Amnesty Journal Brasilien 11. April 2022

Bolsonaro gegen die "Terra Indígena"

Ein brasilianischer indigener Aktivist steht in einem Wald, trägt T-Shirt und auf dem Kopf einen Federschmuck, er blickt nach oben.

Kämpft für die Rechte Indigener: Júnior Hekurari.

In Brasilien setzt die Regierung des rechtsextremen Präsidenten Indigene zunehmend unter Druck. Gesetzesvorhaben, Landkonflikte und gewaltsame Angriffe bedrohen ihre Rechte.

Aus dem Schutzgebiet Canauanim von Lisa Kuner (Text) und Nara Nasco (Fotos)

Große gelbgrüne Maracujas, die rötlichen Früchte des Caju-Baums, verschiedene Sorten von Maniok – das alles liegt ausgebreitet auf einem Tisch im Dorfzentrum von Campinho. Clovis Edoinho Xaviér, ein kleiner Mann mit rundem Gesicht, öffnet eine lange, braune Frucht, die weißes Fruchtfleisch enthält. "Das ist eine Ingá", sagt er. Xaviér ist Ortsversteher der kleinen Gemeinde, in der 84 indigene Familien leben, gut 300 Personen.

Campinho liegt im indigenen Schutzgebiet Canauanim in Brasiliens nörd­lichs­tem Bundesstaat Roraima. Verlässt man das Dorf, befindet man sich direkt im Regenwald an einem sogenannten Igarapé. Das ist ein Fluss mit hoher Artenvielfalt, die wichtig ist für das Ökosystem des Amazonasgebiets. "Die Umwelt zu schützen heißt, unser Leben zu schützen. Die Erde ist unsere Mutter", sagt der Ortsvorsteher. Libellen schwirren über den Fluss, alles wirkt sehr friedlich. Auf den ersten Blick wirkt Campinho fast wie ein unberührtes Paradies. Aber dieser Frieden ist in Gefahr – Abholzung, Landkonflikte und politische Initiativen bedrohen die Indigenen und ihr Land.

Illegale Landnahme und rohe Gewalt

Rund 13,8 Prozent der Fläche Brasiliens sind "Terra Indígena", indigenes Land, das als Schutzgebiet deklariert ist. Der Abbau von Bodenschätzen ist dort verboten, bei Infrastrukturprojekten müssen die Indigenen konsultiert werden. Die Schutzgebiete stehen jedoch seit jeher unter Druck. Zum einen, weil es dort Bodenschätze gibt wie Gold, Diamanten oder Bauxit, zum anderen, weil viele darin ungenutztes Land sehen, das man besser für Landwirtschaft nutzen sollte. Soja-Monokulturen oder Rinder­farmen könnten dort wirtschaftliches Wachstum generieren, so die Argumen­tation. Illegale Landnahme, juristische Streitigkeiten, aber auch rohe Gewalt ­prägen seit Jahrzehnten die Auseinandersetzungen um indigenes Land.

Seit 2018 hat sich die Lage jedoch deutlich zugespitzt: "Die aktuelle Regierung und der Präsident sind verrückt. Er zerstört die Umwelt, ohne Rücksicht auf Verluste. Das macht Angst", sagt Xaviér. "Uns Indigene behandelt er wie Hunde."

Die Folgen dieser Politik sind überdeutlich, gewaltsame Übergriffe nehmen stark zu: Nach Angaben des Indigenen Missionarsrats, der zur brasilianischen Bischofskonferenz gehört, lag die Zahl der Fälle "illegalen Eindringens" in indigene Gebiete im Jahr 2020 um 137 Prozent höher als im Vorjahr. Immer öfter werden Indigene bei diesen Konflikten getötet – allein im Jahr 2020 gab es 182 Todesopfer.

Ein Grund dafür ist die aggressive Rhetorik von Präsident Jair Bolsonaro. Schon im Wahlkampf hatte er angekündigt, "keinen Millimeter" indigenes Land zusätzlich ausweisen zu lassen. Seitdem wiederholt er unermüdlich, es gebe in Brasilien "zu viel Land für wenige Indigene", schließlich machten sie nur ein halbes Prozent der Bevölkerung aus. Seit Bolsonaros Amtsantritt wurden tatsächlich keine weiteren indigenen Schutzgebiete ausgewiesen. Doch für viele Indigene ist ihr Land die einzige Lebensgrundlage.

