Amnesty Journal Afghanistan 31. Juli 2023

"Für Wahida"

Ein afghanisches Mädchen steht barfuß auf dem Teppichboden in einem Zimmer, hat ein Kopftuch halb über den Kopf gezogen und blickt aus dem Fenster.

Mariam überlebte den Anschlag auf die Schule nur knapp (Kabul, Frühjahr 2023).

Seit die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen haben, leben die Bewohner*innen des Kabuler Stadtteils Dasht-e Barchi in Angst. 2022 wurde das Viertel, in dem vor allem Angehörige der schiitischen Minderheit der Hazara wohnen, Schauplatz eines Terrorangriffs.

Aus Kabul von Julian Busch (Text und Fotos)

Zwischen Sterben und Über­leben liegen manchmal nur wenige Meter. Mariam wollte nicht an der wöchentlichen Übungsklausur teilnehmen. Sie fühlte sich an jenem Morgen Ende September 2022 zu schlecht vorbereitet. Seit Monaten hatte sie in einem privaten Institut für die Aufnahmeprüfung der ­Kabuler Universität gelernt. Doch ihre Freundin Wahida, die bereits in der Klausur saß, drängte sie am Telefon: "Los komm, wir schaffen das gemeinsam."

Wenige Meter, bevor Mariam das Institutsgebäude erreichte, hörte sie plötzlich Schüsse. Einen, einen zweiten. Dann einen lauten Knall. Eine Explosion zerriss das Dach des Gebäudes. Kurz danach: Rauch und Schreie. Mariam überlebte, doch für ihre Freundin Wahida kam jede Hilfe zu spät.

Angriffe auf Zivilpersonen steigen

Nun sitzt die 21-Jährige in einem kleinen Lehmhaus am Rande von Kabul und versucht sich zu erinnern. Die schmächtige junge Frau mit dunklen Haaren und heller Stimme dreht immer wieder die Teetasse, die vor ihr auf dem Boden steht, so als könnte sie die Bilder, die seitdem in ihrem Kopf spuken, auch auf dem Boden der Tasse sehen.

Am 30. September 2022 sprengte sich im Kaaj Educational Center ein Selbstmordattentäter in die Luft. 54 Menschen starben, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Die meisten waren junge Frauen wie Wahida und Mariam.

Seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 ist die Zahl der Angriffe auf Zivilpersonen dramatisch gestiegen. Laut einem Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte starben zwischen Sommer 2021 und Herbst 2022 bei 22 Angriffen mindestens 334 Menschen. Die genaue Zahl dürfte deutlich höher liegen. Die meisten Anschläge richteten sich, wie auch im Kaaj Educational Center, gegen schiitische Minderheiten wie die der Hazara.

Mit einem Bevölkerungsanteil von etwa zehn Prozent sind sie nach den Paschtun*innen und Tadschik*innen die drittgrößte Ethnie im Land und bilden als Schiit*innen gleichzeitig die größte religiöse Minderheit.

Die Geschichte der Gewalt gegen diese Minderheit ist lang. Als die Hazara sich Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Unterdrückung und Tyrannei des dama­ligen Emirs Abdur Rahman Khan, einem sunnitischen Paschtunen, auflehnten, erklärte dieser die Minderheit zum Feind, den es zu vernichten gelte. Es folgte ein Völkermord. Fast zwei Drittel der Hazara in Afghanistan wurden damals getötet oder vertrieben. Gewalt und Diskriminierung setzten sich Ende des 20. Jahrhunderts fort: Als die Taliban Ende der 1990er Jahre erstmals an die Macht kamen, verübten sie zahlreiche Massaker an der Minderheit.

"Gestorben auf dem Weg des Wissens"

Nach der Machtübernahme der Taliban 2021 schrieben prominente Hazara-Vertreter*innen – darunter namhafte ­afghanische Wissenschaftler*innen und Politiker*innen – einen offenen Brief an UN-Generalsekretär António Guterres und forderten ihn auf, eine Untersuchung des gezielten Terrors gegen die Minderheit einzuleiten. Auch Menschen­rechtsorganisationen wie Amnesty International ­befürchten weitere Verbrechen und sprechen von einem Muster gezielter Tötungen.

