Amnesty Journal Frankreich 21. Mai 2021

Der Knochen, an dem die Scham nagt

Kinder sitzen in schummrigem Licht auf dem Boden inmitten einer Ausstellung von Exponaten in einem Museum; die Werke sind hölzerne Figuren, halb Tier, halb Mensch.

Vor mehr als drei Jahren versprach der französische Präsident, koloniale Raubkunst aus Afrika zurückzugeben. Viel geschehen ist bislang nicht. Afrikanische Expert_innen sehen dennoch einen kunsthistorischen Paradigmenwechsel.

Von Frédéric Valin

Im November 2017 sprach Frankreichs Präsident Emanuel Macron vor Studierenden in Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos. Es war eine Grundsatzrede über die Beziehungen Frankreichs zu den afrikanischen Ländern, insbesondere den ehemaligen Kolonien. Macron versprach eine Abkehr vom postkolonialen Konstrukt der Françafrique, das in ers­ter Linie der Sicherung französischer Vorherrschaft diente, und skizzierte eine afrikanisch-europäische Partnerschaft.

Teil der Rede war auch eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Macron versprach unter anderem die Rückgabe geraubter Kulturgüter. Die französische Regierung beauftragte den senegalesischen Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr, der als einer der wichtigsten Intellektuellen Afrikas gilt, und die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, den Bestand geraubter Kunst- und Kulturobjekte zu sichten und Möglichkeiten der Rückführung zu erfassen.

Sarr und Savoy identifizierten 90.000 Kunstgegenstände, die sich derzeit in französischen Museen befinden und aus ­afrikanischen Ländern südlich der Sahara stammen, darunter 46.000, die während der Kolonialzeit geraubt wurden. Der ­überwiegende Teil gehört dem Musée du quai Branly – Jacques Chirac. Als der Bericht an Macron übergeben wurde, kündigte er an, auf der Stelle 26 Objekte an Benin zurückzugeben, die ­bereits 2016 Teil einer damals abgelehnten Restitutionsanfrage gewesen waren. Sie waren geraubt worden, während die französische Armee in den 1890er-Jahren das Königreich Dahomey annektiert hatte.

Museum gestürmt

"Die Rede von Monsieur Macron war eine große Erleichterung", sagt Silvie Memel Kassi. Sie ist die Direktorin des Museums der Zivilisationen in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste.

Es gebe jetzt viele Herausforderungen zu bewältigen, juristische Fragen, aber auch technische, infrastrukturelle, logistische, dokumentarische. Und es stelle sich auch die Frage, was mit den Objekten geschehen werde, wenn sie wieder in Afrika seien. ­Memel Kassi spricht hier aus eigener trauriger Erfahrung: Nach den Unruhen im Anschluss an die Präsidentschaftswahl 2011 war ihr Museum gestürmt worden, 120 Werke wurden geplündert. "Wir brauchen eine Infrastruktur, und wir brauchen auch die Dynamik, die sich jetzt entfaltet, den wissenschaftlichen Austausch."

148 Objekte hat eine Kommission zunächst ausgewählt, die sofort zurückgeführt werden sollen. Darunter befindet sich auch das Djidji Ayokwe, eine drei Meter große, heilige Kriegstrommel, die zur Warnung vor den sich nähernden Kolonisatoren diente. Andere Objekte, heilige Masken zum Beispiel, deren Raub ganze Communities destabilisierte, sollen zurück an ihre Ursprungs­orte.

In der Zwischenzeit baut die Elfenbeinküste ein Dutzend Museen an verschiedenen Standorten auf. "Das ist alles erst ein Anfang", sagt Memel Kassi. "Kunstwerke aus der Elfenbeinküste lagern überall auf der Welt."

Felwine Sarr hat in seinem programmatischen Essay "Afrotopia" auch einen Hintergrundtext zur Debatte geliefert. "Das Offene Denken bedeutet, das Leben, das Lebbare, das Gangbare anders zu denken als im Modus der Quantität und der Habgier", heißt es in Afrotopia. Neue Wege zu finden, wird dabei nicht vorrangig die Aufgabe des "westlichen Begriffskosmos" sein; Sarr will die Ideen der Entwicklung und des Fortschritts, die den afrikanischen Gesellschaften aufgezwungen wurden, und die daraus entstandenen Werte infrage gestellt ­sehen. Voraussetzung dafür ist auch ein eigener Umgang mit der Vergangenheit: nicht als Startpunkt einer Entwicklung im westlichen Sinne, vielmehr als eine der Grundlagen für Gesellschaften überhaupt.

