und Häuser zwischen Hügeln erstrecken, dicht an dicht.

Staubtrocken: Villa Lourdes, Lima, 2020.

In Lima liegt der Wasserverbrauch pro Einwohner bei 130 ­Litern pro Tag. Doch während die Menschen in wohlhabenden Vierteln wie Miraflores oder San Isidro etwa 250 Liter Leitungswasser pro Person und Tag verbrauchen, sind es in Villa Maria del Triunfo weniger als 50 Liter. "In der Stadt wird das Wasser auf kriminelle Weise verschwendet, weil es sehr billig ist", stellt Laureano del Castillo fest: "Die Leute in den Armenvierteln zahlen für ihr Wasser zehn Mal so viel – das ist ein Skandal." Seit vielen Jahren fordert er, den Wasserpreis in Lima deutlich zu ­erhöhen, damit die Leute anfangen, zu sparen. Doch die Politik schreckt vor diesem Schritt zurück, weil sie die Wähler_innen in den reichen Vierteln nicht verärgern will.

Kaum Auflagen, viel Korruption

Der Wasserrechtsexperte prangert die Untätigkeit der Politik an. "In den vergangenen 40 Jahren hat keine peruanische Regierung ernsthaft in die Wasserinfrastruktur investiert", beklagt Laureano del Castillo. "Das Menschenrecht auf Wasser wurde zwar 2017 als Artikel 7 in die peruanische Verfassung geschrieben, doch das hat bis heute nicht viel bewirkt." Die Regierung behaupte, sie unternehme alles, um die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. "Aber wir treten weiter auf der Stelle."

Schuld an der Tatenlosigkeit sei der latente Rassismus der weißen städtischen Oberschicht. "In den meisten Armensiedlungen wohnen Cholos, Mestiz_innen vom Land, die von der Oberschicht als Menschen zweiter Klasse angesehen werden", sagt del Castillo. "Milliarden in den Ausbau der Infrastruktur zu investieren, um sie mit Leitungswasser zu versorgen, erscheint der Politik als überflüssig." Der Staat investiere lieber Milliarden in riesige Bewässerungsanlagen in Olmos oder Chavimochic, von denen ein paar Dutzend große Agrarunternehmen profitieren. "Wir verschwenden unsere knappen Wasserressourcen, um Früchte für den Export zu produzieren", kritisiert der Experte.

Auch Mariella Sanchez, die Direktorin der NGO Aquafondo, fordert die Regierung auf, ihren Pflichten nachzukommen. "Die Politik versteht nicht, was das Menschenrecht auf Wasser bedeutet", sagt sie. "Sie lässt zu, dass Flüsse durch den Bergbau und die Industrie verschmutzt werden, und sie unternimmt auch nichts, um die Verschwendung von Wasser zu unterbinden."

Seit Jahrzehnten verseuchen sechs Bergbauunternehmen den Fluss Rimac, aus dem fast drei Viertel des in Lima verbrauchten Wassers stammen. Firmen wie Volcan und Casapalca lagern ihren Abfall direkt am Flussufer ab, von dort spült der ­Regen den giftigen Müll in den Fluss. Umweltschützer_innen haben mehrfach Klagen gegen die Unternehmen eingereicht, doch diese machen einfach weiter. "Die Regierung vergibt Bergbaulizenzen, ohne dabei Sanktionen für Umweltsünden vorzusehen", sagt Sanchez. "Die Auflagen sind lasch, die Kontrollen noch lascher." Hinzu kommt die Korruption – wie viel Bestechungsgeld an die Behörden geht, weiß niemand.

Die Lage ist ernst. "In 15 Jahren könnte der Stadt das Wasser ausgehen", warnt Sanchez. "Wenn die Menschen kein Wasser mehr zum Trinken haben, werden die Fabriken und Bergwerke als erste schließen müssen." Deswegen sollten sowohl der Staat als auch die Privatwirtschaft schon jetzt anfangen, in die Wiederaufbereitung von verbrauchtem Wasser und in die Erschließung neuer Quellen zu investieren. Auch der Umgang mit Wasser müsse sich ändern: "Die Peruaner_innen müssen begreifen, dass Wasser sehr kostbar ist, sie müssen lernen, Wasser zu sparen."

Die Nebelfänger von Lima

Abel Cruz Gutierrez hat früh begriffen, dass Wasser die Grund­lage der menschlichen Existenz bildet – als Sechsjähriger muss­te er täglich Wasser von einer Quelle nach Hause schleppen. "Wenn die Regierung wirklich die Armut reduzieren und die ­Gesundheit verbessern will, muss sie allen Menschen Zugang zu Wasser bieten", sagt der Ingenieur. "Es gibt viele intelligente Möglichkeiten, die Wassernot zu lindern."

Eine Methode hat der 58-Jährige bereits praktisch umgesetzt: die Nebelfänger. Wenn im Winter feuchte Nebelschwaden die peruanische Küste verhüllen, können sie "gemolken" werden. Das gewonnene Wasser ist nicht trinkbar, kann aber zum Kochen, Waschen oder für die Landwirtschaft genutzt werden.

