Amnesty Journal Großbritannien und Nordirland 04. Juni 2018

Willkommen im Club

Eine Frau mit kurzen blonden Haaren steht auf der Tribüne eines Fußballstadions auf ein Geländer gelehnt

Spielmacherin. Naomi Westland im April 2018 in Wetherby.

In Großbritannien sind Politik und Medien überwiegend feindselig gegenüber Flüchtlingen eingestellt. Nicht so die Fußballclubs: 60 englische Vereine unterstützen die Amnesty-Initiative "Football Welcomes" – darunter die halbe Premier League.

Von Peter Stäuber und Horst Friedrichs (Fotos), Leeds

Aufgeregt sitzen die Fußballer auf den Holzbänken im Umkleideraum und strotzen vor Selbstbewusstsein. Die zwanzig Teenager haben ihre Gegner zwar noch nie gesehen, aber dass sie verlieren könnten, kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn. "Ich habe mit Verlierern nichts am Hut", meint der großgewachsene Mohammed knapp. Die Keckheit teilen sie mit sportbegeisterten Jungs auf der ganzen Welt, doch verbirgt sich dahinter manch schmerzhaftes Schicksal. Denn alle im Team sind Flüchtlinge oder Asylbewerber.

Sie sind aus Konfliktgebieten wie Syrien und Sudan nach Großbritannien gekommen, aus Eritrea, Äthiopien und anderen ­Ländern. Manche haben ihr Hab und Gut verloren, andere ­Familienmitglieder; viele sind vom Krieg traumatisiert.

Aber heute spielen sie Fußball. Die Mannschaft wurde von der Sozialstiftung des nordenglischen Clubs Leeds United zusammengestellt, und an diesem Samstag werden sie zum ersten Mal gegen eine auswärtige Mannschaft kicken: ein Flüchtlingsteam aus der Nachbarstadt Barnsley. Es ist der erste Tag des diesjährigen "Football Welcomes"-Wochenendes, einer von Amnesty International organisierten Veranstaltung, die in diesem Jahr zum zweiten Mal stattfindet.

Es ist ungewöhnlich warm für nordenglische Verhältnisse, die Sonne scheint auf den Kunstrasen in Wetherby bei Leeds, wo das Spiel stattfindet. Beide Teams wärmen sich auf, joggen an der Seitenlinie entlang und treten locker Bälle hin und her. Kurz vor dem Anpfiff schreitet Naomi Westland in den Mittelkreis und trommelt die Jungs zusammen. "Alle mal herhören!", ruft sie den Spielern zu. "Wir sind heute hier, um den Beitrag zu würdigen, den Leute wie ihr, Flüchtlinge und Asylbewerber, zum Fußball leisten. Im ganzen Land werden heute Events wie dieser veranstaltet, und es ist toll, dass ihr dabei seid."

Westland hat anstrengende Wochen hinter sich: Die Mitarbeiterin der britischen Amnesty-Sektion hat das gesamte Projekt aufgezogen. Dutzende Gespräche hat sie geführt, um Fußballclubs und Wohltätigkeitsstiftungen für die Aktion zu gewinnen . "Es war zum Schluss recht intensiv", sagt die 41-Jährige, während sie die Partie vom Spielfeldrand aus verfolgt. "Unser Ziel war es, landesweit 50 Clubs zu finden, die mitmachen. Am Ende hatten wir 60, darunter die halbe Premier League."

"Football Welcomes" ist Teil einer breiteren Initiative von Amnesty in Großbritannien, die zum Ziel hat, Flüchtlingen humaner zu begegnen. "Es geht uns vor allem darum, die Gesellschaft offener zu machen für Asylbewerber und Migranten, damit sie sich willkommener fühlen", sagt Westland. Als im Sommer 2015 Hunderttausende Menschen aus Syrien nach Europa kamen, um dem Krieg zu entkommen, fiel die Antwort der britischen Regierung extrem hartherzig aus: Sie erklärte, gerade einmal 20.000 Syrer aufnehmen zu wollen – und das innerhalb von fünf Jahren. Dies war ein Bruchteil dessen, was andere ­Länder anboten. Zudem nutzten Rechtspopulisten im Land die Situation, um Stimmung gegen die Einwanderung zu machen, mit einigem Erfolg: Die Brexit-Debatte, die zum Austrittsvotum im Juni 2016 führte, war von Fremdenfeindlichkeit geprägt. Nach der Abstimmung stieg die Zahl der rassistischen – insbesondere islamophoben – Übergriffe sprunghaft an.

Ein junger Mann in Sportklamotten lehnt an einem Fußballtor, weitere stehen in der Nähe

Die Ruhe vor dem Sturm. Wetherby bei Leeds, April 2018.

