Amnesty Journal China 07. Februar 2022

Eine von über einer Million

Eine junge Frau mit langen offenen Harren und einer großen Brille sitzt in einem Schuhgeschäft und lächelt in die Kamera

Die Uigurin Hayrigul Niyaz wurde 2017 willkürlich von chinesischen Behörden festgenommen.

Für ihr Studium ging die Uigurin Hayrigul Niyaz nach Istanbul. Das reichte den chinesischen Sicherheitsbehörden als Grund, sie festzunehmen. Seit mehr als vier Jahren ist sie verschwunden.

Von Felix Lee

Sie trug eine modische Brille, hatte dezent Lippenstift aufgetragen und blickte in die Kamera. Sie gab sich betont professionell und wirkte betriebsam in der Art, wie sie ihre Papiere ordnete. Es war eines der letzten Bilder von Hayrigul Niyaz in den Online-Netzwerken, bevor sie verschwand.

Die heute 36-jährige Uigurin hatte mehrere Jahre an der Marmara-Universität in Istanbul studiert. Diese Auslandserfahrung wollte sie nutzen, als sie 2016 nach China zurückkehrte und in Urumqi, der Provinzhauptstadt der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang, ein Reisebüro eröffnete.

Bruder flüchtete nach Deutschland

Der Aufenthalt in der Türkei war für die chinesischen Behörden offenbar Grund genug, sie festzunehmen: Ein Jahr später, im Frühjahr 2017, tauchten Polizisten auf und nahmen Hayrigul Niyaz mit. Seitdem ist sie verschwunden. Ihr Bruder Memeteli, der als Geflüchteter in Deutschland lebt, vermutet, dass sie in einem Gefängnis oder Internierungslager festgehalten wird. Auch der Rest der Familie hat keinen Kontakt zu ihr und weiß nichts über ihren Verbleib.

So wie Hayrigul Niyaz und ihrer Familie ergeht es derzeit vielen Uigur_innen. Der UN-Menschenrechtsausschuss geht davon aus, dass die chinesischen Behörden in den vergangenen vier Jahren Hunderttausende Menschen zeitweise in Internierungs- und Umerziehungslagern festgehalten haben. Offizielle Zahlen gibt die chinesische Führung nicht bekannt. Ein Sicherheitschef einer mittelgroßen Stadt in Xinjiang bestätigte aber, allein in seinem Bezirk seien zeitweise "ungefähr 120.000" Menschen interniert worden. Der in den USA lebende deutsche China-Forscher Adrian Zenz nimmt an, dass sich sogar bis zu eine Million Uigur_innen in den vergangenen Jahren für kurze oder längere Zeit in Umerziehungslagern befanden. Zenz wertete unter anderem Berichte der Staatsmedien und Angaben von Behörden in Xinjiang aus. Amnesty International spricht seit 2017 ebenfalls von einer Million verfolgter Uigur_innen.

Alle Uiguren unter Verdacht

Die kommunistische Führung in Peking wirft offiziell nur einigen uigurischen Gruppen Separatismus und Terrorismus vor. Doch längst stehen alle rund zehn Millionen Uigur_innen in der Provinz Xinjiang unter Generalverdacht. Gründe für Festnahmen können religiöse Ansichten sein, Fragen nach dem Verbleib vermisster Angehöriger oder die Unkenntnis der chinesischen Nationalhymne.

Umerziehungslager unterliegen nicht dem geltenden Recht. Richterliche Urteile sind für eine Inhaftierung nicht notwendig, die Festnahmen gehen allein auf Befehle von KP-Funktionären zurück. Chinas Führung hatte die Lager 2015 offiziell für abgeschafft erklärt. In Xinjiang heißt es nun aber: Ideologische Veränderungen seien nötig, um gegen Separatismus und islamischen Extremismus vorgehen zu können.

Hayrigul Niyaz wurde in der Stadt Toksu am Rande der Wüste Taklamakan geboren und ist dort auch aufgewachsen. Anders als etwa in der Provinzhauptstadt Urumqi bilden die Uigur_innen dort noch die Mehrheit der Bevölkerung. Das ist der Regierung in Peking ein Dorn im Auge, weshalb sie den Zuzug von Han-Chines_innen in die Region fördert.

Die Ungerechtigkeiten, die diese Politik erzeugt, sind offensichtlich. "Wir sind typische Uiguren, Religion ist Teil unserer Identität, aber wir sind keine ultrareligiösen Menschen", sagt Hayriguls Bruder Memeteli. Der Führung in Peking gehe es nicht um Religion, sagt er, sondern darum, die uigurische Identität auszulöschen.

Mehr dazu: www.amnesty.de/hayrigul-niyaz.

Felix Lee ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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