Armut, geringe Bildungschance, kaum Zugang zu Medizin

In Brasilien gibt es rund 900.000 Indigene, die mehr als 300 Bevölkerungsgruppen angehören. Die brasilianische Verfassung schützt ihre traditionelle Lebensweise, zumindest theoretisch. Nach dem Ende der Militärdiktatur hatte es in den 1990er und 2000er Jahren Fortschritte gegeben, was die Wahrung indigener Rechte betraf. Dennoch leben Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich oft in Armut, haben niedrigere Bildungschancen und oft kaum Zugang zu medizinischer Versorgung. Dies wurde während der Corona-Pandemie besonders deutlich. Zwischen März 2020 und Januar 2022 starben mindestens 1.251 Indigene an oder mit dem Virus, darunter auch mehrere Führungspersönlichkeiten. Die Zweifach-Impfquote der indigenen Bevölkerung lag im Dezember 2021 mit lediglich 44 Prozent weit unter dem nationalen Durchschnitt.

Ein indigener Brasilianer sitzt vor seinem Haus aus Holz, er trägt eine Baseballkappe und ein Polo-Hemd, hinter ihm ist eine Rasenfläche, Palmblätter hängen von oben herab.

Bleibt auch unter Druck zuversichtlich: Clovis Edoinho Xaviér.

Die Regierung bringt uns um.

Júnior
Hekurari
Aktivist

"Die Regierung bringt uns um", sagt Júnior Hekurari. Der Präsident des Rats für Indigene Gesundheit der Yanomami und Yekwana sitzt in einem einfachen Büro in Boa Vista, der Hauptstadt des Bundesstaats Roraima. Hinter ihm hängen Pfeile, Köcher und eine rot-orangene Federkrone. Er hustet immer wieder, seine Stimme klingt leise, er wirkt erschöpft, und seine Augen sind leicht gerötet.

"Das ist kein Corona", versucht er zu beruhigen. "Ich kuriere nur noch eine Malariainfektion aus." Das Gespräch wollte er nicht verschieben, denn es ist ihm wichtig, gehört zu werden. Hekurari ist Angehöriger der Yanomami, einer indigenen Gruppe, die unter der aktuellen Politik ganz besonders zu leiden hat.

Ihr Land, die "Terra Yanomami", ist das größte indigene Schutzgebiet Brasiliens. Es ist doppelt so groß wie die Schweiz und umfasst Amazonasgebiete in den brasilianischen Bundesstaaten Roraima und Amazonas. Es gibt dort noch besonders viel intakten Regenwald, eine große Biodiversität, aber auch sehr viele Bodenschätze, insbesondere Gold. Das wird den Yanomami immer mehr zum Verhängnis.

Minen oder nachhaltige Landwirtschaft

Der Traum vom plötzlichen Reichtum hat in den vergangenen Jahren mehr als 20.000 illegale Goldsucher_innen in das Land der Yanomami gelockt. "Es gab viele Angriffe, auch Tote", erzählt Júnior Hekurari. "Ich und meine Kollegen werden bedroht." Um an das Gold zu gelangen, werden nicht nur Wälder zerstört, sondern auch hochgiftige Chemikalien wie Quecksilber eingesetzt, die das Wasser verseuchen. Zudem entstehen durch die oft improvisierten Goldminen viele stehende Gewässer, die Brutstätten für Moskitos sind. 2021 gab es deshalb viele Malariaausbrüche in der Region. Die Goldgräber_innen stehen auch im Verdacht, das Corona-Virus in entlegene Gebiete zu tragen. "Wir erhalten überhaupt keine öffentliche Unterstützung", sagt Hekurari. "Sie lassen unsere Kinder sterben." Die Situation werde immer schlimmer.

Eine indigene Aktivistin steht vor einem Holzhaus und gestikuliert beim Reden mit ihren Händen; sie trägt ein schulterfreies Kleid, ihre langen schwarzen Haare fallen über ihren Rücken.

Wirbt unter Indigenen für nachhaltige Landwirtschaft: Raielly Ribeiro.

Es gibt kaum politischen Willen, etwas an der Situation zu ändern. Der illegale Bergbau wird nur selten strafrechtlich verfolgt. Im Gegenteil: "Die Regierung ermutigt die Goldgräber_innen sogar dazu, in unser Land zu kommen". Immer wieder lassen sich auch Indigene vom Gold-rausch verführen und schließen sich den Goldgräber_innen an.

Für die Indigenen in Campinho ist es darum wichtig, Alternativen zu entwickeln, die ihnen ein Einkommen sichern. "Wir versuchen, ein Projekt für nachhaltige Fischzucht aufzubauen", erklärt Raielly Ribeiro, die 19-jährige Jugendkoordinatorin des Dorfs. Auch der Verkauf von Obst und Gemüse aus biologischer Landwirtschaft zählt zu den Alternativen. Es wächst in kleinen Beeten in Gärten und Hinterhöfen, während der Großteil der landwirtschaftlichen Produkte in Brasilien aus großen Plantagen stammt. "Uns ist es wichtig, unser Land zu bewahren", sagt Ribeiro.

