Amnesty Journal 23. Dezember 2022

Vom Krieg erzählen – über den Krieg sprechen

In einer Londoner U-Bahn-Station steht eine U-Bahn am Gleis, Menschen liegen auf dem Bahnsteig dicht an dicht.

Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema Krieg: vom erklärenden Sachbuch bis zum emotional packenden Jugendroman. Eine Auswahl empfehlenswerter Neuerscheinungen.

Von Marlene Zöhrer

Nachrichten und Medienberichte über kriegerische Auseinandersetzungen gehören zum Alltag, dem von Erwachsenen ebenso wie dem von Kindern und Jugendlichen. Wegschauen oder Verdrängen ist – nicht zuletzt wegen der räumlichen Nähe des Kriegsgeschehens in der Ukraine – so gut wie unmöglich. Immer wieder stellen sich Eltern, Großeltern, Lehrer*innen die Frage, wie man über das, was Krieg für die Menschen in den Kampfgebieten bedeutet, mit Kindern ins Gespräch kommen kann. Wie Aufklärung, Auseinandersetzung und Einfühlen angeregt werden können – ohne zu überfordern oder zu verstören.

Die Kinder- und Jugendliteratur bietet vielfältige Zugänge zum Thema. Neben Klassikern wie "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" (Judith Kerr) oder "Der erste Frühling" (Klaus Kordon) gibt es viele aktuelle Kinder- und Jugendbücher, die erklären, wie sich Kriege auswirken, und die zum Nachdenken anregen, wie eine bessere, friedlichere und gerechte Welt gelingen kann. Eindrucksvoll und ergreifend erzählen realistische Kinder- und Jugendromane individuelle Schicksale vom Er- und Überleben.

Texte für Jugendliche sind häufig in der Zeit des Zweiten Weltkriegs oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit verortet. So auch Kirsten Boies "Heul doch nicht, du lebst ja noch", das aus der Perspektive von drei Jugendlichen eine Woche im Juni 1945 schildert: Hermann, Jakob und Traute sind drei Vierzehnjährige mit unterschiedlichen Biografien, deren Wege sich zufällig in den Trümmern Hamburgs kreuzen und deren Schicksale Einblicke in die Nöte und die vom Krieg versehrten Seelen geben. In "Nächte im Tunnel" von Anna Woltz begegnen sich ebenfalls Kinder und Jugendliche, die sich in Friedenszeiten nie kennengelernt hätten. Während des sogenannten "Blitz", den deutschen Luftangriffen auf Großbritannien von September 1940 bis Mai 1941, suchen sie Zuflucht in den Tunneln der Londoner U-Bahn, verbunden durch ein gemeinsames Ziel: überleben.

Einzelrezensionen

Anna Woltz: Nächte im Tunnel

"Man muss über die Toten reden. Egal, wie viele es sein mögen, wie lange das hier noch weitergehen wird, wie müde wir auch werden. Sobald wir tun, als sei ein Leben nichts wert, ist das Leben auch nichts mehr wert." Anna Woltz lässt die 14-jährige Ella von den deutschen Luftangriffen auf London im Zweiten Weltkrieg erzählen, vom Leben im Krieg, von Angst, Hoffnung, vom Überleben und von den Verstorbenen. Bereits im Vorwort stellt die Ich-Erzählerin klar, dass von den vier Freund*innen, die der Krieg erst zusammenführt, nicht alle überleben werden: "Wir drei haben alles überstanden. Die Bomben, die Brände, die Nächte. Wir sind noch da. Unser Leben fängt gerade erst an."

Es sind nur wenige Wochen, die Ella, Robbie, Jay und Quinn gemeinsam verbringen. Doch das Leben im Krieg und insbesondere die Nächte im Tunnel einer Londoner U-Bahn-Station, in dem sie Schutz vor den Luftangriffen suchen, schweißen die Jugendlichen zusammen. In Friedenszeiten wären sich die vier wohl niemals begegnet, weil sie aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammen: Jay, der Halbwaise aus dem Londoner Eastend, der sich durch das Leben gaunert; die adelige Quinn, die aus ihrem goldenen Käfig ausbricht, um zu helfen und ihren Beitrag im Krieg zu leisten; Ella, die nach einer Polioerkrankung wieder ins Leben zurückfinden muss und ihr jüngerer Bruder Robbie, der sich trotz seiner neun Jahre für seine Schwester verantwortlich fühlt. Nun gehen sie gemeinsam durch die Zeit der Bombardements, lernen zu vertrauen und sich gegenseitig zu helfen.

Die Darstellung des Kriegsgeschehens beruht auf einer sorgfältigen Recherche der Autorin. Ihr so hoffnungsvoller wie beklemmend realistischer Roman ist jedoch nicht nur eine historische Milieustudie, sondern regt auch zum Nachdenken über die Gegenwart an. 

Anna Woltz: Nächte im Tunnel. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Carlsen, Hamburg 2022, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14 Jahren.

Eduard Altarriba: Was ist Krieg?

Eine einfache Antwort darauf, was Krieg ist, wie und warum er entsteht, oder wie er beendet werden kann, gibt es nicht. So ist auch das herausragend gestaltete Sachbuch des katalanischen Autors und Illustrators Eduard Altarriba als Annäherung an den vielschichtigen und weitreichenden Themenkomplex zu verstehen. Es eignet sich hervorragend, um nach der Lektüre mit Kindern über das Thema Krieg zu sprechen.