Mikrokredite für Kunst

"Die Diskussion ist nicht neu, seit den Unabhängigkeiten gibt es Rückführungsforderungen. Macron hat die Debatte nicht erfunden. Es ist wichtig, das festzuhalten, weil sonst in Europa der Eindruck entstehen könnte, es würden Geschenke verteilt", sagt El Hadji Malick Ndiaye. Er ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar und Kurator am Museum für afrikanische Kunst Théodor Monod. "Die Restitution ist ein Akt der sozialen Gerechtigkeit. Kunsthistorisch befinden wir uns in einem Paradigmenwechsel", sagt Ndiaye. "Ethische Fragen spielen eine größere Rolle, die Idee des Museums wird dekonstruiert, die Vorstellung von Kulturerbe wird umgeschrieben."

Klangvolle Reden, wie die von Macron, habe es schon einige gegeben, aber nicht immer hätten sie zu den angekündigten Veränderungen geführt. "Institutionen wie das Museum haben ihre eigenen Widerständigkeiten, ihre eigene Mentalität der Langsamkeit", sagt Ndiaye. "Wir brauchen eine neue Moral, was die Bewahrung von Kunstwerken anbelangt: Und die muss davon ausgehen, dass die heiligste Dimension des Individuums die Kreativität ist." Deswegen sei es eine kulturelle Aufgabe, jene Dinge, die die Vorfahren geschaffen und hinterlassen haben, zu bewahren.

Diese Frage stellt sich gerade auch den Museen. Ein Beispiel sind die Kulturbanken in Mali: Sie funktionieren wie Pfandhäuser für Kunstwerke. Statt dass Menschen, die Geld brauchen, ihre Kunst an Sammler_innen verkaufen, stellen sie es diesen Orten zur Verfügung und bekommen dafür Mikrokredite; anschließend können sie das Objekt wieder zurückkaufen. "Das ist eine von vielen neuen Arten des Museums. Und das ist ein Teil der Antworten beim Antagonismus lebende versus tote Kultur", sagt Ndiaye.

Trauer und Traumata

Auch Pélagie Gbaguidis Haltung bewegt sich zwischen ­Freude und Skepsis: "Diese Rede hat radikal mit dem Konser­vatismus seiner Vorgänger gebrochen. Nichtsdestotrotz war sie wieder einmal begleitet von einer gewissen Arroganz. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um einen echten Bruch handelt oder ob Präsident Macron die kommunikativen Effekte im Auge hat", sagt die Künstlerin aus Benin.

Am bekanntesten ist Gbaguidis Werkserie "Le Code noir", die die Gewalt des Sklavenhandels und die daraus folgenden Traumata behandelt. Ihre Zeichnungen sind zart und gewaltvoll gleichermaßen. Es ist viel Trauer darin, viel Schrecken. Sie selbst bezeichnet sich als eine zeitgenössische "Griot", eine Person, die das Wissen und die Geschichten der Vergangenheit bewahrt und weitererzählt. "Diese Haltung erlaubt es mir, die Schmerzen über das Unrecht nicht als Hindernis zu sehen, sondern als Grundlage dafür, mich zu verändern. Ich bin ein Archiv. Woher kommen die Schmerzen, eure, meine, unsere? Es ist ein fortwährendes Hin und Her zwischen kollektiver und individueller Erfahrung."

Die Wunde der Kolonialzeit und des Sklavenhandels wird niemals verschlossen werden können, sagt Gbaguidi. Aber die Restitution könnte, auf spiritueller und symbolischer Ebene, nicht als Wiedergutmachung, sondern als Änderung der Beziehungen der Welt zu Afrika wahrgenommen werden. In einem ihrer Gedichte schreibt Gbaguidi: "Was ist Restitution / Ein wenig Wahrheit auf dem Knochen, an / dem die Scham längst nagt."

Ein wenig Wahrheit: Die beginnende Restitution in Frankreich ist nur ein zarter Anfang. In Belgien, in Deutschland, in Großbritannien, in den USA lagern unzählige geraubte Kunst- und Kulturgegenstände. Macron hatte für April 2019 eine große internationale Konferenz angekündigt, die diese Frage behandeln sollte; die Veranstaltung fand aber nie statt. "Wir haben Zeit", sagt Memel Kassi. "Aber es geht in die richtige Richtung."

Frédéric Valin ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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