Amnesty Journal Deutschland 08. September 2021

Menschen schützen, nicht Patente

Auf dem Gehsteig einer Straße, der an einer Mauer entlang führt, stellen sich Menschen hintereinander an und warten.

Weltweit stößt ihre Haltung auf ­Unmut, und Millionen ­können nicht geimpft werden, doch die Bundesregierung bleibt dabei: Der Patentschutz für ­Covid-19-Impfstoffe gilt als heilig.

Von Lena Rohrbach

Es waren deutliche Worte, die Joseph Stieglitz im Juni an Deutschland richtete. Die Bundesregierung nehme "faktisch die ganze Welt als Geisel", schrieb der Wirtschaftsnobelpreisträger und frühere Chefökonom der Weltbank in einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung Die Zeit. Mit ihrer unbeugsamen Position stelle sich die Regierung bei der Diskussion um die Freigabe von Patenten für Covid-19-Impfstoffe "auf die falsche Seite der Geschichte".

In der Tat zeigt ein Blick auf die politische Landkarte: Seit Südafrika und Indien im Oktober 2020 bei der Welthandels­organisation (WTO) den Vorschlag eingereicht haben, den ­Patentschutz auf Corona-Impfstoffe, -Medikamente und -Tests zeitweise auszusetzen, ist die Unterstützung für den Vorschlag ständig größer geworden. Mittlerweile spricht sich eine überwältigende Mehrheit der WTO-Mitgliedsstaaten für eine Frei­gabe der Patente aus.

Befürworter in der EU

Nur Großbritannien, die Schweiz und die Europäische Union halten an ihrer Ablehnung fest. Dabei gibt es auch in der EU durchaus Befürworter_innen. Allerdings muss die EU bei der WTO mit einer Stimme sprechen – und diese wird dominiert von ihrer größten Volkswirtschaft, und die heißt Deutschland. Weil die WTO ihre Entscheidungen im Konsens fällt, kann ein einziges Land einen von der Mehrheit befürworteten Vorschlag dauerhaft blockieren.

Die Bundesregierung behauptet weiterhin, die Pandemie lasse sich am effektivsten bekämpfen, wenn Pharmaunternehmen Produktionslizenzen freiwillig vergeben und Impfstoff­dosen an wirtschaftlich arme Länder gespendet würden. Diese Theorie darf getrost als widerlegt gelten. Immer deutlicher zeigt sich die globale Ungleichheit in der Pandemiebekämpfung.

In Deutschland hat mittlerweile die Mehrheit der Erwachsenen ein Impfangebot bekommen. 57 Prozent der Bevölkerung waren hierzulande Mitte August 2021 vollständig geimpft. In ganz Europa waren dies zum gleichen Zeitpunkt immerhin 44 Prozent, in Asien 25 Prozent. In Afrika lag die Quote der vollständig Geimpften nur bei zwei Prozent. Nach Einschätzung der Regionaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erlebte der afrikanische Kontinent erst Ende Juni, Anfang Juli die schlimmsten Wochen der Pandemie. Binnen einer einzigen Woche gab es mehr als eine Viertelmillion neue Corona-Infizierte.

Währenddessen liegt die Covax-Initiative, die Länder des ­globalen Südens mit Impfstoffen versorgen soll, rettungslos hinter ihrem Zeitplan. Von 1,8 Milliarden benötigten Impfdosen konnte sie bis Mitte August gerade mal 190 Millionen verteilen. Die Gründe sind klar: Verteilt werden kann nur, was zuvor auch produziert worden ist. Produziert wird allerdings weiterhin zu wenig, ­insbesondere in den Regionen der Welt, die den Impfstoff am dringendsten bräuchten.

Noch 57 Jahre bis zum Impfschutz?

Eine drastische Ausweitung der Herstellungskapazitäten muss her. Doch diese werden durch Patente künstlich verknappt. ­Richtig ist, dass auch eine Patentfreigabe nicht von heute auf morgen zu mehr Impfstoffdosen führen würde. Der Aufbau neuer Produktionsanlagen und Vertriebswege würde eine Weile dauern. Wie lange genau, ist umstritten.

