Amnesty Journal Brasilien 11. Januar 2023

"Es geht um unser Leben"

Eine indigene Frau sitzt auf einem Motorboot, lächelt, macht mit ihrer linken Hand das "Victory"-Zeichen, hinter ihr sitzt ein Mann, der das Boot steuert, im Hintergrund der Fluss und Bäume am Ufer.

In Brasilien kandidierten 2022 so viele Indigene wie nie zuvor für den Nationalkongress und die Parlamente der Bundesstaaten. Einige von ihnen wurden auch gewählt.

Aus Cuiabá von Lisa Kuner und Laís Clemente

Eliane Xunakalo steht an einem kleinen Flusslauf im Pantanal, einem Feuchtgebiet im Südwesten Brasiliens. Hinter ihr liegen mehrere Stunden Fahrt mit einem Geländewagen und rund eine Stunde auf dem Boot. Obwohl die Sonne schon untergegangen ist, ist die Temperatur noch immer nicht unter 30 Grad gesunken.

"Wir brauchen Gesundheitsversorgung, gute Schulen und vor allem die Anerkennung unseres Landes", erklärt Xunakalo einer kleinen Versammlung von Indigenen der Bevölkerungsgruppe der Guató in der Gemeinde Aterradinho. In ihre langen, schwarzen Haare hat die 36-Jährige Federschmuck geklemmt, für Fotos zieht sie auch eine kleine, traditionelle Federkrone auf, eine sogenannte Cocar.

Mehr indigene Repräsentation nötig

Die Anwältin gehört zum Volk der Bakairi und engagiert sich schon lange für die Rechte von Indigenen. Im Jahr 2022 entschied sie, ihre politischen Aktivitäten auszuweiten und bei den Wahlen am 2. Oktober für das Parlament des Bundesstaates Mato Grosso zu kandidieren. "Wir brauchen mehr indigene Repräsentation in der Politik", sagt Xunakalo, die für die Arbeiterpartei (PT) antrat.

In den vergangen vier Jahren erlebten Brasiliens indigene Völker viele Rückschritte: Der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro hatte zu Beginn seiner Amtszeit im Jahr 2019 angekündigt, kein indigenes Land mehr auszuweisen. Dieser Ankündigung folgten auch Taten. Außerdem schwächte er die Indigenenschutzbehörde FUNAI und brachte Gesetze auf den Weg, die Bergbau und industrielle Landwirtschaft in indigenen Gebieten ermöglichten.

Am 30. Oktober verlor Bolsonaro von der Liberalen Partei (PL) die Stichwahl um das Präsidentenamt gegen seinen Heraus­forderer Luiz Inácio Lula da Silva von der PT. Für die Indigenen könnte der Amts­antritt von Lula da Silva im Januar 2023 Verbesserungen mit sich bringen. So hat er beispielsweise versprochen, ein Ministerium für Indigene zu schaffen.

In der Vergangenheit waren Indigene in politischen Ämtern unterrepräsentiert. In der Abgeordnetenkammer sitzt seit vier Jahren Joênia Wapichana – als erste indigene Frau und zweite indigene Person überhaupt. Sie wurde nun aber nicht wiedergewählt. Der erste und bis dahin einzige Indigene im Kongress war Mario Juruna, der von 1983 bis 1987 gewählter Abgeordneter war. Im Senat und unter den Gouverneuren gab und gibt es keine Indigenen.

Weit abgeschiedene Gebiete

Die bisher mangelnde Repräsentation lag unter anderem daran, dass die Hürden für politische Ämter hoch sind. Leonardo Barros Soares, Professor für Politikwissenschaft an der Bundesuniversität von Viçosa, beklagt die mangelnde Aufmerksamkeit für indigene Themen. Seiner Ansicht nach sorgt die gesellschaftliche Ungleichheit dafür, dass nicht alle Gruppen denselben Zugang zur Macht haben: "Eher elitäre Gruppen, die bereits Teil der institutionellen Politik sind, haben Zugang zu Ämtern und priorisieren politische Themen innerhalb ihres Interessenbereichs und ihrer politischen Erfahrungen", sagt er.

Ein weiterer Grund für die geringe Beteiligung der Indigenen an der institutionellen Politik ist laut Barros Soares, dass sich die indigene Minderheit über ein riesiges Territorium verteilt.

Das bekam auch Eliane Xunakalo in ihrem Wahlkampf im Bundesstaat Mato Grosso zu spüren, der rund zweieinhalbmal so groß ist wie Deutschland. Der ­Bundesstaat gilt als konservativ und als Hochburg der Agrarindustrie. Teilweise fährt man stundenlang nur an Soja­feldern vorbei.

