Amnesty Journal Deutschland 30. November 2020

Europas Evangelium

Auf einer Theaterbühne sitzen an einer langen mit weißem Tuch gedeckten Tafel 14 Menschen bei einem Essen zusammen.

Jesus als Menschenrechtsaktivist: In seinem Film "Das neue Evangelium" nimmt sich der Regisseur Milo Rau die Situation afrikanischer Migranten in Italien vor (2020).

Ein biblisches Unternehmen: Regisseur Milo Rau hat eine neue, äußerst zeitgemäße Version der Passionsgeschichte gedreht. Mit Geflüchteten und illegalisierten Arbeitern der italienischen Agrarindustrie

Von Jürgen Kiontke

Jesus ist schwarz, er ist Feldarbeiter und hat keine Papiere: Für seinen neuen spektakulären Film nimmt sich Milo Rau die Situation afrikanischer Migranten in Italien vor. Und wie es die Arbeitsweise des Schweizer Theater- und Filmregisseurs ist, bezieht er die Situation und die Menschen vor Ort in das Projekt mit ein. Spielort ist die süditalienische Stadt Matera – hier drehten schon Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Bibelfilme, zum Teil stehen sogar noch die Kulissen. Rau bringt das Genre auf den zeitgemäßen Stand und fragt: Was würde Jesus heute predigen und wie sähen seine Jünger aus?

Die Antwort: Er wäre ein Menschenrechtsaktivist und würde gerechte Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Gestrandeten der europäischen Flüchtlingspolitik fordern, die offiziell zwar abgewehrt, aber als illegalisierte Arbeiter auf den Feldern der Agrarindustrie gern genommen werden.

Jesus als Aktivist

Gemeinsam mit dem Aktivisten Yvan Sagnet, der Jesus spielt und früher selbst auf den Tomatenfeldern geschuftet hat, besucht Rau die aus Brettern und Pappe zusammengezimmerten Unterkünfte der Arbeiterinnen und Arbeiter, filmt an den Orten der Prostitution, in die afrikanische Frauen gezwungen werden, und lässt alle Beteiligten ausführlich zu Wort kommen.

Im Film inszenieren Raus Protagonisten ein Passionsspiel und interpretieren ihre Lage als biblisches Schicksal, das aber alles andere als unveränderbar ist. Dieser Film im Film ist Kunstaktion und Passion gleichermaßen – und vor allem: ein mitreißendes politisches Manifest.

Ein Evangelium für das 21. Jahrhundert, ein Manifest für die Opfer des westlichen Kapitalismus.

Milo
Rau
Regisseur

Milo Rau ist einer der politischsten Regisseure unserer Zeit. Seit fast 20 Jahren geht er in seinen Theaterstücken, Filmen und Büchern mit den ökonomischen und sozialen Verhältnissen in Europa und andernorts ins Gericht. So verband er in seiner "Europa-Trilogie" (2014-2016) die Erzählungen seiner Schauspieler aus 13 Ländern – von Belgien, über Russland bis nach Syrien – zu einer Geschichte der politischen Gegenwart.

Gerichtshof auf Theaterbühne

Für das Meisterwerk "Das Kongo-Tribunal" (2017) nahm er den Welthandel mit seltenen Erden und Metallen für die Digitalindustrie unter die Lupe. Dabei gelang es ihm, auf einer kleinen Theaterbühne in Berlin einen internationalen Gerichtshof zu erschaffen: Das Stück und der daran anschließende Film, die den Bürgerkrieg um Rohstoffe im Ostkongo behandeln, lassen echte Bergleute, Manager, Soldaten und Politiker vor einer Jury aus Anwälten und ehemaligen Richtern zu Wort kommen. Das Tribunal hatte ganz konkrete politische Folgen: Zwei Minister der Demokratischen Republik Kongo sowie der Gouverneur der schwer umkämpften Provinz Süd-Kivu, die das Zentrum des Bergbaus bildet, mussten zurücktreten.

In seinem neuen Film schafft Rau eine Synthese aus der Kritik an einer Weltordnung mit Europa als Zentrum und den Lebenswegen von Menschen, die von diesen Zuständen betroffen sind. Auch künstlerisch ist sein Film ein Meilenstein, er schließt an die Bildsprache Pier Paolo Pasolinis und anderer Regisseure an, die sich mit der Passionsgeschichte auseinandergesetzt haben. Matera, der Schauplatz und Drehort des Passionsfilms, war 2019 Kulturhauptstadt Europas. Milo Rau hat der Stadt ein Denkmal gesetzt; allerdings anders, als man es sich dort wohl vorstellte. Er gibt den sozial Benachteiligten eine Stimme, den Mittellosen, denen, die auf dem Boden schlafen müssen, während um sie herum die europäischen Tomatenplantagen blühen, den Ausgegrenzten in den ärmlichen und offiziell gar nicht existierenden Lagern. "Wo könnten die Widersprüche des modernen Europas sichtbarer sein als hier, und was wäre sinnvoller, als in dieser so unglaublich schönen wie armen Region einen politischen Jesus-Film zu drehen, in dem biblische Erzählung und echte Revolte ineinanderfließen?", fragt Rau.

Es sei eine besondere Art von Film entstanden – zwischen Fiktion und Dokumentation, sagt der Regisseur. "Ein Evangelium für das 21. Jahrhundert, ein Manifest für die Opfer des westlichen Kapitalismus."

"Das neue Evangelium". D/SUI 2020. Regie: Milo Rau. Darsteller: Yvan Sagnet, Marie Antoinette Eyango.

