Amnesty Journal 26. Dezember 2023

"Menschengemachte humanitäre Katastrophe"

Männer suchen nach Überlebenden in einem zerbombten Haus, Kinder stehen daneben.

Seit den Massakern der Hamas in Israel am 7. Oktober greift die israelische Armee den Gazastreifen an. Etwa zwei Millionen Menschen sind dort ohne ausreichenden Zugang zu Nahrung und Medikamenten eingeschlossen, mehr als 10.000 wurden bereits getötet. ­Amnesty-Researcherin Budour Hassan über die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza.

Interview: Hannah El-Hitami

Seit dem 7. Oktober hat Israel den ­Gazastreifen fast vollständig abgeriegelt. Nur wenige humanitäre Hilfs­güter erreichten die Menschen. Wie ist die Lage der Zivilbevölkerung?

Gaza ist seit 2007 abgeriegelt und wurde täglich von Hunderten LKWs mit Nahrung, Wasser, Treibstoff und Medikamente versorgt. Seit dem 7. Oktober beschränkt Israel den Zugang von Hilfsgütern an allen Grenzübergängen. Die fast vollständige Belagerung wird verschärft durch die heftigen Luftangriffe auf Gaza. Erst drei Wochen nach Kriegsbeginn einigten sich Israel und Ägypten darauf, eine sehr begrenzte Menge von humanitären Hilfsgütern nach Gaza zu lassen. Die Menschen hungern. Wir sind in Kontakt mit Menschen, die seit Wochen kein Brot gegessen haben, weil die Schlangen an den Bäckereien so lang sind. Und das, was ankommt, darf nur im Süden des Gazastreifens verteilt werden. Dabei leben auch im Norden noch Hunderttausende Menschen, die nicht fliehen können oder wollen. Es ist eine menschengemachte humanitäre Katastrophe.

Es wurde viel über die desolate Lage der Krankenhäuser berichtet. Gibt es noch funktionsfähige Einrichtungen?

Vor dem Krieg waren die großen Krankenhäuser im Norden von Gaza. Diese können überhaupt nicht mehr arbeiten. Den Krankenhäusern im Süden fehlt es an allem. Unser Mitarbeiter vor Ort berichtete uns von Menschen, die amputiert werden mussten und für die es keine Schmerzmittel gab. Auch Narkosemittel sind kaum vorhanden. Die Krankenhäuser bitten dringend um Blutspenden, um die Massen an Verletzten zu versorgen. Die verbliebenen Krankenhäuser müssen Hunderttausende aufnehmen, darunter die Menschen, die aus den Krankenhäusern im Norden evakuiert wurden. Sie sind völlig überfordert und müssen Patient*innen viel zu früh entlassen, weil keine Betten frei sind. Auch an medizinischem Personal mangelt es. Mehrere Dutzend Ärzt*innen und Pfleger*innen wurden bei Luftangriffen getötet. Wir sprachen mit Ärzt*innen, die seit Wochen nicht zu Hause waren, die selbst kaum essen und fast rund um die Uhr arbeiten.

Die israelische Armee rechtfertigt Angriffe auf Krankenhäuser damit, dass sich dort Hamas-Stützpunkte befinden sollen. Wie bewerten Sie das?

Die israelische Armee hat bislang keine substanziellen Beweise geliefert, dass die Krankenhäuser für militärische Zwecke genutzt werden. Aber selbst wenn es so wäre, würden die Krankenhäuser zwar ihren Schutzstatus verlieren – Israel müsste sich aber bei jedem Angriff an die Regeln des humanitären Völkerrechts halten. Das heißt, Angriffe müssen proportional sein und zwischen Zivilist*innen und Kämpfer*innen unterscheiden.

Was muss jetzt passieren, um die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen?

Amnesty fordert ein Ende der Belagerung und eine Waffenruhe aller Konfliktparteien. Die Menschen in Gaza konnten noch nicht einmal ihre Angehörigen angemessen beerdigen, weil sie noch unter Trümmern begraben sind. Menschen im Süden Gazas wissen nicht, ob ihre Angehörigen im Norden noch am Leben sind. Egal, wie viel humanitäre Hilfe Gaza erreicht – solange die Luftangriffe nicht aufhören, werden die Krankenhäuser überlastet bleiben. Eine Waffenruhe würde das Leid der Bevölkerung mildern und das Gesundheitssystem entlasten. Außerdem könnte dann über die weitere Freilassung der Geiseln der Hamas verhandelt werden, ebenso wie über die Freilassung willkürlich inhaftierter Palästinenser*innen in Israel. Wir fordern, dass alle Zivilist*innen in ihre Häuser zurückkehren dürfen, aus denen sie vertrieben wurden. Diese Vertreibung darf nicht wie 1948 zum Dauerzustand werden.

Budour Hassan ist Amnesty-Reasearcherin in Gaza. Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Unterschiedliche Perspektiven zu präsentieren, ist das Ziel unserer Berichterstattung über den Nahostkonflikt. Mit unseren Beiträgen wollen wir zu einer offenen, konstruktiven und sachlichen Debatte beitragen. Lesen Sie zum Nahost-Konflikt auch unseren Artikel aus Israel.

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