Auch Mariam ist eine Hazara. Mit ihrer Familie lebt sie in Dascht-e Barchi, einem Stadtteil von Kabul, der mehrheitlich von der schiitischen Minderheit bewohnt wird. Zwischen den eng stehenden Häusern ziehen sich Straßen aus Sand und Matsch. Männer, die auf Schubkarren Waren transportieren, schlagen sich durch den Verkehr von Autos und Kleinbussen. Das Viertel ist in den vergangenen Jahren immer wieder Schauplatz brutaler Angriffe geworden.

Auf ihrem Telefon schiebt Mariam die Bilder ihrer toten Freundin Wahida von rechts nach links. Ein junges Mädchen, das lächelnd und etwas trotzig vor einem Schrein in Kabul in die Kamera schaut. Mit einem Schulbuch in der Hand. Auf ­einer Karte, die ihre Familie nach ihrem Tod an Freunde und Verwandte schickte, steht: "Gestorben auf dem Weg des Wissens."

Ein Imam in einer Moschee in Kabul, der Mann trägt ein traditionelles Gewand und eine entsprechende Kopfbedeckung, der Raum ist mit Teppich ausgelegt, rechts eine Fensterreihe.

Auch sein Vorgänger wurde ermordet: Imam Mohamed Hassam, Kabul Frühjahr 2023

"Wir hatten den gemeinsamen Traum, den Menschen in unserem Land zu helfen", erzählt Mariam. Wahida habe Medizin studieren und später ein eigenes Krankenhaus leiten wollen. "Sie als Ärztin und ich als Politikerin – wir wären ein gutes Team gewesen", sagt Mariam und lächelt.

Für die Aufnahmeprüfung der Universität lernten die beiden  Freundinnen mehr als ein Jahr lang täglich in dem privaten Institut. Sie ließen sich auch nicht einschüchtern, als die Taliban ihre Rechte begrenzten, immer neue Bekleidungsvorschriften einführten und jungen Frauen verboten, Grünanlagen, Schwimmbäder und Fitnessstudios zu besuchen. "Was soll aus einem Land werden, wenn es keine Ärztinnen und Politikerinnen mehr gibt?", habe Wahida stets gesagt und weitergelernt.

Jeden Freitag schrieben die Schü­ler*in­nen des Kaaj Educational Center eine Übungsklausur in Fächern wie Natur- und Geisteswissenschaften, Persisch oder Englisch. An manchen Tagen kamen bis zu 400 Schüler*innen zusammen. Eine Wand aus Sperrholz trennte die jungen Männer und Frauen voneinander. An jenem Freitag befanden sich knapp 250 Schüler*innen in den Räumen. Als sich der Attentäter, den Augenzeug*innen als gut gekleideten jungen Mann beschreiben, gegen 7 Uhr 30 in die Luft sprengte, waren sie gerade dabei, Rechenaufgaben zu lösen.

"Wäre ich an diesem Morgen recht­zeitig aufgebrochen, dann hätte es mich wohl auch getroffen", sagt Mariam. Nach der Explosion bahnte sie sich panisch einen Weg in das Gebäude. Sie wollte helfen, die Verletzten zu versorgen. "Zwischen den Tischen und Stühlen lagen überall Körper", erzählt sie.

ISIS-K unter Verdacht

In einer Ecke des Raums habe sie schließlich die sterbende Wahida gefunden, deren Körper von der Explosion zerrissen war. "Ich musste meine Augen schließen", sagt Mariam. Noch am selben Tag wurde Wahida von ihrer Familie gewaschen und auf einem naheliegenden Friedhof beerdigt.

