Amnesty Journal Deutschland 08. Januar 2024

"Das Massaker am 7. Oktober markiert einen tiefen Einschnitt"

Eine Baustellenabsperrung in einer Berliner Straße, daran befestigt ein Schild auf dem per Hand geschrieben steht "We stand by your side".

Hass, Bedrohung, Desinformation – seit dem Krieg in Israel/Gaza nehmen Übergriffe auf Jüdinnen und Juden in Deutschland zu. Die Antisemitismus-Expertinnen Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai fordern einen neuen gesellschaftlichen Ansatz für den Schutz dieser Minderheit.

Interview: Uta von Schrenk

Wie erlebt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland die Wochen seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober und dem Krieg in Nahost? 

Marina Chernivsky: Das Massaker ist ein tiefer Einschnitt und teilt das Leben der jüdischen und israelischen Community in davor und danach. Die Qualität der Gewalt übersteigt alle bisherigen Erfahrungen mit terroristischen Aktivitäten: Es geht um die Absicht der Auslöschung Israels, um Mordlust, die von einer Verachtung jüdischen Lebens zeugt und nicht als Folge des Nahostkonflikts zu betrachten ist. Die antisemitischen Reflexe und Aufrufe zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden bilden eine weitere Front. Das Vertrauen, Sicherheitsempfinden und die Zukunftsperspektiven schwinden auf lange Zeit. Die Aktualisierung und Radikalisierung des Antisemitismus als Folge des Krieges ist absurd; Jüdinnen und Juden wird vorgeworfen, den Krieg allein zu verantworten. Die Gewalt gegen die jüdische Gemeinschaft erscheint auf diese Weise legitim. Man hinterfragt nicht mehr, aus welchem Grund Menschen weltweit stellvertretend angegriffen werden. Für viele linke Jüdinnen und Juden schwinden Netzwerke und Bündnisse. 

Diese Lage spiegelt das rapide steigende Beratungsaufkommen in unserer Beratungsstelle OFEK wider. In den ersten vier Wochen haben wir so viele Anfragen aufgenommen wie sonst pro Jahr. Dabei geht es nicht nur um die Anzahl, sondern um die Qualität und Verdichtung antisemitischer Erfahrungen. Es sind keine Einzelfälle, sondern Fallketten. Sie treten in allen sozialen Sphären auf; verändern das Leben der Ratsuchenden und ihrer Familien, ritzen sich in ihren Alltag ein. 

Wie tragen Medien und Online-Netzwerke zu diesen Ängsten bei?

Friederike Lorenz-Sinai: Die Belastung jüdischer Familien in Deutschland durch die Berichterstattung und die Diskurse in den sozialen Medien ist enorm. Da sind zum einen die gewaltvollen Bilder und Berichte aus Israel über das Massaker, die Geiseln, den andauernden Raketenterror der Hamas gegen zivile Ziele. Zum anderen sehen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland mit Gleichgültigkeit bis hin zu Hass konfrontiert, in den sozialen Medien, durch Demonstrationen und ­Aktionen im öffentlichen Raum. Hinzu kommt: Der Diskurs zum Krieg und den anti-israelischen Demonstrationen findet oft so verkürzt statt, dass er als Relativierung, indirekte Legitimation oder gar als Unterstützung der Massaker und der anhaltenden terroristischen Bedrohung durch die Hamas gelesen werden kann.

Diverse Hilfsorganisationen, menschenrechtsorientierte Bündnisse schaffen es nicht, den Massenmord an Juden zu verurteilen. Menschen geraten in Erklärungszwang. Solidarität wird an Bedingungen geknüpft.

Marina
Chernivsky

Schützt und unterstützt der Staat die Betroffenen ausreichend?

Chernivsky: Ich würde die Frage gern anders stellen: Schützt und unterstützt die deutsche Öffentlichkeit Jüdinnen und ­Juden ausreichend? Der Staat muss dort eingreifen, wo die Gesellschaft versagt. Das Sprechen über die Betroffenen ist wichtig, aber nicht ausreichend. Die Gründungsgeschichte von OFEK zeugt von Bedarfen, die lange Zeit übersehen, ignoriert wurden. Es brauchte einen Raum, in dem niemand sich erklären muss. OFEK ist die erste Fachberatungsstelle in Deutschland mit Community-­basiertem Beratungsansatz; Jüdische Menschen werden in Deutschland viel zu oft als Erinnerungsobjekte, als historische Andere gesehen. Auch wenn in den letzten Jahren viele Schritte erfolgt sind, bleibt das Wissen brüchig, die Anerkennung unzureichend. Selbst nach dem schlimmsten Massaker seit 1945 ist die Einordnung dieser Gewalt keine Selbstverständlichkeit. Historische Komplexität, geopolitische Interessen werden komplett ausgelassen. Etwas, was auch Amnesty International zum Teil tut. Damit wird die Bedrohung durch radikale islamistische Gruppierungen wie der Hamas verharmlost und gebilligt. Diverse Hilfsorganisationen, menschenrechtsorientierte Bündnisse schaffen es nicht, den Massenmord an Juden zu verurteilen. Menschen geraten in Erklärungszwang. Solidarität wird an Bedingungen geknüpft. Der Krieg der Bilder und inoffizieller Medien hetzt gegen Juden und ­dämonisiert den jüdischen Staat. Schutz ist das eine, eine breite öffentliche Anerkennung als Gegenpol zum dröhnenden Schweigen wäre die Basis für einen Schutz, der nicht von der Polizei, sondern von der Gesellschaft ausgeht. 

Wie beurteilen Sie den Umgang mit den Demonstrationen und Gewaltaufrufen?

