Amnesty Journal Italien 05. Mai 2019

Klänge für die Menschenrechte: "Ich will nicht zu den Ignoranten gehören"

Ein Orchester während eines Konzertes

Das Human Rights Orchestra bei einem Konzert 2017 in Luzern.

Musik ist für ihn mehr als Unterhaltung: Der italienische Hornist Alessio Allegrini rief das Human Rights Orchestra ins Leben, um die Öffentlichkeit für Menschenrechtsfragen zu sensibilisieren und NGOs zu unterstützen.

Interview: Thomas Winkler

Sie haben 2009 die Musicians for Human Rights gegründet. Warum?

Ich war damals schon jahrelang als Musiker in vielen Ländern unterwegs, unter anderem in Palästina, Japan und Südamerika. Dabei habe ich gesehen, wie es um die Menschenrechte in der Welt bestellt ist und habe beschlossen, diese Organisation zu gründen. Ich habe befreundete Musiker aus Italien, Deutschland, der Schweiz, Japan, Palästina und anderen Ländern eingeladen, um drei Tage lang zu debattieren. Dabei haben wir uns die Frage gestellt: Was wollen wir mit der Musik erreichen? Damals gab es in Italien bereits große Diskussionen über Flüchtlinge, Stichwort Lampedusa. Es schien, als habe das Land keine anderen Probleme als die Flüchtlinge. Zehn Jahre später hat sich daran nichts geändert – nur dass das Problem inzwischen ganz Europa erfasst hat. Aber damals hatten längst noch nicht alle begriffen, wie wichtig die Flüchtlingsfrage werden würde – insofern waren wir Pioniere.

In der Selbstdarstellung ihrer Organisation heißt es: "Musiker zu sein ist ein Privileg und eine Verantwortung." Tragen Musiker eine größere Verantwortung als andere Berufsgruppen?

Wir Musiker sind nicht nur Musiker, auch wenn uns die Welt oft so sieht. Wir können durch die Musik vieles verstehen, was anderen verschlossen bleibt. Ich glaube, dass uns die Musik sogar hilft, offen zu bleiben für die Probleme der Welt. Deshalb ­haben wir die Aufgabe, die Gedanken und Ideen, die die Komponisten in ihre Musik gelegt haben, in die Welt zu tragen. Aber allzu oft bleiben wir Musiker nur außenstehende Beobachter. Dabei haben Komponisten wie Schostakowitsch, Brahms oder Bruckner in ihrer Musik auch gesellschaftliche Umstände und politische Ideen beschrieben. Selbst Mozart hat versucht, in seine Musik Ideen aus der französischen Revolution zu integrieren. Aber Jahrhunderte später interpretieren wir diese Werke allzu oft rein ästhetisch und fragen uns nicht, was uns die Musik sagen will. Neunzig Prozent der Musik, die in den letzten hundert Jahren gespielt wurde, war bloß ästhetische Selbstbefriedigung. 

Sind Musiker ignorant gegenüber sozialen Fragestellungen?

Ich würde es nicht ignorant nennen, aber Musiker sind seit jeher vor allem dafür zuständig, das Bürgertum zu unterhalten, all die Reichen, die sich die teuren Eintrittskarten leisten konnten. Was dabei immer mehr verloren geht: Musik ist nicht nur eine wunderschöne Sprache, die alle verstehen können, sie ist viel mehr, Musik ist immer politisch. 

Klassische Musiker müssen viel üben. Haben Sie überhaupt Zeit für gesellschaftliches Engagement?

Das stimmt, manche Musiker sind wie Gläubige, die nur noch die Bibel studieren. Musiker beschäftigen sich quasi ­religiös mit ihrem Instrument, die meisten üben mehr als zehn Stunden am Tag. Ich war genauso. Wenn man in einem Spitzenorchester wie den Berliner Philharmonikern spielt, dann muss man jeden Abend auf der Bühne Höchstleistung bringen. Schwächen sind da nicht erlaubt. Aber – so sehe ich das jedenfalls – wenn der Musiker bloß noch schöne Musik für Geld spielt, hat er seine Aufgabe verfehlt, dann ist er nicht nur als Mensch, sondern auch als Musiker gescheitert.

Ist es schwierig, diese schwerbeschäftigten Spitzenmusiker zu überzeugen, beim Human Rights Orchestra mitzumachen?

