Amnesty Journal Irak 14. Dezember 2020

Boxen für die Zukunft

Eine junge Frau mit schwarzen Frauen trägt Boxhandschuhe und ein T-Shirt mit der Aufschrift "Boxing Sisters".

In einem Lager im Nordirak treibt Husna mit anderen Jesidinnen Sport und gewinnt dabei an Selbstvertrauen. In ihre Heimatregion Sindschar muss sie zurück – auch wenn dort wieder Bomben fallen.

Von Monir Ghaedi

Ein kleiner schlecht beleuchteter Containerraum ist alles, was Husna und Dutzende andere jesidische Mädchen benötigten, um ihr Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Im Rwanga-Camp, wo sie leben, gibt es kein Fitnessstudio. Mit einem Sack voller Ausrüstung und Handschuhen verwandeln Husna und "die Boxschwestern" den dunklen Raum in dem Lager für eine Stunde am Tag in eine kleine Boxhalle.

Seit mehr als zwei Jahren lernen Frauen in dem selbstgebauten Fitnessstudio, wie man sich mit bloßen Händen verteidigt. Das Projekt "Boxschwestern", das die britische Organisation ­Lotus Flower 2018 ins Leben gerufen hat, zielt darauf ab, die ­körperliche und geistige Gesundheit von geflüchteten Frauen im Nordirak zu verbessern.

Das Lager Rwanga, in dem Husna lebt, beherbergt mehr als 15.000 Flüchtlinge. Die meisten von ihnen sind Jesidinnen und Jesiden, die 2014 vor dem Islamischen Staat (IS) geflohen sind. Sie haben Angehörige im Krieg verloren, waren Zeugen oder ­Opfer von Gewalt. Viele Frauen erlebten Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe.

Vor genau sechs Jahren griff der IS Husnas Dorf in Sindschar an. Ihre Familie musste um ihr Leben rennen und alles zurücklassen. "Es war um sieben Uhr morgens, als mein Onkel eine SMS von einem Verwandten erhielt, der in einem anderen Dorf lebte. Er sagte, der IS sei unterwegs und wir müssten sofort verschwinden", sagt Husna. Am frühen Morgen hatten sich die kurdischen Peschmerga-Streitkräfte aus Sindschar zurückgezogen und die wehrlosen Zivilistinnen und Zivilisten zurückgelassen.

Therapeutisches Mittel

Husna erinnert sich, dass sie mitnahmen, was ins Auto passte, und ins Sindschar-Gebirge flohen: "Wenn ich an diese Tage denke, beginnt mein Herz so schnell zu schlagen, mein Atem wird schwer, und mir wird schwindelig." Sie und ihre Familie verbrachten gemeinsam mit vielen anderen mehrere Tage auf dem Berg Sindschar – ohne Wasser, Nahrung, Schatten oder medizinische Versorgung. Währenddessen tötete und entführte der IS die Jesidinnen und Jesiden, die es nicht geschafft hatten. Einige der "Boxschwestern" mussten mit ansehen, wie ihre Familienmitglieder getötet oder als Geiseln verschleppt wurden. Die Erinnerungen verfolgen die Frauen im Lager Rwanga bis heute.

Cathy Brown, eine ehemalige britische Boxmeisterin, hat das Projekt "Boxschwestern" von Anfang an unterstützt. Sie betrachtet das Boxen als therapeutisches Mittel zur Stärkung und Wiederherstellung des Selbstvertrauens und trainierte Husna und andere jesidische Mädchen zehn Tage lang. Schon bald erkannten Brown und andere Trainer Husnas Talent. Nach etwa einem Jahr täglichen Trainings wurde sie dann selbst zur Ausbilderin für Anfängerinnen.

"Ich habe wirklich das Gefühl, hier eine zweite Familie zu haben", sagt Husna. "Wir haben ähnliche Dinge durchgemacht, und das hat uns wie Schwestern zusammengeschweißt." Auf ­ihrem Tiktok-Account veröffentlicht sie regelmäßig Videos ihrer Trainingseinheiten. Die Videos zeigen, wie Husna und ihre Schülerinnen schlagen, stoßen und Schutzpositionen halten, während sie brüllen, schreien und lachen. "Meine Boxschwestern und ich haben festgestellt, dass sich unsere körperliche und geistige Gesundheit durch das Boxen verbessert hat. Regelmäßige Bewegung hat uns bei guter Laune gehalten", sagt Husna.

Dann schlägt Corona zu

Aber die glücklichen Tage währten nur kurz. Das Corona-­Virus sorgt dafür, dass Husna und ihre Boxschwestern ihre Unterkünfte nicht mehr verlassen können, die Lagerverwaltung hat alle Projekte und Initiativen vorerst gestoppt.

"Man kann Corona nicht einfach wegboxen", sagt Husna. "Ich versuche, das Beste aus der Zeit zu machen." In ein paar Wochen macht sie ihren Schulabschluss und bereitet sich auf ihre Abschlussprüfungen vor. Der Unterricht erfolgt online, Husna nutzt dazu ein Smartphone, das in einer Ecke ihrer Unterkunft eine schwache Internetverbindung herstellen kann. "Meine Durchschnittsnoten sind hoch, und ich würde gerne ­einen guten Abschluss machen. Ich möchte studieren und zur Universität gehen", sagt Husna. Doch in Sindschar, wohin sie und ihre Familie zurückkehren wollen, gibt es keine Universität.

Drei große Bündel liegen in einer Ecke des Raums. Ihre Familie hat die meisten Habseligkeiten gepackt. Sobald Husnas Prüfungen beendet sind, wollen sie wieder nach Sindschar gehen. "Es ist beunruhigend", sagt Husna. "Dort gibt es nichts mehr, nicht einmal ein Fitnessstudio, in dem ich mit dem Boxen weitermachen könnte. Wir müssen alles von Grund auf neu aufbauen."

Dörfer werden weiterhin bombardiert

Die Heimat der Jesidinnen und Jesiden liegt in einem strategisch wichtigen Gebiet zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak und war seit jeher Schlachtfeld grausamer Kriege. Derzeit ist der Islamische Staat zwar aus Sindschar verschwunden, doch werden die Dörfer weiterhin bombardiert. Diesmal von der türkischen Armee, die die kurdische Arbeiterpartei PKK verfolgt.

Jesidinnen und Jesiden praktizieren eine Religion, die Elemente des abrahamitischen Glaubenssystems mit anderen alten Religionen wie dem Zoroastrismus und dem Mithraismus kombiniert. Ihr Glaube wurde immer wieder zum Anlass genommen, um sie zu dämonisieren, zu verfolgen und zu ermorden.

Wiederkehrende Episoden von Gewalt haben die Entwicklung in Sindschar behindert. Der Krieg beschädigte die Infrastruktur des Gebiets, IS-Milizen stahlen die Habseligkeiten und das Vieh der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner und zerstörten ihre Höfe und Häuser. Angesichts der Bombardierungen und Militäroperationen der Türkei ist unklar, ob sich die Region entwickeln und stabilisieren wird.

Die Selbstverteidigung, die Husna beim Boxen erlernt hat, kann sie vor den Bomben nicht schützen. Wie sie ihre Ambitionen in Sindschar weiterverfolgen kann, weiß sie noch nicht. Doch sie versteht auch, dass ihre Familie dorthin zurückgeht. "Wir können nicht für immer im Lager leben", sagt sie. "Ich habe vor, mit meiner Familie zurückzugehen und ihr zu helfen. Aber ich werde jede Gelegenheit ergreifen, die sich bietet, um zu studieren und Sport zu treiben."

Monir Ghaedi ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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