Bis heute hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt, doch passt er zum Vorgehen der islamistischen Terrorgruppe ISIS-K, einem Ableger des Islamischen Staats (IS). Die Gruppe gründete sich 2015 in Afghanistan und sieht sich – trotz ideologischer Nähe – als radikale Alternative zu den Taliban. Während die Taliban ihre Macht auf Afghanistan begrenzen, erheben die Terroristen des ISIS-K Ansprüche über das Land hinaus.

Human Rights Watch schätzt, dass in Afghanistan seit 2015 bei Angriffen dieser bewaffneten Gruppe mehr als 1.500 Zivilist*innen getötet und mehr als 3.500 verletzt wurden. Die islamistischen Terroristen betrachten Schiit*innen und andere Minderheiten als Ungläubige, die es zu bekämpfen gilt.

Die Taliban versuchen, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Nach ihrer Machtübernahme im Sommer 2021 hatten sie bei einer Großoffensive Hunderte ISIS-K-Kämpfer getötet oder verhaftet. Und in Städten wie Kabul kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu großräumigen Razzien und Hausdurchsuchungen.

Gleichzeitig spielen die Taliban die Stärke der Terrorgruppe herunter. In einem Statement bezeichnete Regierungssprecher Zabihullah Mujahid Berichte über ISIS-K als "westliche Propaganda". Denn für die Taliban sind die öffentlichkeitswirksamen Anschläge ein Desaster, untergraben sie doch deren Aussage, die Sicherheit im Land zu garantieren.

"Die Taliban messen uns Hazara keinen Wert zu", sagt Mariam. Nach dem ­Anschlag hätten sie das Gebäude umstellt und niemanden durchgelassen, auch nicht die Rettungswagen. "Ich habe sie angeschrien, die Helfer durchzulassen", sagt sie. Doch die Polizei der Taliban habe nur verhindern wollen, dass jemand filme oder fotografiere.

Terror auch gegen eine Moschee

Wenige Straßen von Mariams Haus entfernt, füllt sich die Imam-Zamam-Moschee zum Mittagsgebet. An der Eingangspforte gehen die Besucher durch eine Sicherheitsschleuse, ein Mann in schwarzer Uniform tastet skeptisch die Kleidung und Taschen der Besucher ab. In mehreren Reihen beten Männer in ­langen Gewändern.

"Natürlich sind nicht nur die Hazara in Afghanistan von Gewalt und Terror bedroht", sagt Imam Mohamed Hassam, ein kleiner Mann mit freundlichem Gesicht, gekleidet in einen langen braunen Umhang, der ihm bis zu den Knöcheln reicht. Nach dem Mittagsgebet nimmt er auf dem Boden des riesigen Gebetsraums Platz.

Doch die Gewalt, die sich gegen die Minderheit richte, sei in seinen Augen systematisch. "Wir sind Schiiten in einem mehrheitlich sunnitischen Land", sagt er. Die Taliban würden die Hazara zwar dulden, doch in den Augen vieler Menschen seien sie eben keine echten Muslime. "Wir haben kein Problem damit, wenn unsere Frauen zur Schule oder arbeiten gehen."

Auch seine Moschee hat schon Terror erfahren. Vor fünf Jahren sprengte sich während eines Freitagsgebets ein Suizid­attentäter in die Luft. 39 Menschen starben, darunter auch Hassams Vorgänger. Der ISIS-K übernahm die Verantwortung. Auf einer Tafel neben dem Eingang sind die Namen und Porträts der Toten eingraviert. "Das kann uns jederzeit wieder passieren", sagt Hassam.

Die Taliban hätten zwar nach der Machtübernahme mehr Schutz für ­schiitische Moscheen und andere Einrichtungen versprochen. Tatsächlich sei die Sicherheitslage jedoch nicht besser geworden – im Gegenteil: Das Sicherheitspersonal vor Moscheen und Bildungseinrichtungen im Stadtviertel sei reduziert worden. Zudem müsse jetzt die Moschee das Gehalt der Wachleute bezahlen.