Oberhalb der Kleinstadt Ancon, 25 Kilometer nördlich von Lima, schleppen Frauen und Männer feinmaschige grüne Nylonnetze und sechs Meter lange Pfähle eine riesige Sanddüne hinauf. Sie graben die Pfähle in einem Abstand von fünf Metern in den Sand und spannen die Netze dazwischen. "Winzige Tropfen bleiben am Gittergewebe hängen, das Wasser tropft dann in die Rinne unterhalb des Netzes und wird durch einen Schlauch in größere Wasserspeicher und Zisternen geleitet", erklärt Cruz. "Mit einem 20 Quadratmeter großen Nebelfänger können an guten Tagen 100 bis 200 Liter Wasser gewonnen werden."

Die Küste rund um Lima ist mindestens sieben Monate im Jahr von Nebel verhüllt, von April bis Oktober. Man kann das Wasser in diesen Monaten sammeln und in größeren Reservoirs für die Sommerzeit speichern. Cruz’ Lösung hat einen großen Vorteil – die Nebelfänger sind billig, umweltverträglich und kommen ohne Strom aus. Ein Nebelfänger kostet etwa 100 Euro.

Der leidenschaftliche Tüftler hat bereits etwa 2.000 Nebelfänger in Peru gebaut, von Lima bis Tacna, direkt an der chilenischen Grenze. Alle wurden aus Spenden finanziert, die meist aus dem Ausland kamen. "Wasserzugang ist zwar ein Menschenrecht, unsere Regierung ignoriert aber meine Erfindung", kritisiert Cruz. "Ich bekomme keine staatliche Unterstützung."

Auch er glaubt, dass Korruption für dieses Desinteresse verantwortlich sei. "Leider werden in Peru vor allem Projekte genehmigt, bei denen Bestechungsgeld fließt", sagt der Ingenieur. "Die Regierung unterstützt teure Bauvorhaben, bei denen viel Geld abgezweigt werden kann."

Unter Netzen wächst Gemüse, ein Mann steht in den Beeten.

Da wächst was dank eigener Netze: Pablo Lluvya in Lima, 2020.

Doch Cruz ist ein Kämpfer, er lässt sich nicht entmutigen. Im Jahr 2005 gründete er die Bewegung Peruaner ohne Wasser, deren Präsident er ist. Seitdem hat er für seine Nebelfänger Dutzende nationale und internationale Preise gewonnen, da­runter den Premio Cemex in Mexiko und den Google-Preis in Peru. Im Jahr 2019 wurde er zu den wichtigsten Personen des Landes gewählt. Darauf ist er besonders stolz.

Die Wüste begrünen

Doch die Auszeichnung vernebelt nicht seinen Blick auf die Realität. Cruz hofft, genug Spenden einsammeln zu können, um in den kommenden drei Jahren 10.000 Nebelfänger zu bauen. "Wir wollen den Leuten ein Einkommen geben und die Wüste grün machen", sagt er. Dass der Traum kein Hirngespinst sein muss, zeigt das Beispiel von Pablo Lluvya Reyes, der seit zehn Jahren im Armenviertel Villa Lourdes lebt. "Vor sechs Jahren hat Abel Cruz vier Nebelfänger auf meinem Land installiert", berichtet der 50-Jährige. "Sie haben mein Leben total verändert."

Lluvya legte unterhalb der Nebelfänger einen Garten an, in dem er Gemüse und Obst anbaut. Er zeigt stolz seine Beete, in denen Kohl, Koriander und Kürbisse gedeihen. "Der Boden ist sandig, doch mit etwas Wasser kannst du gute Ernten erzielen", sagt er. Einen Teil des Gemüses verzehrt seine Familie, den Rest verkauft er an Nachbarn. "Ich habe endlich regelmäßige Einnahmen, mit denen ich Reis und Öl kaufen kann. Meiner Familie geht es heute deutlich besser als früher."

Zusammen mit seinen Nachbarn hat Lluvya den Verein Casa Huertas gegründet, der Spenden für neue Nebelfänger sammelt. "Zusammen haben wir mehrere Hektar Land", sagt er. "Mit 100 Nebelfängern könnten wir die Hänge in einen grünen Garten verwandeln und einen Beitrag zum Klimaschutz leisten."

Andrzej Rybak ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Wassermangel und Klimakrise

Nach einer Studie des britischen Klimaforschungsinstituts Tyndall Center liegt Peru hinter Bangladesch und Honduras auf dem dritten Platz der weltweit am stärksten von der Klimakrise bedrohten Länder. Der alle paar Jahre auftretende El-Niño-Effekt, der die Pazifikoberfläche vor der Küste erwärmt, wird immer stärker und sorgt für Klimaextreme: Während es in den Anden und am Amazonas zu Überschwemmungen kommt, trocknet der Küstenstreifen aus. Der jährliche Niederschlag in Lima geht zurück. Gleichzeitig haben die Gletscher in den Anden in den vergangenen 40 Jahren rund 42 Prozent ihrer Fläche verloren, viele Gipfel, die noch vor 20 Jahren schneebedeckt waren, haben ihre weiße Kappe eingebüßt. Die Flüsse führen immer weniger Wasser, in 50 Jahren könnten die vorhandenen Wasserreserven um etwa 40 Prozent schrumpfen. An der Küste herrscht bereits vielerorts Wassernotstand. Auch die Biodiversität des Landes ist akut bedroht. "Wir laufen Gefahr, dass unsere Kinder manche Tier- und Pflanzenarten nur noch von Fotos kennen werden", warnt Laureano del Castillo, Geschäftsführer des Zentrums für Sozialstudien (Cepes).

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