Amnesty Journal Afghanistan 07. August 2023

Zukunft auf Null gesetzt

Eine afghanische Frau mittleren Alters mit Kopftuch hinter einer Fensterscheibe, in der sich ein Wohnblock und Bäume reflektieren.

Mädchen dürfen keine weiterführenden Schulen mehr besuchen, Studentinnen erhalten keinen Zutritt zu Universitäten. Eine Tragödie, klagt die Frauenrechtsaktivistin Soraya Sobhrang. Sie kämpfte in Afghanistan 20 Jahre lang für Gleichberechtigung, auch in der Bildung.

Von Cornelia Wegerhoff

Soraya Sobhrang gießt grünen Tee auf. Auf dem Wohnzimmertisch stehen Datteln, Feigen, frisches Gebäck. Afghanische Gastfreundschaft, mehr als 5.000 Kilometer Luftlinie von Afghanistan entfernt, in Köln statt in Kabul.

"Ich bin so dankbar, dass wir miteinander sprechen können", sagt die Frau im bestickten blauen Gewand auf Deutsch. Denn seitdem im August 2021 erneut die Taliban an die Macht kamen, sei ihr Heimatland für Mädchen und Frauen "die Hölle". Für Frauenrechtsaktivistinnen wie Soraya Sobhrang ist es lebensgefährlich. Nach dem Machtwechsel lebte sie knapp drei Monate lang im Untergrund, bevor ihr die Flucht über den Iran nach Deutschland gelang.

Schulbesuch ab der siebten Klasse verboten

Soraya Sobhrang ist Gynäkologin und mit 66 Jahren im Ruhestand. In Kabul war sie zuletzt Direktorin der afghanischen Partnerorganisation von Medica Mondiale, der internationalen Frauenrechts- und Hilfsorganisation. Zuvor war sie vier Jahre stellvertretende Frauenministerin und elf Jahre Kommissarin für Frauenrechte in der Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC). Soraya Sobhrang ist also das beste Beispiel dafür, was eine gebildete Afghanin alles erreichen kann. Doch die Taliban sprechen Mädchen und Frauen das Grundrecht auf Bildung ab. "Und das im 21. Jahrhundert", sagt Soraya Sobhrang verbittert.

Im März 2022 wurde Mädchen der Schulbesuch ab der siebten Klasse verboten. Im nächsten Schritt zwangen die Taliban die Universitäten, neue Regeln einzuführen. Eingänge und Hörsäle wurden zunächst nach Geschlechtern getrennt, berichtet Sobhrang. Nachdem im Herbst 2022 noch Tausende Mädchen und Frauen ihre Aufnahmeprüfungen für die Universitäten absolviert hatten, folgte am 20. Dezember 2022 ein Erlass, der den Afghaninnen den Zugang zur Hochschulbildung komplett untersagte.

Ohne Bildung steigt das Risiko für Mädchen, ausgebeutet, missbraucht und früh verheiratet zu werden.

Soraya
Sobhrang
Frauenrechtsaktivistin

Die Geschichte jeder einzelnen Betroffenen sei eine Tragödie, sagt Soraya Sobhrang. Allein in den ersten drei Monaten nach dem Uni-Verbot hätten sich zwölf ehemalige Studentinnen das Leben genommen. Sie kenne eine junge Frau, die bereits sechs Semester Medizin studiert habe und promovieren wollte. Sie sitze nun rund um die Uhr zu Hause und leide unter schweren Depressionen. Ein Mädchen im Bekanntenkreis breche sofort in Tränen aus, sobald es seine alten Schulbücher und die Schuluniform sehe. Diese Menschen hätten jede Hoffnung auf die Zukunft verloren. Doch ohne gebildete Frauen stehe auch die Zukunft Afghanis­tans auf dem Spiel, warnt Soraya Sobhrang. Die Hälfte der Bevölkerung ins Haus zu verbannen, verhindere die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Ihr ganzes Leben habe sie für Gleichberechtigung in Afghanistan gekämpft. Jetzt seien die so mühsam erwirkten Fortschritte "auf Null gesetzt".

Soraya Sobhrang wurde 1956 im westafghanischen Herat geboren, der zweitgrößten Stadt des Landes. Ihr erster Berufswunsch sei Pilotin gewesen, erzählt die Afghanin lächelnd. Sie studierte Medizin, promovierte, arbeitete während der Zeit der russischen Militärintervention im Iran und in Pakistan. 1994, als die radikal-islamistischen Taliban in Afghanistan zum ersten Mal die Macht an sich rissen, floh Soraya Sobhrang zusammen mit ihrem Mann nach Deutschland, lebte in Bad Oldesloe in Schleswig-Holstein.