An vielen dieser Orte war zuvor noch nie ein Politiker.

Eliane
Xunakalo
PT-Politikerin

Um möglichst viele der dort lebenden 43 indigenen Bevölkerungsgruppen anzusprechen, legte die PT-Politikerin Xunakalo im Wahlkampf mehr als 7.000 Kilometer zurück. Sie verbrachte Tage im Auto und schlief in Hängematten, weit weg von ihrem Ehemann und ihren Kindern. "Meine indigenen Verwandten zu besuchen, war mir sehr wichtig", erzählt sie. Sie habe deren Bedürfnisse und Probleme verstehen wollen.

"An vielen dieser Orte war zuvor noch nie ein Politiker", berichtet Xunakalo. Auch in Aterradinho ist sie die erste. Die indigenen Guató freuen sich über den Besuch, tragen Wünsche und Forderungen an die Kandidatin heran. Vor allem die Infrastruktur ist ein großes Thema, denn das indigene Schutzgebiet ist nur mit dem Boot zu erreichen. Außerdem haben viele Häuser keinen Strom, Internet gibt es nicht.

Die Abgeschiedenheit vieler indigenen Gemeinden erschwert nicht zuletzt deren politische Beteiligung. So baten Gemeinden im Pantanal Xunakalo um Benzin für ihre Boote, um am 2. Oktober zum Wahllokal fahren zu können.

Eine indigene Frau steht vor einem Haus mit Fenster, ihr schulterlanges Haar fällt auf ihre Schultern

Jahrhunderte der Misshandlung

Auch die historische Erfahrung einer permanenten Benachteiligung und Diskriminierung ist ein Hindernis für die formale Teilhabe am politischen Betrieb. "Wir reden von Völkern, die seit dem Jahr 1500 unter Völkermord gelitten haben und weiterhin leiden", sagt der Politikwissenschaftler Barros Soares. "Jedes Volk, das Völkermord, Zwangsassimilierung, Vergewaltigung und andere Misshandlungen erlebt hat, tut sich schwer damit, sich zu organisieren und politische Ämter zu übernehmen."

Wellthon Rafael Aguiar Leal, Aktivist für indigene Rechte, warnt davor, die mangelnde politische Repräsentanz mit mangelndem Interesse an der Politik zu verwechseln. "Die indigene Bewegung hat immer protestiert: egal wie die Regierung hieß. Denn die Agenda der indigenen Bewegung stellt die heutige Welt und die Logik des Kapitalismus ganz grundsätzlich infrage", sagt Leal. Neu sei nur, dass immer mehr Indigene bei Wahlen kandidierten. Er sieht darin eine Reaktion auf die zunehmenden Aggressionen, die sich gegen indigene Bevölkerungsgruppen und Territorien richten. Für viele Indigene sei Politik bisher ein Geschäft der Weißen gewesen. "Aber wenn die Weißen beginnen, indigenes Territorium zu übernehmen, dann ist klar: Wenn wir uns jetzt nicht einmischen, werden wir unser Territorium verlieren."

Der Leidensdruck wurde in den vergangenen Jahren immer stärker. Dementsprechend stieg die Zahl der indigenen Kandidat*innen bei den Wahlen im Okto­ber 2022 gegenüber den Wahlen im Jahr 2018 um 32 Prozent. Laut einer Studie des Instituts für sozioökonomische Studien (INESC) kamen sie hauptsächlich aus den Amazonasgebieten im Norden des Landes und bewarben sich zumeist – wie Xunakalo – um Mandate auf bundesstaatlicher Ebene. Mit Raquel Tremembé gab es aber auch eine indigene Kandidatin, die für das Amt der Vizepräsidentin antrat, allerdings ohne große Aussicht auf Erfolg.

Auf dem Rückweg von Aterradinho nach Cuiabá, der Hauptstadt von Mato Grosso ist Eliane Xunakalo die Erschöpfung anzumerken. Es ist Ende September, ein kräftezehrender Wahlkampf liegt hinter ihr. Als die Stadt näher rückt und die Internetverbindung stabiler wird, beginnt ihr Smartphone zu vibrieren. Die Politikerin muss Finanzierungsfragen klären, Posts in Online-Netzwerken abstimmen und die letzten Wahlkampftage planen. "Unsere personellen Ressourcen und unsere Finanzen sind immer knapp", erklärt sie, viele Aufgaben blieben deshalb an ihr hängen. Sie ist froh, dass sich ihr Mann in diesen Monaten um die Kinder kümmert.

