Amnesty Journal Frankreich 07. Dezember 2020

Mit Sicherheit unsicher

Ein schwarzweißes Foto, das Polzeigewalt zeigt, ist so mit Cartoon-ähnlichen Elementen übermalt, dass eine Demonstrantin, die von einem Polizisten getreten wird, wirkt, als würde sie ihm beim Schuheanprobieren helfen.

Neue Treter: Fotoaktion von Amnesty Frankreich gegen das umstrittene Sicherheitsgesetz (sécurité globale), 2020

Polizeigewalt ist in Frankreich ein großes Problem. Im Internet werden Fälle von Machtmissbrauch dokumentiert. Nun hat die französische Regierung ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die Videos kriminalisiert, auf denen Polizisten im Einsatz zu sehen sind. Tausende protestieren.

Aus Paris von Luis Jachmann

Ein großgewachsener Mann hält sich einen Moment lang draußen ohne Maske auf. Mitten im Lockdown, an einem Novemberabend in Paris. Sein Name ist Michel Zecler. Er ist Musikproduzent. Als er ein Polizeifahrzeug sieht, versucht er, aus Angst vor einem Bußgeld, schnell in sein Tonstudio zurückzukehren. Doch schon sind drei Polizisten hinter ihm her, beschimpfen ihn rassistisch, prügeln unvermittelt auf ihn ein. Wieder und immer wieder, ins Gesicht, auf den Kopf, mit Schlagstöcken, minutenlang. Eine Kamera hat die rohe Gewalt der Polizisten gefilmt.

Es gibt viele Beispiele brutaler Polizeieinsätze in Frankreich. Sie sind auf bewegten Bildern festgehalten und verbreiten sich schnell in den Online-Netzwerken. Für die Opfer sind sie vor Gericht oft der einzige Beweis. Doch ein neues Gesetz soll im Internet kursierende Bilder von Polizeigewalt künftig verhindern. Das französische Parlament hat es bereits verabschiedet, im Januar könnte der Senat, die zweite Kammer, es noch einmal prüfen.

Gegen das Sicherheitsgesetz (Sécurité globale) formierte sich schnell Widerstand. Die Zeitung Libération veröffentlichte einen Appell von 800 Film- und Medienschaffenden, die die Pressefreiheit in Gefahr sehen. Einen Rüffel gab es auch aus Genf, Sprecher des UN-Menschenrechtsrats sehen das Recht auf freie Meinungsäußerung bedroht.

Für Anne Sophie Simpère von Amnesty International in Frankreich ist völlig schleierhaft, warum es das neue Sicherheitsgesetz gibt: "Der französische Innenminister sagt, das Gesetz solle die Polizisten schützen. Dabei gibt es das Recht am eigenen Bild, das schon längst alle vor Bedrohungen, Beleidigungen und Missbrauch schützt, natürlich auch Polizisten."

Der französische Innenminister sagt, das Gesetz solle die Polizisten schützen. Dabei gibt es das Recht am eigenen Bild, das schon längst alle vor Bedrohungen, Beleidigungen und Missbrauch schützt

– natürlich auch Polizisten.

Anne Sophie
Simpère
Amnesty International in Frankreich

Proteste im ganzen Land

Wenige Tage nach der Parlamentsdebatte im November trieb das umstrittene Gesetz Tausende Menschen auf die Straße – mitten im Lockdown. In mehreren französischen Großstädten hatten Journalistinnen und Journalisten, Gewerkschaften und linke Parteien zu Protesten aufgerufen. Bei der landesweit größten Kundgebung in Paris versammelten sich in der Nähe des Eiffelturms vor allem junge Leute.

Eine von ihnen war Joana Furquim. Die Brasilianerin, die in der französischen Hauptstadt studiert, kam mit ihren französischen Freunden zur Demonstration. Sie hörten die Parolen: "Polizei überall, Gerechtigkeit nirgendwo". Zwischendurch wurde es ruhig. Es lag Melancholie in der Luft, sagt Furquim. "Ich bin noch nicht lange in Frankreich, aber ich spüre, dass dieses Gesetz eine Gefahr für die Demokratie ist. Es ist ein Angriff auf Menschen, die an Freiheitsrechte glauben. Für mich ist es keine Frage, dass wir gegen das Gesetz protestieren müssen". Auch eine andere Demonstrantin sah die Freiheit in Gefahr: "Wir können Bilder vom Machtmissbrauch der Polizei bald nicht mehr vor Gericht verwenden", so ihre Befürchtung. "Dabei ist das unsere einzige Möglichkeit, Polizeigewalt zu beweisen."

Mancherorts flackerten rote Bengalos auf. Fast alle Demonstrierenden trugen Masken und wahrten Abstand, so gut es ging. Auf einer Bühne hielten Medienschaffende und Menschen aus der Zivilgesellschaft Reden, sprachen von Polizeistaat und vom Ende der Pressefreiheit.

