Amnesty Journal Deutschland 02. Januar 2023

Befreiung unterm goldenen Lüster

Eine Theaterbühne, auf der Gefängniszellen wie Käfige übereinandergestapelt sind, dreistöckig, in jeder Zelle ein Mensch, davor steht eine Frau in einer Schuluniform, Blues, Rock und Kniestrümpfe und betrachtet die Gefängniszellen.

Das Hessische Staatstheater Wiesbaden legt mit den Opernproduktionen "Fidelio" und "Aus einem Totenhaus" einen Schwerpunkt auf das Thema Gefangenschaft und arbeitet dabei mit Amnesty International zusammen.

Von Constantin Mende, Dramaturg am Hessischen Staatstheater Wiesbaden

Kann Oper politisch sein? Wenn man vor dem Eingang eines Opernhauses steht, dann kommen einem daran Zweifel. Die Architektur strahlt Macht aus: Die großen Opernhäuser des 19. Jahrhunderts zeichnen sich durch kaiserlichen Pomp aus, die des 20. Jahrhunderts scheinen für bürgerliche Selbstvergewisserung zu stehen.

Betritt man etwa das Hessische Staatstheater Wiesbaden, so durchquert man zunächst den Säulengang der Kolonnaden, schlendert durch das Prunkfoyer, das bis unter die Decke mit Stuck und kaiserlichen Insignien geschmückt ist, und betritt dann den Zuschauerraum, in dem einem der denkbar größte Kontrast entgegenschlägt: Der Zuschauerraum ist prunkvoll – Deckengemälde, vergoldeter Stuck, Kaiserloge, Ehrenloge, goldener Lüster –, doch auf der Bühne sind Gefängnisgitter zu sehen. Erstaunlich oft spielen Opern im Gefängnis, so auch die beiden aktuellen Wiesbadener Opernproduktionen: Ludwig van Beethovens "Fidelio" und Leoš Janáčeks "Aus einem Totenhaus". Passt das zusammen? Kann sich eine Oper ernsthaft dem Gefangensein widmen? Müsste sie dazu nicht eben den Staat kritisieren, der sie finanziert und zu dessen Repräsentation sie einst erfunden wurde?

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Politische Dimension von Opern

Schauen wir uns zunächst die Handlung der beiden Opern näher an. Worum geht es in "Fidelio"? Um ihren Ehemann Florestan zu retten, der aus politischen Gründen im Kerker gefangen gehalten wird, verkleidet sich Leonore als Mann und schleicht sich unter dem Namen Fidelio beim Kerkermeister Rocco ein. Als der Minister eine Untersuchung des Gefängnisses ankündigt, sieht sich der Gouverneur Don Pizarro gezwungen, Florestan schnell verschwinden zu lassen. Rocco und sein Gehilfe sollen ein Grab schaufeln, Pizarro wird den Mord selbst ausführen. Leonore sieht im Dunkeln den schlafenden Gefangenen, der von Hunger und Durst ausgezehrt ist. Und dann fällt der Satz, der aus der Oper mehr macht als eine Geschichte über einen Inhaftierten und seine aufopferungsbereite Gattin: "Wer du auch seist, ich will dich retten, bei Gott!, du sollst kein Opfer sein!" Hier geht es nicht mehr um das private Unglück der Ehefrau. Unabhängig davon, wer der Gefangene ist, will Leonore ihn retten. In diesem Moment steht Florestan für alle zu Unrecht Inhaftierten der Welt.

Leoš Janáčeks Oper "Aus einem Totenhaus" basiert auf Fjodor Dostojewskis ­Bericht "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" und schildert das Leben in der russischen Verbannung, Katorga genannt. Janáčeks Spätwerk folgt Dostojewski in seiner nüchternen Beschreibung der Grausamkeiten, aber auch der Hoffnungen der Gefangenen. Die Musik ist existenziell-menschlich, voll Grausamkeit und Schönheit.