Nein, überhaupt nicht. Denn Musiker sind auch sehr sensibel. Neunzig Prozent der Musiker, die ich anrufe, kommen gern und spielen, auch wenn ihre Gage für einen guten Zweck gespendet wird. An den nächsten Auftritten des HRO beteiligen sich wieder einmal Musikerinnen und Musiker von den wichtigsten Orchestern weltweit. Und sie genießen es, ausnahmsweise einmal nicht unter Hochleistungsdruck zu stehen, sondern zusammen für eine gute Sache aufzutreten. 

Wenn die Musiker für Proben und Konzerte zusammenkommen, gibt es da Debatten oder sogar Streit?

Nein, bei uns gibt es keinen Streit, wir sind ja nicht das West-Eastern Divan Orchestra von Daniel Barenboim, in dem ­Israelis und Palästinenser zusammen spielen. Ich habe gehört von einem Musiker, der dort gespielt hat, dass die Konflikte so groß waren, dass er das Orchester deswegen verlassen hat. Wir haben eine ganz andere Philosophie: Wir wollen Menschen zusammenbringen, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Menschenrechte in viel zu vielen Ländern mit Füßen getreten werden. Und wir wollen ein wenig Geld einspielen, das dann Projekten zugutekommt, die sich für diese Menschenrechte einsetzen.

Israelis haben bislang noch nicht im HRO mitgespielt.

Ja, das stimmt. Aber das liegt daran, dass ich vor allem Musiker einlade, die ich kenne. Und ich habe zwar schon auf der ­ganzen Welt gearbeitet, aber noch nie in Israel. Aber wir hatten schon viele jüdische Musiker im Orchester.

Worauf achten Sie, wenn Sie die Konzertprogramme zusammenstellen? Müssen die Stücke eine Botschaft haben?

Natürlich. Es geht uns nicht nur um schöne Musik. So sind zum Beispiel Komponisten wie Mendelssohn oder Schubert schon allein deshalb heute noch aktuell, weil sie während der Nazi-Zeit geächtet waren. Auf der anderen Seite können wir Beethovens 3. Sinfonie nicht spielen, weil sie nicht pazifistisch genug ist. Alle anderen Beethoven-Sinfonien sind in Ordnung. In der Zukunft möchte ich gerne Bruckner spielen, gerade weil er von den Nazis instrumentalisiert wurde. Denn ich liebe Bruckner und finde, als Komponist der Romantik steht er auch für den Humanismus und die Menschenrechte. Bruckner ist schon zu lange verkannt.

Der rechte Populismus ist überall auf dem Vormarsch, die Menschenrechte geraten immer mehr in Bedrängnis – ist das HRO so wichtig wie nie zuvor?

Nein, wir sind nicht wichtig. Wir sind, fürchte ich, dazu verurteilt, zu scheitern. Ich glaube nicht, dass wir mit unseren Aktionen wirklich etwas verändern können, das wäre vermessen. Aber ich muss das machen, was ich mache. Ich organisiere das HRO vor allem für mich, weil mein Leben sonst nicht vollständig wäre. Klar, wenn ich nur einen anderen Musiker überzeugen kann, wenn ich ein paar Menschen erreichen kann, dann ist das wichtig. Aber meine Motivation ist eine andere: In Zeiten von Trump in den USA oder Salvini in Italien, darf niemand abseits stehen. Ich will nicht zu den Ignoranten gehören. Und weil ich Musiker bin und kein Journalist, benutze ich die Musik, um darauf aufmerksam zu machen. Und obwohl ich Musiker bin, sage ich: Musik ist nichts, nur der Mensch zählt.

Ein Mann im Anzug mit Horn

Der italienische Hornist Alessio Allegrini will mit Musik die Welt verbessern.

Alessio Allegrini ist 1972 in Poggio Mirteto in Italien geboren. Er gilt als einer der besten Hornisten der Welt. Vor zehn Jahren gründete er das Netzwerk Musicians for Human Rights. Die beteiligten Musikerinnen und Musiker kommen aus verschiedenen Ländern und spielen gemeinsam im Human Rights Orchestra (HRO), um "eine Kultur des Humanismus durch Musik zu fördern". Die Einnahmen ihrer Konzerte kommen sozialen Initiativen zugute.

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