Amnesty Journal Bosnien und Herzegowina 20. Oktober 2020

Auf sich allein gestellt

Ein mittelalter Mann mit hoher Stirn und Fünf-Tage-Bart trägt ein weißes, weit aufgeknöpftes Leinenhemd und blickt in die Kamera; im Hintergrund befinden sich jüngere Männer, ein weißes Zeltdach und Bergkuppen.

"Die Europäer sehen tatenlos zu" – Der Fotograf Dirk Planert setzt sich ein für Geflüchtete auf der Balkanroute.

Vor 25 Jahren war Dirk Planert während des Bosnienkrieges als humanitärer Helfer in Bihać. Heute setzt er sich für Geflüchtete ein, die dort auf der Balkanroute stranden.

Von Sead Husić

Dirk Planerts Stimme ist erregt, als er am Telefon erzählt, was er im Flüchtlingslager Vučjak in Bosnien-Herzegowina erlebt hat. "Vučjak ist eine Mülldeponie, sie haben die Menschen dort einfach weggeschmissen", sagt der 52-Jährige. Planert hat eine enge Beziehung zu der Region rund um Bihać, im äußersten Westen des Landes an der Grenze zu Kroatien.

Er war dort während des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995 als humanitärer Helfer und erlebte, wie im Sommer 1993 die bosnisch-serbische Armee unter Führung des mittlerweile als Kriegsverbrecher verurteilten Generals Ratko Mladić die Stadt belagerte. Jeden Tag fielen Bomben. Nahrung und Medizin waren knapp. "Man wusste nie, ob man den nächsten Tag übersteht", erinnert sich Planert. Damals machte er bei jeder Gelegenheit Fotos und dokumentierte in mehr als 800 Aufnahmen akribisch das Leid und Grauen des Krieges. Das ist mehr als 25 Jahre her.

Doch die Erinnerungen an die Kriegszeit lassen ihn nicht los. Zeitweise leidet er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Weil er die Kriegsfotos, die jahrelang in seinem Keller in Dortmund lagerten, dem Archiv von Bihać schenken wollte, fuhr Planert im Februar 2019 noch einmal in die Stadt. Er porträtierte die Menschen erneut, die er 1993 fotografiert hatte. Es sei eine Art Therapie gewesen, sagt er. "Ich wollte die alten Bilder im Kopf durch neue ersetzen." Die Bosnier erinnerten sich an den mutigen Deutschen, der ihnen im Krieg beigestanden hatte, und die Stadtgalerie von Bihać organisierte eine Fotoausstellung mit dem Titel "Damals und heute".

Der einst Gefeierte fällt in Ungnade

Planert stellte fest, dass Bihać mittlerweile zum Hotspot auf der Balkanroute geworden war. Tausende Menschen versuchten, durch die Wälder nach Kroatien in die EU zu gelangen. Meist jedoch wurden sie von kroatischen Polizisten aufgehalten, verprügelt und gegen geltendes Recht nach Bosnien zurückgeschickt. Die bosnischen Behörden waren überfordert und brachten mehr als 1.000 Flüchtende auf die ehemalige Mülldeponie Vučjak. "Es war unerträglich dort. Ich blieb spontan länger, telefonierte nach Deutschland, um Geld für Nahrung, Kleidung und Medizin zu bekommen. Und ich versorgte die Wunden der malträtierten Menschen", erzählt Planert.

Doch viele Menschen in Bihać lehnten die Flüchtlinge ab, und der einst gefeierte Deutsche fiel in Ungnade, weil er sich für sie einsetzte. Zu denjenigen, die Antiflüchtlingsdemonstrationen organisierten, zählte auch Zlatan Kovačević. Er war noch ein Kind, als ihm zu Kriegsbeginn 1992 eine Granate ein Bein abriss, erinnert sich Planert: "Ich kenne seinen Vater, den ich im Krieg fotografiert habe. Ich sagte ihm, er solle mit mir kommen und sich die Menschen ansehen, die er ablehnt."

Als Kovačević die durchgefrorenen Frauen und Kinder und die verprügelten Männer sah, schloss er sich Planert an. Heute leitet er die Hilfsorganisation SOS Bihać.

Mittlerweile haben die bosnischen Behörden das Lager Vučjak aufgelöst – nicht zuletzt dank des Einsatzes von Planert und Kovačević. Aber die Situation verschärft sich derzeit wieder. Die kroatische Grenzpolizei erhöht den Druck von der einen Seite, die bosnische Polizei und die Bevölkerung reagieren ebenfalls aggressiver. "Und die Europäer sehen tatenlos zu", sagt Planert. "Das erinnert mich an den Krieg, denn auch damals war Bihać ganz auf sich allein gestellt."

Sead Husić ist freier Journalist und Fotograf. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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