"Manchmal sehen Leute Dinge ganz anders als wir. Vielleicht werden wir wütend und geraten sogar in Streit miteinander, weil jede Seite davon überzeugt ist, dass sie Recht hat und die andere Unrecht. Wenn zwei so gegensätzliche Meinungen aufeinandertreffen, entsteht ein Konflikt. Wenn Diplomatie und Politik Konflikte nicht lösen können, führt dies möglicherweise zu Gewalt und einem Krieg." Ob aus einem Konflikt ein Krieg entsteht, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. "Konflikte haben selten nur eine einzige Ursache. Bei Kriegen kommen unterschiedliche Dinge zusammen", heißt es auf der Seite, die verschiedene Ursachen in Bild und Text präsentiert: Grenzstreitigkeiten, historisch gewachsene Konflikte, Wirtschaftsinteressen, Autonomiebemühungen, oder auch soziale, ethnische und politische Motive. Doppelseite für Doppelseite beleuchtet das Buch, das im Original bereits 2018 erschien, sachlich und neutral einen Aspekt nach dem anderen und macht damit die Komplexität des Themas deutlich. So werden etwa die Zusammenhänge zwischen Macht, Wirtschaftsinteressen, Waffentechnologie und Propaganda sichtbar, Fragen des Völkerrechts diskutiert und vergangene wie aktuelle Kriege beleuchtet und kontextualisiert. Das Buch erklärt auch den Ablauf und die Bedeutung von Friedensgesprächen und führt die Folgen eines Krieges vor Augen.

Eduard Altarriba: Was ist Krieg? Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen. Beltz & Gelberg, Weinheim 2022, 48 Seiten, 15 Euro, ab 8 Jahren.

Romana Romanyschyn / Andrij Lessiw: Als der Krieg nach Rondo kam.

In ihrem Bilderbuch machen Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw die Schrecken des Krieges sicht- und erlebbar, ohne zu beschönigen oder zu verstören. Gekonnt setzen sie Abstraktion ein, nutzen die Symbolkraft von Formen und Farben. Sie nehmen die Vorleser*innen und Betrachter*innen mit in die fiktive, märchenhaft-idyllisch anmutende Stadt Rondo, die – trotz visueller Anleihen an reale Orte und Ereignisse in der Ukraine – überall sein könnte. Das Leben der fragilen Wesen Danko, Fabian und Sirka verläuft ruhig und harmonisch, bis der Krieg ohne Vorwarnung über die Stadt hereinbricht: "Die Bewohner von Rondo wussten nicht, was Krieg war. Er kam wie aus dem Nichts. Schwarz und bedrohlich, donnernd und knirschend rollte er auf die Stadt zu, brachte Zerstörung, Chaos und tiefe Dunkelheit." Die Seiten des Bilderbuchs sind ab diesem Moment in Schwarz und Grau gehalten, es dominieren harte Formen und scharfe Konturen. Collagierte Panzer rollen über die Seiten und zerstören, was den Bewohner*innen Rondos lieb und wichtig ist. Danko, Fabian und Sirka werden verwundet: "Der Krieg verschonte niemanden." Dennoch geben die drei nicht auf und finden einen Weg, die Panzer, die Bomben und die Dunkelheit zu vertreiben. Licht und Musik drängen den Krieg zurück und mit ihm die schwarzen Blumen, die sich wie Unkraut in Rondo ausgebreitet haben. Die Narben und Spuren der Angriffe bleiben jedoch auch nach dem Ende des Krieges an den Figuren und im Stadtbild sichtbar.

In der Ukraine erschien Als der Krieg nach Rondo kam bereits 2014 als Reaktion auf die russische Annexion der Krim. Das vielschichtige Bilderbuch beeindruckt durch seine in Misch- und Collagetechnik gestalteten Bilder und bietet allen Leser*innen, unabhängig von Ort und Alter, einen Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit dem Krieg.

Romana Romanyschyn, Andrij Lessiw: Als der Krieg nach Rondo kam. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Gerstenberg, Hildesheim 2022, 40 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahren.

Einen weniger emotionalen Zugang zum Thema bietet das Sachbilderbuch "Was ist Krieg?", das mit plakativen Grafiken und Bildern sowie klaren Aussagen und verständlich formulierten Texten über Ursachen, Folgen und Wege aus dem Krieg informiert. Die deutschsprachige Ausgabe wurde um zwei Dossiers über die Kriege in Syrien und der Ukraine erweitert.

Für Kinder im Vor- und Grundschulalter gibt es Bilderbücher, die sich dem Thema meist weniger konkret, sondern eher behutsam und hoffnungsvoll nähern. Tobias Krejtschi zeigt in "Manchmal ist da einer... der will keinen Frieden" anhand von geometrischen Formen (Quadrat und Kreis), was passiert, wenn ein Unruhestifter das friedliche Zusammenleben aus dem Gleichgewicht bringt: "Am Ende sind alle nur Verlierer." Wobei es hier – wie auch in dem herausragenden Bilderbuch "Als der Krieg nach Rondo kam" (Amnesty Journal 04/22) – eine Aussicht auf ein friedliches und harmonisches Miteinander gibt.

Marlene Zöhrer ist Hochschulprofessorin für Kinder- und Jugendliteratur. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Mehr Infos zu den Büchern

Eduard Altarriba: Was ist Krieg? Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen. Beltz & Gelberg, Weinheim 2022, 48 Seiten, 15 Euro, ab 8 Jahren.

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Oetinger, Hamburg 2022, 176 Seiten, 14 Euro, ab 14 Jahren.

Tobias Krejtschi: Manchmal ist da einer... der will keinen Frieden. ArsEdition, München 2022, 40 Seiten, 15 Euro, ab 5 Jahren.

Romana Romanyschyn, Andrij Lessiw: Als der Krieg nach Rondo kam. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Gerstenberg, Hildesheim 2022, 40 Seiten, 16 Euro, ab 5 Jahren.

Anna Woltz: Nächte im Tunnel. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Carlsen, Hamburg 2022, 224 Seiten, 16 Euro, ab 14 Jahren.

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