Belästigungen, Diffamierungen und Todesdrohungen

Nach der von den USA angeführten Militärintervention und dem Ende der Taliban-Herrschaft im Jahr 2001 habe der damalige Präsident Hamid Karzai alle Afghan*innen im Exil aufgefordert, zurückzukehren und das Land wieder aufzubauen. Auch sie sei persönlich angeschrieben worden. "Am 10. Mai 2002 bin ich dann nach Afghanistan zurückgekehrt. Und schon am 11. Mai begann ich, im Frauenministerium zu arbeiten", erinnert sich Soraya Sobhrang. Kurz darauf wurde sie stellvertretende Frauenministerin. "Ich habe am afghanischen 'Grundgesetz' mitgearbeitet, Gesetze für Gleichberechtigung, gegen Kinderehe, Zwangsheirat und Gewalt gegen Frauen mit auf den Weg gebracht."

Auch viele afghanische Männer hätten den Wandel unterstützt. Gerührt beschreibt die ehemalige Politikerin eine Begegnung mit einem Schuhputzer in den Straßen von Kabul. Er habe stolz von seinen beiden Töchtern erzählt, die weiterführende Schulen besuchten.

Ende 2005 wurde Soraya Sobhrang Beraterin der AIHRC. Kurz darauf habe Präsident Karzai sie für den Posten der Frauenministerin vorgeschlagen. "Dazu war aber die Zustimmung des Parlaments nötig", erzählt sie. Sie nutzte den Auftritt vor den Abgeordneten, um über die fehlende Unabhängigkeit der afghanischen Frauen zu berichten. Das verstoße gegen Menschenrechte, Frauen dürften keine Bürger*innen zweiter Klasse sein. "Da saßen aber Fundamentalisten und Warlords vor mir, die sagten: 'Die ist Feministin, vielleicht sogar eine Ungläubige, wenn sie so daher redet.'" Soraya Sobhrang wurde prompt nicht zur Frauenministerin gewählt. Bis heute ist sie stolz darauf, bei diesem Auftritt nicht still geblieben zu sein. Zu Terminen fuhr sie in Begleitung von Bodyguards. Weil sie trotz Belästigungen, Diffamierungen und Todesdrohungen ihr Engagement für die AIHRC unbeirrt fortsetzte, ab 2006 als deren Kommissarin, erhielt sie 2010 im irischen Dublin die Auszeichnung "Front Line Award for Human Rights Defenders at Risk".

Kaum noch geheime Mädchenschulen

Ohne Bildung steige das Risiko für Mädchen, ausgebeutet, missbraucht und früh verheiratet zu werden, warnt Sobhrang nun aus dem Exil. Die Taliban seien auf der Suche nach jungen Bräuten und würden Familien dazu zwingen, ihre unverheirateten Töchter herzugeben. Andere Eltern wiederum würden ihre Töchter gezielt mit einem Taliban verheiraten, um ihre Familie unter dessen Schutz zu stellen. Sie erfahre von immer mehr Mädchen, die mit 14 ein Kind bekommen, anstatt zur Schule zu gehen.

Durch ihre engen Kontakte in die Heimat weiß die Frauenrechtsaktivistin auch, dass es – anders als während der ersten Taliban-Herrschaft bis 2001 – nicht sehr viele geheime Mädchenschulen gibt. Viel zu groß sei die Angst, entdeckt zu werden. Die Taliban kontrollierten auch Privathäuser, folterten und mordeten. Manche Schulmädchen versuchten, mithilfe von Radio Azadi, dem afghanischen Ableger des US-Senders Radio Liberty, weiter zu lernen. Zu festen Uhrzeiten gebe es dort zum Beispiel Chemie- und Mathe-Unterricht, nach Klassenstufen unterteilt. Das sei durchaus eine Hilfe, aber keine Lösung. "Bitte stoppen Sie die Taliban. Das sind Terroristen", lautet deshalb ihr Appell an Deutschland und die Europäische Union. "Es ist auch Ihre Verantwortung, wenn Mädchen und Frauen das Recht auf Bildung verweigert wird."

Soraya Sobhrangs eigene Tochter, 18 Jahre alt, kann in Deutschland wieder zur Schule gehen. Nach ihrem ersten Unterrichtstag in Köln hat die Familie bei grünem Tee, Gebäck und süßen Früchten am Wohnzimmertisch gesessen und gefeiert. Die Tochter will Lehrerin werden.

Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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