Amnesty Journal Chile 07. Dezember 2020

Die Wucht des Erzählten

Feldarbeiter bewegen sich auf einem sehr großen Heuhaufen, an den eine Leiter angelehnt ist.

In der deutschen Colonia Dignidad in Chile wurden über Jahrzehnte Kinder missbraucht, Erwachsene tyrannisiert und Dissidenten zu Tode gefoltert. Die Freie Universität Berlin will nun in einem Online-Archiv die Zeitzeugen sprechen lassen.

Von Klaus Ungerer

Die Geschichte der Colonia Dignidad ist auch eine ­Geschichte des Weghörens, des Nichtwissenwollens. Als der christliche Prediger Paul Schäfer sich 1961 aus Deutschland absetzte, um im entlegenen Süden Chiles mit Anhängern eine Kolonie zu gründen, gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich seine Beweggründe auszumalen: Gegen Schäfer liefen in Deutschland bereits Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs zweier Jugendlicher. Es war absehbar, welcher Horror nun auf die jungen Menschen zukommen würde, die ihm gefolgt waren. In Chile führte er seine Kolonie als Staat im Staate, dort war man nach einem verheerenden Erdbeben im Jahr 1960 froh über jedes Projekt, das Hilfe aus dem Ausland versprach. Für die deutschen Behörden aber, so scheint es, war Schäfer nach seiner Flucht kein Thema mehr. Mit dem Botschafter in Santiago hatte er sich frühzeitig gut gestellt.

Jahrzehntelang drangen aus der Colonia kaum Hilferufe nach außen, und wenn, wurden sie auf politischer Ebene ignoriert. Selbst nach Paul Schäfers Verhaftung im argentinischen Exil 2005 dauerte es noch einmal elf Jahre, bis die Bundesrepublik sich ansatzweise ihrer Verantwortung stellte. 2016 bekannte der damalige Außenminister Frank Walter Steinmeier, für diplomatische Verhältnisse recht deutlich: "Nein, der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes. Über viele Jahre hinweg, von den sechziger bis in die achtziger Jahre haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan."

Der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes.

Frank Walter
Steinmeier
zum damaligen Zeitpunkt Außenminister

Den Zeitzeugen zuhören

Nach dieser Rede veränderte sich einiges. Den Zeitzeugen endlich zuzuhören, stand auf der politischen Agenda, und heute fördert das Auswärtige Amt das Oral History Archiv der FU Berlin zur Colonia Dignidad, das Ende 2021 online gehen soll: In einer langen Reihe von gefilmten Interviews werden Zeitzeugen befragt, die Interviews werden für die wissenschaftliche Aufarbeitung erschlossen. Endlich sollen sie alle erzählen: überlebende Pioniere der Kolonie, die noch voller Idealismus aus Deutschland aufgebrochen waren. Sektenmitglieder, die als Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Angehörige von chilenischen Regimegegnern, die in der Colonia zu Tode gefoltert wurden. Sektenmitglieder, die sich in die Nähe der Macht begaben und das Unterdrückungssystem stabilisierten. Chilenen, die als Kinder Paul Schäfer zugeführt wurden. Auch Angehörige des diplomatischen Diens­tes.

60 Interviews sollen es am Ende sein, und natürlich gibt es auch die "Hoffnung, dass neues Wissen ans Licht kommt", sagt Philipp Kandler, der Koordinator des Projekts. Doch war jeder der Interviewten in irgendeiner Weise involviert in das Grauen der Colonia Dignidad, und das Grauen ist meist nicht sehr redselig. Am offensten sprechen die Hinterbliebenen der ermordeten chilenischen Regimegegner, sie drückt keine Scham und keine Schuld, ihr Aufklärungswille deckt sich mit dem der Forscher. Andere Interviewte aus dem Camp empfinden Erleichterung, ihre Geschichte endlich erzählen zu können – nicht nur die Opfergeschichte, sondern auch, wie sie sich widersetzen konnten und wer die Täter waren. Für viele Interviewte gibt es aber auch Gründe, zumindest teilweise weiter zu schweigen.

Heute Urlaubsort und Kulisse für Hochzeiten

Zu den Zumutungen der Colonia gehört es auch, dass die Grenze zwischen Tätern und Opfern manchmal nicht klar zu ziehen ist. Wer hat Widerstand geleistet, wer wann geschwiegen? Wer hat sich innerhalb des Terrorregimes ein paar Vorteile verschafft? Unbestritten ist auch auf der Täterseite jeder einmal Opfer gewesen, Opfer von Prügel, Folter, sexueller Gewalt, Gehirnwäsche, Unterdrückung.

Und dann schwebt noch die Frage der Hilfszahlungen über allem. Bis zu 10.000 Euro sind jedem und jeder Leidtragenden der Schäfer-Kolonie vom Bund zugesagt worden. Die Auszahlung ging aber schleppender voran, als viele sich erhofft hatten. Deshalb sind einige bei Interviewanfragen zurückhaltend. Mancher hat Angst, als Täter verbucht zu werden, wenn er alles erzählt, und will erst sprechen, wenn das Geld geflossen ist. So ist es oft schwierig, die privaten Lebenswelten, die Erinnerungen und Traumata zu erschließen. Und fraglich bleibt, ob die Grundsatzfrage dahinter jemals beantwortet wird: Wie können es zwei Staaten hinnehmen, dass ein solcher Unort besteht, über Jahrzehnte, über Regierungen hinweg? Bis heute gibt es die Colonia Dignidad, seit 1988 heißt sie ­Villa Baviera und dient – schwer vorstellbar – als ­Urlaubsort und Kulisse für Hochzeiten.

Trotzdem: Blick nach vorn

Bevor die Pandemie die Planungen umwarf, konnten gut 20 Interviews geführt werden, zwei Drittel stehen also noch aus. Doch wie kommt man überhaupt damit klar, dieses schwer erträgliche Material zu sichten? Philipp Kandler hilft die Wissenschaft dabei: Neues Material sichtet er zunächst nur kurz. Intensiv befasst er sich damit erst, wenn er die Transkription überprüft. Dann schützt ihn der analytische Zugriff vor der Wucht des Erzählten. Dennoch gibt es Momente, in denen ein Interview durch seine schiere Länge kaum mehr erträglich erscheint. "Das baut sich auf. Jemand erzählt wirklich lange davon, was ihm oder ihr widerfahren ist. Da wird es manchmal schwierig, sich das weiter anzuhören. Das ist dann bedrückend."

Sehr berührend sei es, wenn dieselbe Person aber später sage: Auch wenn die Colonia sie ihr Leben lang begleiten werde, sie schaue jetzt nach vorne. Oder wenn eine Person für eine juristische Aufarbeitung und für Entschädigung kämpfe, ohne ­dabei bitter geworden zu sein. "Wenn man das sieht, dann hat man das Gefühl: Da ist jemand nicht daran zerbrochen. Es ist auch möglich, das zu überwinden."

Klaus Ungerer ist freier Journalist und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Zum Oral-History-Projekt der FU Berlin: www.cdoh.net

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