Arié Alimi von der französischen Liga für Menschenrechte stellte fest: "Das Gesetz soll straffällige Polizisten vor Verfolgung schützen. Präsident Emmanuel Macron hat der Polizeigewerkschaft dieses Zugeständnis gemacht, auf das sie lange gewartet hat". Viele Plakate auf der Demonstration spiegelten ähnliche Befürchtungen wider: "Demokratischer Notstand", "Wenn Schweigen zum Verrat wird", "Wer schützt uns vor der Polizei?" war darauf zu lesen.

Pressefreiheit in Gefahr

Manuel Ausloos filmt regelmäßig bei Demonstrationen im Auftrag französischer Sender und Presseagenturen. Der Kameramann sieht ein generelles Problem: "Die Polizei provoziert oft. Plötzlich entscheidet sie offenbar willkürlich, eine Zone zu sperren. Das stachelt insbesondere diejenigen an, die eine Auseinandersetzung suchen. Dann schaukelt sich alles hoch. Am Ende einer Demo kommt es eigentlich immer zu heftigen Auseinandersetzungen – ausgelöst durch Vandalismus der Demonstrierenden oder weil die Polizei die Versammlung aggressiv auflöst. Schnell ist Tränengas im Spiel. Und leider schlagen manche Polizisten dann auch mit ihren Schlagstöcken zu."

Vor einem Jahr war der 27-Jährige noch auf der Journalistenschule. In den letzten Monaten seiner Ausbildung berichtete er bereits für eine Presseagentur über Proteste in Paris. Immer dabei: eine große Kamera, ein Mikrofon und ein Stativ, einen Presseausweis hatte er jedoch zunächst nicht. "In Frankreich brauchst du den nicht zwangsläufig, um über eine Demonstration zu berichten. Aber ich habe oft Situationen erlebt, in denen Polizisten mir sagten: 'Nein, du rührst dich nicht vom Fleck. Du hast keinen Presseausweis'. Dabei hatte ich die schwere Ausrüstung bei mir, und das Logo der Presseagentur war überall zu sehen."

Aber selbst ein Presseausweis sei keine Garantie dafür, dass Journalistinnen und Journalisten ihre Arbeit machen könnten, berichtet Ausloos: "Auch Kolleginnen und Kollegen mit Presseausweis werden von der Polizei schikaniert, festgehalten und sogar verletzt. Früher hatte das nicht diese Dimension." Joana Furquim blieb mit ihren Freundinnen und Freunden bis zum offiziellen Ende der Kundgebung gegen das neue Sicherheitsgesetz. Als die Polizei den Platz räumte, kam es zu Ausschreitungen. Einige Demonstrierende wurden vorübergehend in Gewahrsam genommen. Furquim kann den Unmut ihrer Mitdemonstrierenden verstehen: "Das Gesetz ist schockierend. Und einige bedenkliche Dinge, die das Gesetz der Polizei zusichert, sind längst im Einsatz: Auch heute schwebte eine Drohne über uns."

 

Ein schwarzweißes Foto, das Polzeigewalt zeigt, ist so mit Cartoon-ähnlichen Elementen übermalt, dass die Demonstranten wie Schmetterlinge erscheinen und die Polizisten wie Schmetterlingsfänger.

Hasch mich, ich bin ein Schmetterling: Fotoaktion von Amnesty Frankreich gegen das Sicherheitsgesetz (sécurité globale), 2020

Das Gesetz soll straffällige Polizisten vor Verfolgung schützen. Präsident Emmanuel Macron hat der Polizeigewerkschaft dieses Zugeständnis gemacht, auf das sie lange gewartet hat.

Arié
Alimi
französische Liga für Menschenrechte

Umfangreiche Überwachung

Die geplante Ausweitung der Überwachung stellt nach Ansicht von Anne Sophie Simpère von Amnesty International eine Gefahr dar: "Nach dem neuen Gesetz können Polizeidrohnen, die Aufnahmen machen, fast überall eingesetzt werden. Es gibt nur noch wenige Einschränkungen. Das steht in keinem Verhältnis zum Schutz der Privatsphäre und zum Recht auf Versammlungsfreiheit."

Formuliert hat das Gesetz ausgerechnet Jean-Michel Fauvergue, der früher eine Spezialeinheit der Polizei zur Terrorismusbekämpfung leitete und heute Abgeordneter von Macrons Partei "La République en Marche" ist. Er sagte, das Gesetz ziele darauf ab, eine "Hetzjagd" gegen Einsatzkräfte in den Online-Netzwerken zu verhindern und "die Hoheit im Krieg der Bilder wiederzugewinnen".

Tatsächlich haben die Bilder über Gewaltexzesse von Polizistinnen und Polizisten Frankreich schockiert. Nach Ansicht von Manuel Ausloos hat die systematische Polizeigewalt seit den Gelbwesten-Protesten ein neues Niveau erreicht: "Seither ist Gewalt offenbar ein adäquates Mittel der Polizei – auch weil sie selbst Gewalt erfahren hat. Sie versucht erst gar nicht mehr, zu deeskalieren."