Der digitale Kinostart ist zum 17. Dezember 2020 geplant. Tickets – die Kinos werden am Umsatz beteiligt – gibt es ab 1. Dezember 2020 auf https://dasneueevangelium.de/#digitales-ticket

Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

WEITERE FILMREZENSIONEN

Walking Dad

Wie es in Europa zugeht, wenn man extrem arm ist, das will Regisseur Srdan Golubović zeigen. Die Hauptfigur Nikola in seinem Film "Otac Vater" erfährt gleich drei Schicksalsschläge auf einmal: Seine Frau liegt nach einem Suizidversuch schwerverletzt im Krankenhaus, er ist gerade arbeitslos geworden, und das Sozialamt nimmt ihm auch noch die beiden Kinder weg, weil das Einkommen fehlt. Eine Lage, in der sich schnell zeigt, wie auch die kleinsten Kleinigkeiten zum Problem werden können, wenn man über keine Mittel verfügt. Der Tagelöhner will die behördliche Willkür nicht tolerieren: Er macht sich zu Fuß auf den Weg in die serbische Hauptstadt Belgrad und kampiert dort fortan vor dem Sozialministerium. Ein TV-Team entdeckt ihn, Nikola macht Karriere. Als "Walking Dad" gibt er Interviews und setzt die Behörden unter Druck. Irgendwann spricht sogar der Minister mit ihm – und aus individueller Betroffenheit wird ein Politikum. Der Film, der auf einer wahren Begebenheit beruht, stellt die Zivilcourage des Einzelnen ins Zentrum, die individuelle Protestkraft, die sich gegen soziale Ungerechtigkeit richtet. "Mich faszinierte der Marsch, als ein Akt des Protestes und Zeichen der Freiheit", sagt Regisseur Golubović über einen, dem nichts anderes als das Gehen geblieben ist. Ein so überzeugender wie bedrückender Film, der die Publikumspreise auf den Filmfestivals abräumt.

"Otac – Vater". SRB u.a. 2020. Regie: Srdan Golubović. Darsteller: Goran Bogdan, Boris Isaković. Kinostart: 3. Dezember

Wo die Diktatur absurd wird

Angelegenheiten der existenziellen Art stellt Mohammad ­Rasoulof in seinem neuen Episodenfilm vor und hat damit zu Recht den Goldenen Bären der diesjährigen Berlinale gewonnen. Der Regisseur geht Beispiele durch, bei denen man sich die Hände schmutzig macht. So steht etwa der junge iranische Soldat Javad, der zum Dienst am Galgen abkommandiert wurde, vor der Frage: "Würdest du jemanden für drei Tage Urlaub aufhängen?" Die freien Tage braucht er, um seiner Freundin einen Heiratsantrag zu machen. Als Javad in deren Familie ankommt, stellt er fest, dass diese um einen engen Freund trauert. Wen er aufhängen musste, beichtet er besser nicht. Auch die anderen Geschichten in Rasoulofs Film künden von der brutalen Absurdität in einer Diktatur, von der Möglichkeit und dem Zwang, zu töten – auch, um daraus ­einen Vorteil abzuleiten, und sei es, der Tätigkeit als Henker nachzugehen, um der Familie ein "normales" Leben zu ermöglichen. Rasoulof kämpft nicht mit dem Florett, sondern macht seine Botschaft überdeutlich. Dem vielfach – früher auch in seinem Heimatland – ausgezeichneten Regisseur droht derzeit eine Gefängnisstrafe wegen "Propaganda gegen das System". Reiseverbot hat er schon lange. Den Preis der Berlinale konnte er nur am Handy seiner Tochter Baran entgegennehmen. Sein neuestes Werk ist absolut ­sehenswert und ein überzeugendes Statement.

"Doch das Böse gibt es nicht". CZE/D/IRN 2020. Regie: Mohammad Rasoulof. Mit Pouya Mehri, Baran Rasoulof. Kinostart: 5. November 2020

Protokolle der Stärke

Ihr Vergehen: Frau sein. "Bis gestern kannte mich nur der Mann, der mich angegriffen hat. Jetzt die ganze Welt. Ich bin eine Überlebende sexueller Gewalt", sagt eine der vielen Protagonistinnen, die für den Film "Woman" vor die Kamera ­getreten sind. Sie haben Verätzungen durch Säureattentate erlitten oder Verletzungen durch Schläge und Verstümmelungen. An dem Projekt, das von Amnesty International unterstützt wird, wirkten 2.000 Frauen aus 50 Ländern mit. Sie berichten, was es bedeuten kann, eine Frau zu sein, wenn man am falschen Ort wohnt, und sprechen über Mutterschaft, Bildung, Sexualität, Geschlechterkrieg, Folter, Entführung, abstruse Schönheitsideale, finanzielle Unabhängigkeit – aber auch darüber, was für sie ein schönes Leben bedeutet. Und neben den vielen Ungerechtigkeiten, denen Frauen weltweit ausgesetzt sind, geht es darum, wie sie Stärke beweisen – sei es im Krieg oder im ganz normalen Alltag: "Ich bin Geldautomat, Sozialarbeiterin, Anwältin, Boxsack – Frauen haben jeden Tag so viel zu tun wie ein Minister", heißt es an einer Stelle. Anwältinnen, Bäuerinnen, Models, Busfahrerinnen und viele andere kommen zu Wort. Es sind Geschichten aus abgeschiedenen Weltgegenden und aus Metropolen. "Woman" zeigt ein umfassendes, anderes Bild der Welt, aus allen Klassen und Schichten. Ein tolles Porträt der Hälfte der Menschheit und mit Sicherheit der ­bewegendste Film des Jahres.

"Woman". Regie: Anastasia Mikova und Yann Arthus-Bertrand. F 2020. Kinostart: 12. November 2020

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