Die Moschee ist eine der größeren in der Nachbarschaft, täglich kommen zahlreiche Menschen zum Gebet, an Freitagen bis zu 400. Hassam will deshalb die Sicherheitsvorkehrungen nun selbst verbessern.

An der Universität La Trobe in Melbourne forscht Niamatullah Ibrahimi seit Jahren zur Geschichte der Hazara in Afghanistan. Die Befürchtung vieler Menschen, dass sich mit der Rückkehr der Taliban auch die Gräueltaten vergangener Jahre wiederholten, habe sich zum Glück bisher nicht bewahrheitet, sagt Ibrahimi.

Dennoch könne man von einer zunehmenden Isolation der Hazara unter der Herrschaft der Taliban sprechen. Lehrpläne von Schulen und Universitäten seien von schiitischen Inhalten bereinigt und die Minderheit daran gehindert worden, ihre Religion auszuüben. Während des ­Ramadan ordneten die Taliban an, dass auch die Schiit*innen sich nach dem sunnitischen Glaubenskalender richten und das sunnitische Zuckerfest feiern müss­ten, sagt Ibrahimi.

Diese Beispiele sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines umfassenderen Musters. Sie veranschaulichen die Gewalt und Grausamkeit, mit der die Taliban gezielt gegen ethnische Minderheiten wie die Hazara vorgehen und, dass diese unter der Herrschaft der Taliban besonders gefährdet sind.

Theresa Bergmann
Bergmann
Asien-Expertin von Amnesty in Deutschland

Nach Angaben von Amnesty International kommt es allerdings auch immer wieder zu gezielten Verfolgungen und ­Tötungen durch die Taliban. So wurden beispielsweise im Juli 2021 in der Provinz Ghazni neun Hazara-Männer von Taliban-Kämpfern getötet. Im August 2021 richteten die Taliban in der Provinz Day­kundi 13 Angehörige der Hazara hin – elf Sicherheitskräfte der ehemaligen Regierung und zwei Zivilpersonen. "Diese Beispiele sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines umfassenderen Musters. Sie veranschaulichen die Gewalt und Grausamkeit, mit der die Taliban gezielt gegen ethnische Minderheiten wie die Hazara vorgehen und, dass diese unter der Herrschaft der Taliban besonders gefährdet sind", sagt Theresa Bergmann, Asien-Expertin von Amnesty in Deutschland.

"Ich werde jetzt für Wahida Medizin studieren"

Der Wissenschaftler Ibrhahimi betont, dass sowohl ISIS-K als auch Teile der Taliban die Hazara aufgrund ihrer oft eher ­liberalen Religionsausübung und ihrer hohen Bildungsstandards als Feinde und "Synonym für die westliche Kultur" ansehen. "Bis heute ist das historische Ausmaß des Terrors gegen die Hazara nicht wirklich erfasst", sagt er.

Auch Mariam glaubt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis wieder etwas passiere. "Jede Woche, jeden Tag warte ich darauf", sagt sie. Für viele Menschen in ihrem Viertel sei die Angst mittlerweile zur Normalität geworden. Als im April des vergangenen Jahres zwei Bomben am Eingang der Abdul-Rashid-Schule für Jungen explodierten und Dutzende Schüler töteten, überlebte ihr jüngerer Bruder nur knapp.

Sie will trotzdem weitermachen. "Ich werde jetzt für Wahida Medizin studieren", sagt sie. Das sei sie ihrer Freundin schuldig. Einen Monat nach dem Anschlag sei sie mit den überlebenden jungen Frauen in das Institut zurückgekehrt und habe begonnen, das Klassenzimmer wieder aufzubauen.

Im Dezember 2022 verboten die Taliban Frauen das Studium. Doch ­Mariam will die Hoffnung nicht auf­geben. Sie werde einfach zu Hause ­weiterlernen. Sie wolle bereit sein für die Prüfungen, sollten die Taliban es ­eines Tages wieder erlauben. "Für ­Wahida", sagt sie.

Julian Busch ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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