Amnesty Journal 22. Oktober 2020

"Die Macht der Norm wirkt"

Eine junge Frau mit blondem, kinnlagem Haar trägt eine Brille und Lippenstift.

Dr. Lisa Heemann ist seit 2016 Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN).

Die Vereinten Nationen feiern im Oktober ihr 75-jähriges Bestehen. Lisa Heemann, Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), spricht über die Herausforderungen durch Corona, die Arbeit der UNO im Stillen und darüber, wie sie in den nächsten Jahrzehnten eine ­Zukunft haben kann.

Interview: Malte Göbel

Die UN werden 75 Jahre alt. Darf man gratulieren?

Ja, wenn man sich anschaut, wo die Welt 1945 stand. Damals war es undenkbar, dass sich Staaten vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf erklären oder dass sich alle bei der Generalversammlung in New York treffen und miteinander reden. Insofern ist die Entwicklung beeindruckend. Aber es ist auch klar, dass dieser Geburtstag nicht einer mit Kuchen und Kerze ist, sondern der Diskussion darüber dienen sollte, wie es weitergeht, wie wir die Vereinten Nationen für 2045 fit machen können. Denn die Welt steht vor gigantischen Herausforderungen.

Eine davon ist die Corona-Pandemie. Die UN-Institutionen ­haben keine gute Figur abgegeben …

Bei aller berechtigten Kritik: Wir haben gesehen, es ist gut, dass es die Weltgesundheitsorganisation gibt. Ohne die WHO hätte es keinen Austausch, keine Verständigung, keinen Überblick über Zahlen und keine Koordination der Schritte gegeben. Das hat funktioniert. Es war nur nicht so sichtbar. Auch andere UN-Institutionen haben etwas getan: So hat etwa das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen Menschen in Not­lagen versorgt, und das Entwicklungsprogramm UNDP hat einen detaillierten Bericht herausgegeben, wo Fortschritte in der Entwicklungszusammenarbeit gefährdet sind. Das ist die Arbeit, die die UN immer tun – oft im Verborgenen, doch sie geschieht.

Welche Lehren sollten die UN aus der Pandemie ziehen?

Als DGVN haben wird dazu einen eigenen Debattenblog ­eingerichtet. Darin geht es auch darum, was die WHO besser machen könnte – zum Beispiel schneller oder klarer in der Kommunikation sein. Durch die Pandemie ist auch offensichtlich ­geworden, dass der Sicherheitsrat in einer sehr schwierigen ­Situation ist. Er hat den Vorschlag des Generalsekretärs zu einem globalen Waffenstillstand lange nicht aufgenommen. Erst Anfang Juli kam eine Resolution, die alle auffordert, eine Waffenruhe einzuhalten. Das muss schneller gehen.

Wieviel ist so eine Resolution denn in der Realität wert?

Eine Resolution wird nicht direkt alle dazu bringen, die Waffen niederzulegen. Aber sie kann einen Prozess in Gang bringen, der dazu führt, dass Staaten überzeugt werden, die nächsten Schritte zu tun. Wenn eine gemeinsame Formulierung gefunden ist, können sich alle darauf beziehen und bei Verstößen sagen: "Du hast zugestimmt, also verhalte dich entsprechend."

Ein anderes Beispiel, wo die UN machtlos wirken, ist Hongkong, wo China die freiheitliche Gesellschaft unterdrückt.

Ich würde mir wünschen, dass der Generalsekretär in Sachen Hongkong ein klares Wort spricht. China ist grundsätzlich ein schwieriger Partner in Bezug auf Menschenrechte – um es freundlich auszudrücken. Das Land arbeitet auf verschiedenen Ebenen gegen die Idee der Menschenrechte als Teil der Vereinten Nationen. Das ist ein Problem, weil Multilateralismus ohne Menschenrechte schlichtweg undenkbar ist. Dem müssen sich der Generalsekretär und alle Mitgliedsstaaten, die den Multi­lateralismus hochhalten, mit Worten und Taten entgegenstellen, mit Resolutionen, mit Zugängen, die verweigert werden, mit ­Finanzen, die gestrichen werden.

China arbeitet auf verschiedenen Ebenen gegen die Idee der Menschenrechte als Teil der Vereinten Nationen. Das ist ein Problem, weil Multilateralismus ohne Menschenrechte schlichtweg undenkbar ist.

Lisa
Heermann
Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN)

Ist China ein Problem für die UN?

China ist auch an vielen Stellen ein aktives Mitglied. Es hat einen festen Platz in der internationalen Ordnung, leistet große finanzielle Beiträge, ist sehr aktiv im Bereich der Friedenssicherung – das ist begrüßenswert. China ist wirtschaftlich in vielen Ländern aktiv, hat also ein großes Interesse daran, dass es eine internationale Ordnung gibt – aber ich fürchte, China stellt sich eine internationale Ordnung ohne Menschenrechte vor.