Aber dies sei nicht die ganze Geschichte, sagt Westland: "Entgegen der negativen Berichterstattung in den Medien und der Aussagen mancher Politiker wissen wir, dass sich normale Menschen im ganzen Land bemühten, Solidarität zu zeigen und Flüchtlinge willkommen zu heißen." Viele sammelten Geld oder versuchten, örtliche Behörden dazu zu bewegen, syrische Familien aufzunehmen. Andere fuhren mit Nahrungsmittel- und Kleiderspenden direkt ins Flüchtlingslager in Calais, manche gingen sogar nach Griechenland, um in den dortigen Lagern Freiwilligenarbeit zu leisten. Solche Impulse sollen durch die ­Initiative gestärkt werden, sagt Westland. "Wir stellten fest, dass Fußballclubs das Zentrum vieler Communitys bilden. Sie haben die Fähigkeit, Leute zusammenzubringen, sowohl auf dem Rasen wie jenseits des Spielfelds. Fußball ist universell und verbindet Menschen miteinander." Deshalb sei dies ein idealer Weg, um die gesellschaftliche Akzeptanz von Flüchtlingen zu fördern.

Westland selbst liebt diesen Sport ebenfalls. Als Mädchen spielte sie viel und gern, doch mangelte es damals an Vereinsstrukturen für Frauenfußball. "Ich fühlte mich nicht besonders willkommen. Als Mädchen musste ich immer härter trainieren als die anderen, um zu beweisen, dass ich spielen konnte." Mit 14 Jahren gab sie den Sport zunächst auf, spielte später aber in einem Amateurclub im Norden Londons. Heute beschränkt sie sich darauf, als Zuschauerin mitzufiebern: Sie ist Fan des Londoner Clubs Queens Park Rangers. "Auf die eine oder andere Art war Fußball schon immer Teil meines Lebens."

Auf dem Spielfeld in Wetherby ist die Zuversicht der Elf aus Leeds vorerst verpufft: Es steht 2:0 für Barnsley. Eben hat die Nummer 17 das zweite Tor erzielt, ein herrlicher Treffer in die linke Ecke. Der Trainer des Gästeteams, Jaber Abdullah, rennt pausenlos am Spielfeldrand hin und her und ruft laut Anweisungen auf Arabisch – die meisten seiner Spieler stammen wie er aus dem Sudan oder aus Eritrea. Doch dann dreht sich die Partie. Bald kommt das 2:1, wenig später der Ausgleich, und dann die Führung für die "Whites", wie Leeds genannt wird. "Das ist schöner Fußball!", ruft Ibrahim Inamdar den Spielern zu. Der 59-Jährige, ein ernster Mann mit grauem Bart, ist Sozialarbeiter und organisiert jede Woche Aktivitäten mit den Flüchtlingen. "Schau doch mal her, was der Fußball erreichen kann", sagt er gerührt, während er seinen Schützlingen zuschaut. Er kennt auch ihre dunklen Seiten und weiß um ihre seelischen Probleme.

Als Naomi Westland begann, "Football Welcomes" zu planen, befürchtete sie zunächst, dass die Clubs ablehnend reagieren würden. "Es war das erste Mal, dass wir auf diese Weise mit Fußballclubs zusammenarbeiten wollten", berichtet sie. "Viele Leute sagten mir, die werden da nicht mitmachen, das Thema Flüchtlinge ist zu politisch und kontrovers, und die Fans könnten feindselig reagieren." Die Sorge war nicht unbegründet. In den siebziger und achtziger Jahren, als der Hooliganismus in englischen Stadien einen Höhepunkt erreichte, waren rassistische Ausfälle von Fans gegenüber schwarzen Spielern an der Tagesordnung. Emile Heskey, einer der bekanntesten englischen Spieler afrokaribischer Herkunft, der mehr als 60 Spiele für die Nationalelf bestritt, stellte vor Kurzem fest, Rassismus sei im englischen Fußball bis weit in die neunziger Jahre die Norm gewesen. Der gesellschaftliche Wandel sowie antirassistische Kam­pagnen des Fußballverbands haben zwar dazu geführt, dass rassistische Ausfälle inzwischen seltener und gesellschaftlich weniger akzeptiert sind, doch kommt es nach wie vor zu Zwischenfällen.