Linke und rechte Indigene

Es fällt auf, dass die indigenen Kandidaturen ein deutlich besseres Geschlechtergleichgewicht aufwiesen als der Rest der brasilianischen Politik. "Es gab 82 Kandidaturen von Frauen und 90 Männer", stellt die Anthropologin Carmela Zigoni vom INESC fest. Der Anteil der Frauen lag damit deutlich sowohl über dem nationalen Durchschnitt als auch über dem Durchschnitt der Kandidat*innen, die in die Parlamente der Bundesstaaten gewählt werden wollten.

Bei den Wahlen am 2. Oktober schafften es zwar die allermeisten indigenen Kandidat*innen nicht in die Parlamente, doch waren einige wichtige Kandidaturen erfolgreich. In der brasilianischen Abgeordnetenkammer werden die traditionellen Gemeinschaften stärker vertreten sein als je zuvor: Insgesamt fünf Indigene wurden gewählt, darunter Célia Xakriabá aus dem Bundestaat Minas Gerais und Sônia Guajajara aus São Paulo. Beide ziehen für die Partei des Sozialismus und der Freiheit (PSOL) ins Parlament.Die Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens hat diese beiden Politikerinnen legitimiert, deshalb sprechen sie oft über die Gesamtinteressen der Indigenen im Land. Schon im Wahlkampf planten sie, eine "Bancada de Cocar" (Koalition der Federkronen) zu bilden. Diese könnte sich politisch für die Einrichtung indigener Schutzgebiete, das Ende von Abholzung und illegalem Bergbau sowie gegen industrielle Landwirtschaft einsetzen. "Für uns geht es nicht nur um den Schutz der Umwelt, es geht um unser Leben", sagt Célia Xakriabá.

Wir sind zwar nicht viele. Aber mit uns kommt die Stärke unserer Ahnen. Und so werden wir uns auch in die Politik einbringen.

Célia
Xakriabá
PSOL-Politikerin

Xakriabá ist die Freude über ihren Wahlerfolg anzusehen, allerdings spricht sie lieber über ernste Themen. "Die Menschen in Brasilien verstehen inzwischen die Dringlichkeit der Klimakrise", sagt sie. "Unsere Wahl ist aber auch eine Antwort auf die starke Einschränkung unserer Rechte unter der Regierung Bolsonaro". Xakriabá und Guajajara wissen, dass es nicht leicht wird, die Interessen von Indigenen durchzusetzen, dennoch sind sie optimistisch: "Wir sind zwar nicht viele", meint Xakriabá. "Aber mit uns kommt die Stärke unserer Ahnen. Und so werden wir uns auch in die Politik einbringen."

Es gab auch eine kleine Zahl indigener Kandidat*innen, die für rechte Parteien angetreten sind. "Das kam erst bei dieser Wahl auf", sagt die Anthropologin Zigoni. "Die Rechten haben erkannt, dass sie sich in diesem Bereich bewegen müssen." Konservative indigene Kandidat*innen betonen den indigenen Anspruch auf Autonomie im eigenen Territorium. Dies kann auch bedeuten, dass man sich dort mit der Agrarindustrie und dem Bergbau verständigt. Die vielleicht wichtigste Vertreterin der rechtsgerichteten indigenen Bewegung ist die neugewählte Abgeordnete Silvia Nobre Waiãpi von der PL. Sie war die erste indigene Frau, die in der brasilianischen Armee diente, und tritt den Anliegen der Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens entgegen. "Man hat in ihre Kandidatur investiert, um diesen Kontrapunkt im Parlament zu setzen", sagt Zigoni. "Man wird sehen, wie sie abstimmt und welche Auswirkungen das auf die Territorien haben wird."

Eliane Xunakalo hat trotz ihres engagierten Wahlkampfs den Einzug in das Parlament von Mato Grosso verpasst. Entmutigen lässt sie sich durch diesen Rückschlag aber nicht. Sie will weiter für die Indigenen in Mato Grosso und Brasilien kämpfen, "besonders für Frauen und für Nachhaltigkeit". Das sind keine leeren Worte. Im November reiste sie wie auch andere indigene Politiker*innen zur Weltklimakonferenz nach Ägypten. Dass Brasiliens Präsident ab Januar nicht mehr Bolsonaro heißt, gibt ihr Hoffnung, dass sich etwas ändern kann.

Lisa Kuner und Laís Clemente sind freie Journalistinnen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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