Lorenz-Sinai: Die Reaktionen von Behörden und Justiz auf die Demonstrationen und Gewaltaufrufe sind im Sinne der Meinungsfreiheit einer Demokratie angemessen. Aber die Politik vermittelt nicht ausreichend, wie diese sich auf den Alltag von Minderheiten auswirken, die durch Islamismus und ultranationalistische, rechtsextrem-faschistische Terrornetzwerke bedroht werden. Dies betrifft Jüdinnen und Juden, aber auch Jesid*innen oder Kurd*innen. Es wird nicht ausreichend vermittelt, welche Menschenverachtung und Bedrohung von Slogans wie "From the River to the Sea" ausgehen. Es wird nicht ausreichend vermittelt, wie diese Slogans in den sozialen Raum hineinwirken und das Sicherheitsgefühl für Jüdinnen und Juden in der Öffentlichkeit, aber auch an Hochschulen beeinträchtigen. Dort nimmt diese Mobilisierung zum Teil bedrohliche Züge an.

Mitgefühl für alle von Terror und Krieg Betroffenen ist möglich, ohne zwei Seiten zu konstruieren und die Verantwortung für das Leid nicht zu benennen.

Friederike
Lorenz-Sinai

Auf den Demonstrationen zeigt sich ein Antisemitismus sehr unterschiedlicher Strömungen.

Chernivsky: Manche Politiker*innen stellen den muslimischen Antisemitismus der Demonstrationen heraus. Damit unterstellen sie, dass an diesen Protesten nur die "migrantischen Anderen" teilnehmen. Aber es skandieren eben auch Menschen "Free Palestine from German Guilt" – hier zeigt sich typischer deutscher Post-Shoah-Antisemitismus. Wir ­sehen linke, deutsche Demonstrierende, die den Staat Israel als ultimativen Täter dämonisieren, als ein aggressives Apartheidsregime brandmarken. Wenn Aktivist*innen den Terror als antikolonialen, widerständigen Kampf einordnen, bekommt antisemitische Gewalt eine Legitimation. Auf der anderen Seite kann die Verkündung "Wir stehen an der Seite Israels aufgrund der historischen Verantwortung" als sinnentleerte Formel verstanden werden, denn Juden und Jüdinnen müssen geschützt werden, nicht "nur" weil sie so lange verfolgt wurden, sondern weil es ihr Grundrecht ist. 

Wie sieht die Arbeit von OFEK in ­dieser Situation aus? 

Chernivsky: Seit dem 7. Oktober arbeiten wir im Krisenmodus. Unter instabilen, schlanken Förderbedingungen ist es sehr herausfordernd, dem immensen Beratungsbedarf zu entsprechen und proaktiv ausreichend unterstützende Formate anzubieten, die die Community in Anspruch nehmen kann. Im kommenden Jahr werden wir unsere Arbeit nicht unter denselben Bedingungen bewältigen können. Wir brauchen mehr Sichtbarkeit, mehr Ressourcen und Planungssicherheit. Viele Fälle sind komplex und langwierig. Es geht um ein Hintergrundrauschen, aber auch um gewalttätige Übergriffe, Drohungen, Hetze. Das wirkt sich auf die Psyche, den Körper und soziale Beziehungen aus. Im Fokus unserer Arbeit stehen die Bedarfe der Betroffenen; wir versuchen die Situation einzuordnen, zu kontextualisieren und Schritte abzuwägen. Zugleich beobachten wir eine Verdichtung antisemitischer Grundstimmung an Hochschulen; in Schulen ist der Bedarf an Beratung ebenfalls akut. Unsere Beratung von Institutionen, Fach- und Führungskräften trägt dazu bei, die Strukturen für Anti­semitismuskritik zu sensibilisieren und den Umgang mit Vorfällen weiterzuentwickeln. Es braucht einen systematischen Ansatz, der gefördert werden muss. 

Was ist nötig, damit sich Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher ­fühlen können?

Lorenz-Sinai: Menschen müssen sich sicher fühlen können vor Gewalt, müssen sich frei bewegen können – ob auf der Straße, in Schulen oder Pflegeheimen. Und im gesellschaftlichen Diskurs über den Nahost-Konflikt wäre ein gleicher Maßstab wie bei anderen Massakern und Kriegen wünschenswert: Dass Angreifer und Angegriffene benannt werden, dass Empathie und Solidarität mit den Betroffenen gezeigt wird. Dass Jüdinnen und ­Juden im Augenblick des Schmerzes und der Überwältigung nicht auch noch Aufklärungsarbeit in eigener Sache leisten und für Empathie werben müssen. Es ist völlig legitim, einen Waffenstillstand zu fordern oder militärische Praktiken zu kritisieren. Aber es muss klar bleiben, wer verantwortlich für das Leid ist. Das alles ist keinerlei Widerspruch zu einer Anerkennung des tiefen Schmerzes und der Überwältigung vieler Palästinenser*innen angesichts der furchtbaren Situation der Zivilbevölkerung in Gaza. Mitgefühl für alle von Terror und Krieg Betroffenen ist möglich, ohne zwei Seiten zu konstruieren und die Verantwortung für das Leid nicht zu benennen.

Marina Chernivsky ist Gründungsgeschäftsführerin der Beratungsstelle OFEK e. V. Friederike Lorenz-Sinai ist Professorin für Methoden der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Potsdam. Sie forschen gemeinsam zu Antisemitismus in ­Institutionen.

Uta von Schrenk ist Redakteurin des Amnesty Journals.

Unterschiedliche Perspektiven zu präsentieren, ist das Ziel unserer Berichterstattung über den Nahostkonflikt. Mit unseren Beiträgen wollen wir zu einer offenen, konstruktiven und sachlichen Debatte beitragen. Lesen Sie zum Nahost-Konflikt auch unseren Artikel aus Israel und unser Interview zur Situation in Gaza.

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