Amnesty Journal 15. März 2023

Der Stoff, aus dem die Zukunft ist

Werbefoto, auf dem ein afrikanisches Model so tut, als steige es in ein Flugzeug, das im Comic-Stil auf eine Leinwand gemalt ist, die an der Wand hängt.

Mode als Medium des gesellschaftlichen Wandels: Die Ausstellung "Africa Fashion" in London präsentiert Kreationen wichtiger afrikanischer Modedesigner*innen des 20. Jahrhunderts, in dem sich Afrika politisch und sozial neu ordnete.

Von Brigitte Werneburg

Das Victoria and Albert Museum beherbergt eine bedeutende Sammlung von Kunstgewerbe und Design aus aller Welt. Jetzt widmet es sich zum ersten Mal in seiner 170-jährigen Geschichte Mode aus Afrika und der afrikanischen Diaspora. "Diese Schwerpunktsetzung war überfällig", sagt Museumskuratorin Christine Checinska, die für afrikanische Mode zuständig ist. Die Ausstellung "Africa Fashion" soll auch ein erster Schritt sein, um das Museum neu auszurichten, dessen Bestand eng mit dem britischen Kolonialismus verbunden ist.

Der historische Überblick setzt in der Ära der Dekolonialisierung ein: "1960 war das Jahr Afrikas", heißt es im Ausstellungstext. Mehr als 17 Länder erklärten damals ihre Unabhängigkeit. Ein neuer Stolz auf die afrikanische Identität kennzeichnete nicht nur Literatur, Musik und Kunst, sondern auch die Mode. Vor dem Hintergrund der radikalen politischen und sozialen Neuordnung des Kontinents fand eine regelrechte kulturelle Renaissance statt. Die Art, sich zu kleiden, enthielt eine politische Aussage. So zeigte sich etwa der ghanaische Premierminister Kwame Nkrumah, der sonst im Maßanzug der Savile Row auftrat, bei den Feiern zur Unabhängigkeit seines Landes 1957 ganz bewusst in der locker fallenden, weiten Oberbekleidung Westafrikas, gefertigt aus Kente, einem traditionellen, farbenfrohen und dicken Seidenstoff.

Rückbesinnung auf Tradition

Der Rückbesinnung auf die traditionelle Kleidung und das alte Handwerk folgte ihr neuerlicher, zeitgenössischer Einsatz und Gebrauch. "Africa Fashion" versammelt die modischen Pionier*innen dieser Bewegung, die einen Höhepunkt im First World Festival of Black Arts 1966 in Dakar fand. Das Festival umfasste das ganze Spektrum der Künste und ging auf eine Initiative des ersten Präsidenten Senegals, Léopold Senghor, zurück. Es sollte eine Feier des Panafrikanismus sein, also der Einheit aller Schwarzen, auch in der Diaspora, aus der ein gemeinsamer Anspruch auf den afrikanischen Kontinent abgeleitet wurde.

Eine schwarze Frau in einem modischen Kostüm trägt einen hochaufragenden Strohhut.

Das von vielen Designer*innen und Künstler*innen geteilte panafrikanische Selbstbewusstsein bildet die konzeptuelle Klammer der Ausstellung, die eine Auswahl modischer Positionen zeigt. Einen Überblick über die Mode aller 54 Länder des Kontinents bieten zu wollen, wäre vermessen, zumal von einer einheitlichen afrikanischen Ästhetik keine Rede sein kann. Doch spielt überall in Afrika der Stoff eine besondere Rolle. Die afro­karibische Künstlerin Sonya Clark wird mit der Bemerkung zitiert, Stoff sei für die Afrikaner*innen das, was für den Westen Denkmäler seien.

Die Bedeutung von Stoff für die nationale Identität zeigt sich auch daran, dass regelmäßig Gedenktücher produziert werden, so zum Beispiel anlässlich der Wahl von Nelson Mandela zum Präsidenten des ANC 1991. Das mit seinem Porträt und der Aufschrift "Ein besseres Leben für alle – wir arbeiten gemeinsam für ­Arbeitsplätze, Frieden und Freiheit" bedruckte Tuch findet sich in einer Vitrine, die der "Politik und Poesie des Stoffs" ­gewidmet ist. Dort steht auch eine Puppe mit einem Kleid aus Dutch wax, jenem scheinbar genuin afrikanischen Festtagsstoff, dessen Muster allerdings im 19. Jahrhundert von niederländischen und englischen Tuchmachern erfunden ­wurden, die wiederum von javanischen Batiken angeregt worden waren.