Satellitenaufnahmen beweisen, in welchem Maß die Indigenen Natur und Artenvielfalt schützen: In den Schutzgebieten ist der Regenwald intakter – die indigenen Gebiete bilden eine Art Schutzschild gegen die Abholzung.

Die Frage des Stichtags

Doch außer Gewalt, illegalem Ressourcenabbau und Umweltzerstörung droht den Indigenen in Brasilien eine weitere Gefahr: Ein Gesetzesvorhaben, das ihr in der Verfassung festgeschriebenes Recht auf ihr angestammtes Land beschneiden würde. Dabei geht es um die sogenannte Stichtagsthese, erklärt der Rechtsanwalt Ivo Aureliano Cípio, der für den indigenen Rat in Roraima arbeitet. Demnach sollen indigene Gemeinschaften nur noch Anspruch auf Gebiete haben, in denen sie nachweislich vor der Verkündung der Verfassung im Oktober 1988 gelebt haben. Viele sind jedoch nicht in der Lage, entsprechende Nachweise zu erbringen.

Aus Sicht vieler Expert_innen würde die Stichtagsregelung der Geschichte der Indigenen in Brasilien nicht gerecht. Seit der Kolonialzeit und insbesondere während der Militärdiktatur wurden sie unter Druck gesetzt, vertrieben und getötet. Das Recht indigener Gemeinschaften auf ihr Land an einen Stichtag zu koppeln, sei deshalb unzulässig, argumentieren die Kritiker_innen.

Das Oberste Gericht prüft derzeit, ob die Stichtagsregelung rechtens ist. "Sollte das Gericht das Gesetzesvorhaben billigen, wäre dies eine Tragödie für die indigenen Völker", sagt Cípio. Vermutlich würden dann keine weiteren Schutzgebiete mehr ausgewiesen und bestehende könnten juristisch angefochten werden.

Auch für die kleine Gemeinde Campinho hätte dies Konsequenzen. Sie liegt zwar in einem bereits anerkannten Schutzgebiet, doch versucht sie schon lange, mehr Land zu erhalten. Das wäre dann unmöglich. Ein juristischer Prozess wäre auf jeden Fall riskant. "Wir können keinen Beweis vorlegen, dass wir schon vor 1988 hier waren", sagt Ortsvorsteher Clovis Edoinho Xaviér besorgt.

Ein weiteres umstrittenes Gesetzesvorhaben, das PL 490, soll in den indigenen Gebieten Bergbau, Abholzung und Agrobusiness erlauben, wenn dies in "nationalem Interesse" ist. "Damit soll unser Mitspracherecht über das Land beschnitten werden", erklärt Rechtsanwalt Cípio. Auch der Schutz sogenannter "isolierter Völker" würde aufgeweicht: Der bislang verbotene Kontakt zu ihnen würde erlaubt, um nationale Interessen durchzusetzen  (siehe Isolierte Völker). Für Cípio ist die Wurzel allen Übels klar: "Unser größtes Problem ist die brasilianische Regierung". Bevor die nicht abgewählt sei, gebe es wenig Hoffnung auf Besserung.

Die indigenen Gemeinschaften nehmen die Bedrohungen und Angriffe jedoch nicht kampflos hin, im ganzen Land regt sich inzwischen Widerstand. So fuhren im August 2021 Tausende in die Hauptstadt Brasilia, um gegen die Stichtagsregelung zu demonstrieren. Auch die Jugendkoordinatorin Raielly Ribeiro organisiert Proteste: "Wir kämpfen für unsere Kultur, für eine Zukunft der jungen Indigenen", sagt sie.

Ortsvorsteher Clovis Edoino Xaviér ist stolz auf die jungen Menschen in seinem Dorf und zuversichtlich, dass die Aktionen Erfolg haben: "Wir werden nicht zulassen, dass sie uns das Land wegnehmen. Wir werden nicht aufgeben, wir kämpfen weiter, bis zum letzten Indigenen."

Lisa Kuner ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Isolierte Völker

Unter isolierten Völkern versteht man Gruppen von Indigenen, die ohne Kontakt zur Außenwelt leben. Kontakt mit anderen Menschen kann für sie tödlich enden, da sie keinerlei Resistenz gegen Krankheiten wie Grippe oder Masern haben. In Brasilien sind 24 dieser bisher nicht kontaktierten Völker staatlich anerkannt, es wird vermutet, dass es noch mindestens 44 weitere gibt. Sie zu kontaktieren, ist gesetzlich verboten.

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