Amnesty Journal Kanada 16. November 2021

Wie Kolonialismus Hunger in der Arktis verursachte

Ein Propellerflugzeug steht in einer weiten flachen Ebene und wird mit allerlei Gepäck und Fässern beladen, drei Menschen kümmern sich um die Beladung.

Überteuert, faulig, rar: Die Lebensmittelsituation im hohen Norden Kanadas ist angespannt. Gerade in indigenen Haushalten kommt oft nicht genug Essen auf den Tisch. Das soll sich nun ändern.

Von Natalie Wenger

Lebensmittel sind teuer in den nördlichen Provinzen ­Kanadas. Richtig ­teuer. Immer wieder teilen Einwoh­ner_in­nen in Online-Netzwerken Fotos der horrenden Preise. Eine Packung Vanille­kekse: 18,29 Dollar. Eine Büchse Babynahrung: 26,99 Dollar. Neun Blaubeermuffins: 68,99 ­Dollar.

Die Preise sind oft dreimal so hoch wie im Süden Kanadas. Viele der 65.000 Menschen aus dem Gebiet Inuit Nunangat, der Heimat der Inu­it im Norden Kanadas, müssen einen Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden – rund 500 Dollar pro Woche. Manche können sich die Preise kaum leisten: Laut einem Bericht der Organisation Inuit Tapirit Kanatami (ITK) sind 76 Prozent der Inuit über 15 Jahren von ­Ernährungsunsicherheit betroffen, sechsmal mehr als der kanadische Durchschnitt.

Krise hat historische Wurzeln

Die indigenen Gemeinschaften leben in abgelegenen Gebieten. Nur zwei Gemeinden verfügen über einen ganzjährigen Straßenzugang, der Rest ist auf Flug- oder Schiffstransporte angewiesen. Die einzige Anlegestelle, die größere Boote abfertigen kann, ist mehrere hundert Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt. Großlieferungen von nicht verderblichen Lebensmitteln und Treibstoff gibt es nur zwei- bis dreimal pro Jahr. Frische Lebensmittel müssen eingeflogen werden, oft zu Kleinstflughäfen mit Schotterpisten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Die Krise hat historische Wurzeln: In den 1900er Jahren wurden Inuit-Gemeinschaften gezwungen, weiter in den Norden zu ziehen, sich in Städten niederzulassen und Internatsschulen zu ­besuchen. Die Kolonialregierung hinderte die Inuit daran, ihre eigenen Lebensmittel zu ernten, zu fischen, zu jagen. Lebensmittelunternehmen und Schifffahrtsgesellschaften, die sich in der Region breitmachten, kontrollierten, wer wie viel und welche Nahrungsmittel kaufen konnte. Bis heute haben diese Unternehmen eine immense Macht über den Zugang zu Lebensmitteln. Sie koordinieren die meisten Flüge und Seetransporte und sind für die Lieferung von "Nutrition North" zuständig, ­Lebensmittel aus einem nationalen Subventionsprogramm.

Forderungen zeigen Wirkung

Vor fünf Jahren wurde kurzfristig gehandelt, es entstanden Lebensmitteltafeln, Suppenküchen und Schulfrühstücksprogramme, die den Hunger in der Arktis beenden sollten. Diese Maßnahmen reichen aber nicht, kritisiert die Organisation ITK und veröffentlichte Mitte Juli 2021 eine umfassende Ernährungssicherheitsstrategie, die weitreichende Veränderungen beinhaltet. Die ITK fordert, die Regierung solle mehr in lokale Fluggesellschaften und die Lebensmittelproduktion vor Ort ­investieren und Lagerhäuser aufbauen, in denen Lebensmittel ordnungsgemäß gelagert werden können.

Der Bericht schlägt außerdem ein garantiertes Einkommen für einkommensschwache Inuit vor und verlangt, dass die Einwohner_innen mitentscheiden können, was Investitionen in lokale Lebensmittelprogramme betrifft. Die Forderungen zeigten Wirkung: Die Regierung rief eine neue Arbeitsgruppe ins Leben und versprach 163 Millionen Dollar, um Programme zur Ernährungssicherung zu entwickeln und zu verbessern.

Bis dies zu Ergebnissen führt, haben die Inuit ihre eigene Strategie, damit niemand hungern muss: sie teilen. Wer kann, lädt Nachbar_innen und Bekannte zum Essen ein. Oder postet eine Einladung in den Online-Netzwerken, damit alle, die eine Mahlzeit brauchen, vorbeikommen können.

Natalie Wenger ist Redakteurin und Pressereferentin bei Amnesty International in der Schweiz.

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