Ästhetische Potentiale ausloten

Neben den Wachsdrucken werden verschiedene Kente präsentiert, dazu Àdire, ein mit Indigo gefärbter Stoff, der traditionell im Südwesten Nigerias hergestellt wird. Er ist bei Modelabels wie Maki Oh, Lagos Space Programme und Orange Culture populär, wie ein Videoclip aktueller Modeschauen zeigt. Ein weiteres Beispiel der reichen Textilgeschichte Afrikas ist Bògòlanfini, ein Woll- oder Baumwolltuch der westafrikanischen Bamana-Kultur, das mit fermentiertem Schlamm gefärbt wird. Der Stoff bezauberte auch die US-Designer*innen Norma Kamali und Oscar de la Renta, die ihn in ihren Kollektionen zeigten. Der malische Designer Chris Seydou entwarf 1991 ein leichtes Bògòlanfini-Kostüm mit Hut. Er entdeckte den Stoff in seiner Pariser Zeit, und die Begegnung mit dem Vertrauten in der fremden Umgebung inspirierte ihn bei seiner Rückkehr nach Mali 1990, das ­ästhetische Potenzial des Stoffs in Schlaghosen oder Motorradjacken zu erproben.

Wie Seydou gehört auch die Designerin Shade Thomas-Fahm zu den emblematischen Figuren der afrikanischen Moderne im 20. Jahrhundert. Die diplomierte Krankenschwester hatte in London an der Saint Martin’s School of Art Mode studiert. Als Nigeria 1960 unabhängig wurde, eröffnete sie in Lagos eine Boutique, in der schon bald die Prominenz des Landes einkaufte. So trug Lalage Bown, Professorin an der Ibadan Universität in Nigeria, bei der Verleihung des Order of the British Empire im Buckingham Palace ein rotes Samtkleid der Designerin, das in seinem Tunika-ähnlichen Schnitt an die Oberbekleidung von Männern angelehnt war. Ähnlich wie Shade Thomas-Fahm griffen auch Modemacher*innen wie Zina Guessous in Marokko oder Kofi Ansah in Ghana auf traditionelle Materialien und Methoden zurück und legten damit den Grundstein für die aktuelle Moderevolution einer jungen Generation von Designer*innen, die die Ausstellung ebenfalls vorstellt.

Zebradruck und Regenbogenflagge

Eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung modischer Statements spielte die Studiofotografie. So wird zum Beispiel der Fotograf Rachidi Bissiriou aus Benin vorgestellt, der seine Kund*innen in ihrer Alltagskleidung ablichtete, während Sanlé Sory aus Burkina Faso sie auch mal ­gerne als Elvis porträtierte oder Gruppenfotos mit Ghettoblaster inszenierte. Auch die ausgestellten Familienalben enthalten überaus instruktive Modeinformationen. Zeitgenössische Arbeiten von Schmuckdesigner*innen und aktuelle Modefotografien machen klar: Mode ist bis heute ein Medium des gesellschaftlichen Wandels. Dazu zählt auch die Frage, wie eine gerechtere und nachhaltigere Mode­industrie aussehen könnte. Neben der Textilproduktion betrifft dies auch das Design, das zur Langlebigkeit von Ent­würfen beitragen kann.

Dass die zeitgenössische Mode kulturelle und sexuelle Identitäten aufgreift, zeigt die rote Leinendjellaba, die Amine Bendriouich für seine Kollektion "Djellabas & Tricks" im Jahr 2020 mit einem Trenchcoat mixte. Rich Mnisi entwarf eine PRIDE-Kollektion, in der er seinen marken­typischen Zebradruck auf dem "Transgender Pride Tube Dress" oder dem "Progress Pride Bomber Jacket" den Farben der Regenbogenflagge annähert.

Die kenianische Designerin Katungulu Mwendwa erfährt große Wertschätzung für den hochwertigen Minimalismus, der ihr Label Katush kennzeichnet. Sie beschreibt sich selbst als Architektin für Kleider und bezieht sich auf Traditionen der südsudanesischen Dinka. Hinreißenden Strick auf Basis der südafrikanischen Mohairproduktion liefert Lukhanyo Mdingi, der bei der Verleihung des prestigeträchtigen LVMH-Preises 2021 einen Sonderpreis ­erhielt.  Wie weit die Rückbesinnung auf afrikanische Rituale und Praktiken geht, zeigt Thebe Magugu, ebenfalls aus Südafrika und Gewinner des LVMH-Preises 2019. Zu seiner "Alchemy"-Kollektion von 2021 zählte eine mit den Wahrsagewerkzeugen eines traditionellen Heilers bedruckte ­Safari-Jacke.

Brigitte Werneburg ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Die Ausstellung "Africa Fashion" in London ist noch bis 16. April 2023 im Victoria & Albert Museum London zu sehen.

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