Wie sollte man mit dem Land umgehen?

Wir müssen wachsam sein gegenüber den ganz konkreten Schritten, die China unternimmt, um das Menschenrechtssystem zu untergraben. Um das zu beobachten, zu erkennen und dagegenzuhalten, sind Ressourcen erforderlich. Manchmal reicht es auch schon, dafür zu sorgen, dass NGOs zugelassen werden. Es geht nicht nur um China.

Wie glaubhaft ist der UN-Menschenrechtsrat, wenn dort turnusgemäß ein Land wie Syrien den Vorsitz übernimmt, dem Menschenrechte wenig bedeuten?

Man muss akzeptieren: Es ist die Idee der Vereinten Nationen, dass alle mitmachen. Nur so können weltweite Veränderungen angestoßen werden. Der Menschenrechtsrat ist nicht die Speerspitze des Menschenrechtsschutzes, sondern ein politisches Organ. Für die kritischeren Aspekte sind die unabhängigen Vertragsorgane zuständig, also Ausschüsse mit Expertinnen und Experten, die detailliert Menschenrechtsverletzungen verfolgen und das gegenüber den einzelnen Staaten auch nachhalten. Wenn alle Staaten Teil des Prozesses sind, besteht die Chance, dass sie sich als Teil eines gesamten Systems empfinden und Sachen mittragen.

Diktaturen und Demokratien sind also gleichberechtigt?

Ja.

Diese Idee der Gleichberechtigung der Länder führt auch dazu, dass ein großes Land wie China in der Vollversammlung genauso viele Stimmen hat wie die kleine Insel Nauru.

Es ist ein staatenbasierter Ansatz – Staaten sind die Subjekte des Völkerrechts. Das hat sich in den vergangenen 75 Jahren allerdings ein bisschen geändert, auch durch die Menschenrechte und das Verständnis, dass Individuen Rechtsträger sind. Es gibt zum Beispiel inzwischen Mechanismen wie das Internet Governance Forum, wo sich Vertreterinnen und Vertreter aus ­Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft treffen, um über Herausforderungen, Probleme und mögliche Lösungen zu diskutieren. Die Entscheidungen treffen letztlich aber doch die Staaten. Aber es gibt auch andere Ideen, wie zum Beispiel die Weltbürgerinitiative oder eine parlamentarische Versammlung.

Also quasi ein Weltparlament?

Die Idee eines Parlaments bei den UN als Korrektiv und Ort für Debatten hat Charme. Es gäbe dann die Generalversammlung mit einer Stimme pro Staat und daneben eine nach bestimmten Kriterien zusammengesetzte parlamentarische Versammlung mit Abgeordneten. Knifflig ist nur, wer wie viele Abgeordnete entsenden darf: Hängt das von der Größe des Landes ab, von der Wirtschaftskraft oder davon, ob es sich an die Menschenrechte hält? Aber es lohnt sich, diese Diskussion zu führen.

Was ist die Weltbürgerinitiative?

Die Weltbürgerinitiative will die Vereinten Nationen näher an die Menschen und an die Zivilgesellschaft führen und es ­ihnen ermöglichen, Themen auf die Tagesordnungen von ­Generalversammlung oder Sicherheitsrat zu setzen. Das würde widerspiegeln, was ohnehin passiert: An vielen Stellen haben Menschen oder zivilgesellschaftliche Organisationen schon ­Partizipationsmöglichkeiten gefunden, das wird also in der ­Praxis schon gelebt.

Es scheint viele Vorschläge zu geben, die UN zu ändern.

Ja, in der Kampagne Together First haben sich viele zivil­gesellschaftliche Organisationen zusammengeschlossen, um die Reformdiskussion voranzutreiben. Sie haben zehn Punkte zusammengetragen, die es zu diskutieren lohnt. Gefordert wird etwa eine zentrale Anlaufstelle zu Fragen von zivilgesellschaftlichem Engagement im Rahmen der UN – eine Person, die das koordiniert und bündelt und bei Problemen einschreiten kann.

Was sollte noch getan werden?

Es scheint trivial, aber es ist unglaublich wichtig, dass die Vereinten Nationen so finanziert sind, dass sie ihren Aufgaben gerecht werden können. Nötig ist ein höherer Anteil von nicht zweckgebundenen Mitteln, und das Geld muss zuverlässig und pünktlich kommen. Das ist leider nicht immer der Fall. So muss zum Beispiel das Flüchtlingshilfswerk UNHCR oft von Woche zu Woche entscheiden, wie viele Essensrationen es verteilen und wie viele Menschen es versorgen kann. Auch das Menschenrechtssystem ist schlecht finanziert, manchmal können Ausschüsse nicht tagen, weil schlicht das Geld für die Übersetzung fehlt.

Was ist mit den Strukturen und Gremien?