Suhaib Siddiqi, der frühere Direktor für Chemie bei Moderna, schätzt, dass die Länder des globalen Südens nach etwa drei bis vier Monaten auch mRNA-Impfstoffe herstellen könnten. Doch selbst wenn man eine doppelt oder gar dreimal so lange Zeit veranschlagt, ist eine Freigabe der Patente noch sinnvoll: Selbst nach sehr optimistischen Berechnungsmodellen wird die Mehrheit der Weltbevölkerung frühestens 2023 genügend Impfstoffe zur Verfügung haben, um die Herdenimmunität zu erreichen. Nach einer aktuellen Prognose der People’s Vaccine Alliance – einem zivilgesellschaftlichen Bündnis für Impfstoffgerechtigkeit, dem auch Amnesty angehört – würde es beim derzeitigen Impftempo sogar noch 57 Jahre dauern, bis in allen Ländern ein Impfschutz der gesamten Bevölkerung erreicht ist.

Ihren Vorschlag für eine Patentfreigabe reichten Südafrika und Indien im Oktober 2020 bei der WTO ein. Seither sind neun Monate vergangen. In dieser Zeit hätten bereits zahlreiche Produktionsanlagen ausgebaut oder neu aufgebaut werden können.

Die Patentfreigabe steht dabei am Anfang der Kausalkette und nicht – wie von ihren Gegnern behauptet – am Ende.

Corona-Tests vielerorts noch Mangelware

Investor_innen werden neue Produktionsstätten erst dann finanzieren, Unternehmen und Regierungen diese erst dann in größerem Umfang aufbauen, wenn sie keine Sorge mehr vor patentbedingten Rechtsstreitigkeiten haben müssen oder davor, gar keine Lizenz für die Produktion zu erhalten. Es ist daher falsch, es zur Voraussetzung einer Patentfreigabe zu machen, dass ­fertige Anlagen schon vorhanden sein sollen. Diese werden ­umgekehrt erst dann in größerer Zahl gebaut werden, wenn ihr Einsatz auch rechtlich möglich ist.

In den am schlimmsten von der Pandemie betroffenen Ländern mangelt es nicht nur an Impfstoffen. In Indien starben im Frühjahr täglich Tausende, nach Schätzungen der University of Washington könnten es insgesamt 1,1 Millionen Menschen gewesen sein. Es fehlte an Sauerstoff und Beatmungsgeräten. Während in Deutschland mittlerweile an fast jedem Kiosk Schutzmasken und Corona-Tests erhältlich sind, sind sie in anderen Ländern noch immer teure Mangelware.

Ein oft vergessenes Detail der Debatte um die Patentfreigabe ist, dass es dabei nicht nur um Impfstoffe geht. Der von Südafrika und Indien eingereichte Vorschlag umfasst auch leichter und schneller herzustellende Güter, die zur Bekämpfung der Pandemie benötigt werden. Wer die Patentfreigabe für Impfstoffe mit der Begründung ablehnt, die Herstellung sei zu kompliziert und langwierig, muss sich fragen lassen, wie es denn mit einer Patentfreigabe für Schnelltests aussieht. Oft zeigt sich dann: Die Ablehnung ist von nationalen Wirtschaftsinteressen geleitet.

Die Bundesregierung reagierte übrigens prompt auf die Vorwürfe von Joseph Stieglitz, Deutschland halte die Welt in Geiselhaft. Kanzleramtschef Helge Braun verfasste eine Antwort in derselben Zeitung, um die deutsche Blockadehaltung zu verteidigen. Der Titel seines Beitrags: "Schützt die Patente!" Dieses Ziel scheint es der Bundesregierung wert zu sein, dass ihre Haltung weltweit auf wachsenden Unmut stößt, die Pandemie verlängert und täglich Menschenleben kostet. Es bleibt zu hoffen, dass spätestens die nächste Bundesregierung die Weltgemeinschaft nicht länger in ihrem Bemühen behindert, die Pandemie zügig zu beenden. Dafür muss sie in ihrer Zielvorgabe nur ein Wort austauschen: "Schützt die Menschen!"

Lena Rohrbach ist Fachreferentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter, Wirtschaft und Rüstungsexportkontrolle bei Amnesty International Deutschland.

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