Der Regisseur David Dufresne hat mit seinem Dokumentarfilm "Das Gewaltmonopol" zuletzt schonungslos gezeigt, wie Polizeigewalt zu einem Klima des Misstrauens beigetragen hat. Für seinen Kinofilm trug er gefilmtes Material von Journalistinnen und Journalisten sowie aus Online-Netzwerken zusammen und dokumentierte so mehr als 30 Fälle von Polizeigewalt.

Das Gesetz ist ein übles Signal. Die Polizisten haben das Gefühl, dass sie jetzt tun können, was sie wollen. Denn sie wissen, dass die Regierung hinter ihnen steht.

Manuel
Ausloos
französischer Journalist und Kameramann

Rabiate Polizeieinsätze mehrten sich während des Lockdowns auch an den Schulen. Als am Gymnasium Colbert im Norden von Paris Schülerinnen und Schüler den Eingang blockierten und striktere Maßnahmen zum Schutz vor dem Corona-Virus forderten, rückte die Polizei mit Tränengas an und löste die friedliche Blockade auf. Ein Journalist, der die Szene filmte, wurde aufgefordert, damit aufzuhören. Er wurde schließlich durch das Tränengas vertrieben. "Die Regierung kennt nur eine Antwort auf Gegenstimmen: neue Sicherheitsmaßnahmen", stellt Manuel Ausloos fest: Und das führt zu immer mehr unverhältnismäßigen Polizeieinsätzen. Überall."

Auch Geflüchtete werden Opfer von Polizeigewalt. Im November räumte die Polizei ein großes Camp im Norden von Paris und machte damit Hunderte Geflüchtete obdachlos. Bilder von Hilfsorganisationen zeigten, wie die Polizei mit Tränengas schoss. Als die Organisationen einige Tage später ein symbolisches Protestcamp auf dem Place de la République einrichteten und Zelte aufstellten, in denen sich Geflüchtete niederließen, rückte erneut die Polizei an. Dutzende Gendarmen mit Schlagstöcken, Tränengasgranaten und Schutzschildern räumten den Platz. Einige von ihnen griffen Helferinnen und Helfer an, warfen die Zelte um und zogen die Geflüchteten heraus. Eine Hilfsorganisation sprach später von einer "Menschenjagd".

"Das Gesetz ist ein übles Signal. Die Polizisten haben das Gefühl, dass sie jetzt tun können, was sie wollen. Denn sie wissen, dass die Regierung hinter ihnen steht", sagt Manuel Ausloos. Innenminister Gérald Darmanin  räumte in der Nacht nach der Räumung auf Twitter ein, dass einige Bilder schockierten. Er erwarte von der Polizeipräfektur eine Aufarbeitung der Ereignisse. Das Sicherheitsgesetz stellte er aber nicht in Frage.

Eine Woche später gingen noch mehr Menschen gegen das Gesetz auf die Straße. Mehr als 40.000 waren es allein in Paris. Auch Joana Furquim war wieder dabei. Es kam zu heftigen Ausschreitungen. Autos wurden angezündet, Steine geworfen. Die Polizei ging dazwischen, auch Drohnen kamen wieder zum Einsatz. "Die Überwachung durch die Polizei hindert mich nicht daran, weiter auf Demonstrationen zu gehen", sagt die Studentin.

Noch hat das Gesetz einige Hürden zu überwinden. Frankreichs Premierminister Jean Castex hat bereits angekündigt, dass es vom Verfassungsgericht geprüft werden solle. Sicher ist sicher.

Luis Jachmann ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

HINTERGRUND

Das Sicherheitsgesetz (sécurité globale)

Wurde im Eilverfahren im französischen Parlament diskutiert und am 20. November mit großer Mehrheit verabschiedet. Besonders umstritten ist Artikel 24: Er verbietet die Aufnahme und Veröffentlichung von Bildern, die Polizisten im Einsatz zeigen. In letzter Minute wurde der Gesetzestext um das Wort "malveillant" ("böswillig") ergänzt. Bei einer "klar böswilligen Absicht" soll die Verbreitung von Polizeiaufnahmen mit einer Geldstrafe von bis zu 45.000 Euro und einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Der französische Innenminister versicherte, die journalistische Arbeit werde dadurch nicht beeinträchtigt. Medienvertreterinnen und Menschenrechtsverteidiger sprechen aber sehr wohl von einem Eingriff in ihr Recht, über Polizeigewalt zu berichten.

Andere Artikel des Sicherheitsgesetzes geben der Polizei mehr Mittel an die Hand. Artikel 25 zum Beispiel erlaubt Polizistinnen und Polizisten, auch außerhalb des Dienstes eine Waffe in öffentlichen Gebäuden mitzuführen. Umstritten ist auch der neue Rahmen für die Nutzung von Drohnen und von Software zur Gesichtserkennung. Das Gesetz schränkt die Anwendung dieser technischen Hilfen zur Videoüberwachung durch die Polizei kaum noch ein.