"Doch wir dachten uns, wir versuchen es einfach mal", erzählt Westland. "Wenn zehn Clubs mitmachen würden, wäre das schon ein Erfolg." Das erste "Football Welcomes"-Wochenende im April 2017 markierte ein besonderes Jubiläum: 80 Jahre zuvor hatten die Nazis während des Spanischen Bürgerkriegs die Stadt Guernica bombardiert, und Großbritannien nahm daraufhin fast 4.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der baskischen Stadt auf. "Die meisten kehrten nach dem Krieg nach Spanien zurück, aber ein paar Hundert blieben hier – und sechs von ihnen wurden zu Profifußballern", berichtet Westland. Sie war auf diese Geschichte gestoßen, als sie an der Universität Sussex ihre Abschlussarbeit in politischem Journalismus verfasste und machte damals einen der ehemaligen Kinderflüchtlinge ausfindig, der mittlerweile 89 Jahre alt war und in Cambridge lebte. "Die ganze Idee von 'Football Welcomes' ist inspiriert von der Geschichte der spanischen Flüchtlinge."

Vier Jungs sitzen in Fußballtrikots auf einem Zaun, vorne mittig steht einer mit einem Ball in der Hand und lacht

Sportliches Willkommen. Wetherby, April 2018.

Entgegen aller Bedenken stieß das Projekt bei den ­englischen Clubs auf große Resonanz: Am ersten "Football Welcomes"-Wochenende im April 2017 beteiligten sich 30 Clubs – von der Premier League bis zu lokalen Vereinen. Sie gaben Flüchtlingen und Asylbewerbern Gratistickets für ein Spiel, ermöglichten Stadionbesuche oder organisierten Turniere in Zusammenarbeit mit Sozialstiftungen. "Angesichts dieses Erfolgs entschlossen wir uns, mit einigen Clubs längerfristig zusammenzu­arbeiten und ihre Arbeit mit Flüchtlingen zu unterstützen."

Um sich inspirieren zu lassen, reiste Naomi Westland nach Deutschland, das in dieser Hinsicht weiter ist als Großbritannien: Das Integrationsprogramm "Willkommen im Fußball" baut Partnerschaften zwischen Clubs und lokalen Stiftungen auf, die für Flüchtlinge Training und Turniere anbieten sowie Bildungsprojekte und Möglichkeiten, sich zu vernetzen. "Wir überlegen, in Großbritannien ein ähnliches Programm aufzubauen", sagt Westland. Die Erfahrungen, die man in Deutschland gemacht hat, sind für sie hilfreich: Auch hier stieß die Ankunft der Flüchtlinge teilweise auf starke Ablehnung, doch ließen sich die Fußballclubs nicht davon beeindrucken. "Als beispielsweise Union Berlin 2015 ein Flüchtlingsheim einrichtete, gab es heftige Proteste der Anwohner", sagt Westland. "Aber es gab auch viel Solidarität, und die Leute begannen, mit den Protestierenden zu diskutieren. Sie versuchten, ihnen begreiflich zu machen, dass die Flüchtlinge unsere Hilfe brauchen und nicht für unsere sozialen Probleme verantwortlich sind. Und tatsächlich hörten die Proteste nach einer Weile auf." In England sei dies ähnlich gewesen: "Trotz der Feindseligkeit in den Medien und der Politik fiel die Reaktion der Fußballclubs überwältigend positiv aus. Sie sehen, dass sie eine Rolle dabei spielen können, Leuten bei der Anpassung an ein neues Land zu helfen, die Integration zu fördern und die Communitys zusammenzubringen."

In Wetherby ist die Partie zu Ende. Leeds hat mit 5:3 gewonnen. Einen der schönsten Treffer des Spiels hat Wael erzielt, ein untersetzter Jugendlicher mit Vollbart, der vor drei Jahren von Syrien nach England kam. Er will professioneller Fußballer werden – und scheint das Talent dazu zu haben. Nach dem Spiel gibt es Verpflegung, dann fahren beide Mannschaften nach Leeds, ins Stadion an der Elland Road, wo der gemütlichere Teil des Wochenendes beginnt: Der Verein hat den Flüchtlingen Karten für das heutige Spiel geschenkt. Zum zweiten Mal treten hier die "Whites" gegen Barnsley an, nur sind diesmal die Profis dran.

Naomi Westland sitzt etwas erschöpft, aber in bester Stimmung auf der Tribüne, das Wochenende hätte nicht besser laufen können. "Wir hoffen, dass wir das Ganze im nächsten Jahr wiederholen können, die Rückmeldungen der Clubs und der Teilnehmer waren fantastisch." Später erfährt sie, dass es beim Match zwischen den Clubs von Middlesborough und Derby, die ebenfalls zwei Flüchtlingsteams aufstellten, zu einem überraschenden Wiedersehen kam: "Ein Spieler aus Middlesborough kannte zwei Leute aus dem Derby-Team: Der eine war ein Freund aus seinem Heimatdorf im Sudan, der andere ein Flüchtling, den er in Frankreich kennengelernt hatte, als beide auf dem Weg nach Großbritannien waren. Es ist ein Klischee, dass Fußball die Leute zusammenbringt, aber hier war es wortwörtlich der Fall." 

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