Natürlich sehen wir als DGVN Verbesserungsbedarf, zum Beispiel beim Sicherheitsrat oder beim Thema Klima. Ein Arbeitskreis aus DGVN-Mitgliedern hat zum 75-jährigen Jubiläum Vorschläge entwickelt, welche Reformen möglich sind, ohne die UN-Charta ändern zu müssen, denn das ist unrealistisch.

Sollte man das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des ­Sicherheitsrates abschaffen?

Ich fände es sinnvoll, aber die ständigen Mitglieder würden es nicht mitmachen. Es gibt Initiativen, bei Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf das Vetorecht zu verzichten. Frankreich hat das zugesagt, die anderen Vetomächte nicht. Sie arbeiten nur unter der Bedingung mit, dass sie ein Veto einlegen können. Das muss man so hinnehmen: Man muss sicherstellen, dass alle es mittragen, sonst ist die Stimme des Sicherheitsrats nicht mehr relevant.

Im Sicherheitsrat sind Staaten aus Afrika oder Südamerika nur als nichtständige Mitglieder vertreten. Ist das nicht überholt?

Absolut. Vor ein paar Jahren war die Diskussion schon so weit, dass man den Sicherheitsrat regional repräsentativer macht, die Entscheidungen besser strukturiert und das Vetorecht einrahmt. Aber vor allem die Vetomächte blockieren das, man muss sich also darauf konzentrieren, wie man den Sicherheitsrat in den bestehenden Strukturen effektiver und transparenter macht.

 

Es gibt im Augenblick kein besseres System. Ich glaube fest an die UN-Charta.

Lisa
Heermann
Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN)

Wie könnte das gelingen?

Wenn der Sicherheitsrat blockiert ist, kann die Generalversammlung handeln. Zu Syrien hat die Generalversammlung ­einen Mechanismus eingesetzt, der die Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und die Grundlage für spätere Gerichtsprozesse schafft. Ein weiteres Beispiel ist die Wahl des UN-Generalsekretärs. Bisher hat der Sicherheitsrat diese Personalie unter sich ausgemacht, 2016 gab es erstmals eine öffentliche Diskussion, welche Wünsche an diese Position gerichtet werden.

Das sind kleine Schritte angesichts der Kritik an den großen Strukturen.

So verständlich und offensichtlich die Kritik oft ist: Diese Friedens- und Sicherheitsarchitektur beruht darauf, dass nur der Sicherheitsrat über Gewaltanwendung entscheiden kann, und dass ansonsten ein Gewaltverbot gilt. Es gibt im Augenblick kein besseres System. Ich glaube fest an die UN-Charta.

Weil das System Gutes bewirkt?

Weil die Beschlüsse der UN langfristig wirken. Man kann kaum beschreiben, wie viel ein gedruckter Text als Rückenwind für Menschen wert ist, wie sehr er für Leute vor Ort einen Unterschied machen kann. In Südafrika traf ich eine Frau, die immer die dortige Verfassung bei sich trug, um das Recht ihrer Gemeinschaft auf ihr traditionelles Land durchzusetzen. Sie erzählte mir: Wann immer nötig, ziehe sie die Verfassung aus ihrer Handtasche, haue darauf und sage: Wir haben hier eine Verfassung! So wirken auch UN-Dokumente. In Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention einiges ausgelöst, was überfällig war: die Inklusion am Arbeitsplatz, die Auflösung von Sonderschulen und bauliche Maßnahmen wie barrierefreie Zugänge. Inzwischen ist das Pflicht, der Impuls kam von den UN. Das dauert lange. Aber es ist die Macht der Norm, die da wirkt.

Malte Göbel ist freier Journalist und Autor in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

 

HINTERGRUND

Lisa Heemann und die DGVN

Dr. Lisa Heemann ist seit 2016 ­Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN). Die DGVN informiert die deutsche Öffentlichkeit über Ziele, Institutionen und Aktivitäten der Vereinten Nationen und regt Diskussionen an. Ein Arbeitsschwerpunkt ist die kritische Begleitung der deutschen UN-Politik. Die DGVN ist ein gemeinnütziger Verein und hat knapp 2.000 Mitglieder. Im Internet: dgvn.de.

Ideen für eine UNO-Reform



Zehn Ideen der Kampagne Together First, wie die UN die Welt sicherer, fairer und gerechter machen können:



1. Ein Ansprechpartner für die Zivilgesellschaft

2. Ein UN-Jugendrat

3. Unabhängiges und prinzipientreues UN-Personal

4. Haftbarmachung von Staaten für globale Schäden

5. Ein Sicherheitsrat, der handelt – oder den Weg zum ­Handeln frei macht

6. Stärkung der Kommission für Friedenskonsolidierung

7. Friedenssicherung, die sich an den Menschen orientiert

8. Ein integriertes Herangehen an Klimaschutz und ­Sicherheit

9. Ein Verbot von Killer-Robotern

10. Ein Verbot von Atomwaffen

 

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