Verbindung zum realen Unrecht

Beethoven und Janáček konnten nicht ahnen, dass Florestan und die russischen Verbannten nicht nur für alle politischen Gefangenen ihrer Zeit stehen, sondern dass mehr als 200 Jahre später noch immer, selbst nach der Erfahrung  des Grauens des 20. Jahrhunderts, Menschen aus politischen Gründen inhaftiert sind oder Opfer des Verschwindenlassens werden. Leider sind diese Opern keine antiquierten Liebhaberstücke, sondern in jeder Inszenierung und Aufführung immer noch aktuell.

In "Fidelio" herrscht vor dem Hintergrund des Gefängnisses ein beschauliches Familienleben unter dem patriarchalen Vater und Kerkermeister Rocco – man hat sich mit dem Unrecht irgendwie abgefunden. In gleicher Weise hat sich auch das Publikum, das aus der heilen Welt des prunkvollen Zuschauerraums heraus das Unrecht auf der Bühne betrachtet, mit dem realen Unrecht arrangiert. Das Ernüchternde am Theater ist ja, dass Menschen mit einem Einzelschicksal auf der Bühne mitfiebern, aber in ihre gewohnten Strukturen zurückfallen, sobald sie das Haus verlassen haben. Es stellt sich also die Frage: Wie stellt man zwischen dem Bühnengeschehen und der Wirklichkeit eine Verbindung her?

In Wiesbaden versuchen wir, in enger Zusammenarbeit mit Amnesty International den Blick auf die politische Dimension von Opern zu lenken. In jeder Vorstellung von "Fidelio" und "Aus einem Totenhaus" wird das Publikum auf dem Weg zum Pausensekt zur Aktion gebeten. Mit Premierenmatineen, Einführungen und Sonderveranstaltungen, die wir gemeinsam mit Amnesty-Mitgliedern veranstalten, verbinden wir das, was wir auf der Bühne sehen, mit dem, was in der realen Welt vor sich geht. Denn Verschwindenlassen, menschenverachtende Haftbedingungen, Verfolgung und Inhaftierung von Dissident*innen als Form staatlichen Terrors sind heute noch so aktuell wie vor 200 Jahren.

Frage nach universellen Werten

Oper gilt als Kunstform, die sich emotional allgemeinverständlich an alle richtet. Sie hat damit dem Unrecht etwas sehr Wertvolles entgegenzusetzen. Beethovens "Fidelio" endet mit einem großen Oratorium, in dem alle Gefangenen befreit werden: eine Utopie. In seiner Musik ist die Hoffnung artikuliert, dass ein Staat auf Grundlage universaler Menschlichkeit möglich ist, selbst wenn es die Oper braucht, um von der Verwirklichung dieser Utopie zu träumen.

Obwohl zur Zeit Beethovens und Janáčeks die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch nicht existierte, stellten die Komponisten und Textdichter bereits die Frage nach universalen Werten. Um etwas für alle Gültiges zu erreichen, müsse man von der einzelnen Person abstrahieren und jede Person allgemein als Mensch betrachten, so ihre Botschaft. Auch Bertolt Brecht sah im Theater die Möglichkeit, vom einzelnen Schicksal zu abstrahieren und die Mechanik der Welt von außen zu sehen: "Das epische Theater ist hauptsächlich interessiert an dem Verhalten der Menschen zueinander […]. Der Zuschauer erhält die Gelegenheit zur Kritik menschlichen Verhaltens vom gesellschaftlichen Standpunkt aus, und die Szene wird als historische Szene gespielt."

Das Theater bietet also die Möglichkeit, das Verhalten von Menschen abstrahierend zu betrachten. Es ist damit universal und nicht bloß subjektiv. Es zwingt das Publikum zu einer Entscheidung: Wie verhalte ich mich zu dem, was ich auf der Bühne sehe? Woran leiden die Menschen auf der Bühne? Und wie könnten sie befreit werden? Vielleicht bringt es sogar einige dazu, der Erkenntnis, die sie durch das Theater erfahren haben, ein Engagement in der realen Welt folgen zu lassen.

"Fidelio" wird noch bis zum 8. Januar 2023 am Staatstheater Wiesbaden gezeigt. "Aus einem Totenhaus" hat am 30. April 2023 Premiere. Alle Termine unter: www.staatstheater-wiesbaden.de

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